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Donnerstag, 15.11.2018

Historiker Wolfgang Benz zu den Pogromen von 1938 und der Situation in Deutschland heute

"Wie leicht man die Volksseele zum Kochen bringen kann"

Von Leticia Witte (KNA)


Bonn Am 9. November 1938, vor 80 Jahren, entlud sich bei den Novemberpogromen in Deutschland Gewalt gegen Juden, Synagogen und Geschäfte. Der Historiker und Extremismusforscher Wolfgang Benz erklärt im Interview die Bedeutung dieser Ereignisse und deren Folgen, was Hetze gegen Minderheiten heute anrichten kann und wie es um das Lernen aus der Geschichte bestellt ist.

Witte: Herr Benz, welche Bedeutung hatten 1938 die Geschehnisse vom 9. November?

Benz: Der 9. November, für den sich damals der Ausdruck Reichskristallnacht rasch einbürgerte, war eine Wende: von der Diskriminierung der Juden in Deutschland zur Verfolgung. Man kann sagen, dass der Holocaust am 9. November 1938 begann. Ab da wurde Gewalt öffentlich und staatlich sanktioniert gegen Juden angewendet.

Witte: Was war die Folge?

Benz: Unmittelbar folgte die vollkommene Vertreibung der Juden aus dem deutschen Wirtschaftsleben. Bis zum Ende des Jahres 1938 mussten - Stichwort "Arisierung" - alle Juden weit unter dem realen Wert ihre Geschäfte und Unternehmungen verkaufen. Daran bereicherten sich schamlos Nichtjuden. Es wurde den Juden eine Sondersteuer in Höhe von einer Milliarde Reichsmark auferlegt. Jüdisches Leben war damit am Ende, Juden verschwanden aus dem öffentlichen Bild.

Witte: Wenn wir in die Gegenwart blicken: Welche Rolle spielt das Gedenken an die Novemberpogrome?

Benz: Das Gedenken ist ganz selbstverständlich und muss auch einen offiziellen Ausdruck finden. Beim Erinnern macht man sich klar, was geschehen ist. 1938 hat der Staat eine Pogromhetze gegen eine Minderheit inszeniert und durchführen lassen. Menschen haben sich durch staatliche Propaganda verführen lassen, gegen Mitbürger, gegen Nachbarn und Geschäftsfreunde vorzugehen.

Witte: Wie hat man damals darüber geredet?

Benz: Es war eine fromme Lüge, wenn Leute sagten: Das waren nicht wir, die die Synagoge zerstört haben; die Nazis haben von anderen Orten Fremde kommen lassen, die die Leute nicht kannten. Das stimmt nicht. Es gibt eine schier unendliche Zahl von Beweisen: Es waren Nachbarn, es waren Geschäftsfreunde, die wie die Barbaren hausten, die auf alte Frauen und Männer einschlugen, die "Judensau" schrien. Auch an kleinen Orten, nicht nur in der anonymen Stadt. Jeder wusste ganz genau, was vorging.

Witte: In Chemnitz wurde unlängst und zum wiederholten Male ein jüdisches Restaurant angegriffen. Der Präsident des Zentralrats der Juden, Josef Schuster, sprach von einer zunehmenden Verunsicherung in jüdischen Gemeinschaften und sagte: "Wir sitzen nicht auf den sprichwörtlichen gepackten Koffern, schauen aber zum Teil nach, wo unsere Koffer stehen". Was bedeutet das alles für das jüdische Leben heute in Deutschland?

Benz: Juden fühlen sich natürlich nach Vorfällen wie in Chemnitz bedroht. Und sie sind nun keineswegs von der Mehrheit darauf zu verpflichten, dass sie vergessen müssen, was vor 80 Jahren geschehen ist. Es ist ein selbstverständliches Recht jüdischer Bürger, vorsichtig und aufmerksam zu sein und Parallelen zu ziehen.

Witte: Hegen Sie denn Befürchtungen?

Benz: Wenn wir an die Hetzjagd gegen Asylsuchende in Chemnitz denken oder an Vorfälle gegenüber der bei vielen unerwünschten Minderheit der Muslime muss es uns nachdenklich machen, wie leicht man die Volksseele zum Kochen bringen kann. Wie gefährlich das ist. Wie leichtfertig handeln Leute, die als Islamkritiker auftreten oder etwas gegen Flüchtlinge haben und die sich stimulieren lassen beziehungsweise andere stimulieren, ihren Hass gegen Fremde auszuleben.

Witte: Jetzt sprechen Sie über Muslime.

Benz: Wir sind zu Recht aufgeregt, wenn einem Juden etwas geschieht. Aber wir sind nicht genug aufgeregt, wenn Hunderttausende Muslime beleidigt werden. Was damals Juden angetan wurde, ist unverzeihlich. Wir müssen verhindern, dass sich in Deutschland eine, egal welche Minderheit unsicher fühlt; dass sich der rabiate und unendlich leicht zu stimulierende Hass gegen Andere, weil sie Roma, Juden oder Muslime sind, Bahn bricht.

Witte: Der Hass lässt sich zum Beispiel besonders leicht entfachen, wenn schwere Straftaten von muslimischen Einwanderern bekannt werden.

Benz: Naja, man liest auch von schweren Straftaten, die katholische Priester begangen haben. Aber man verdammt deshalb nicht jeden Katholiken in Grund und Boden. Ein Straftäter ist ein Straftäter, unabhängig von seiner Herkunft oder Religion und muss dafür zur Rechenschaft gezogen werden. Deshalb dürfen aber nicht alle, die sozusagen die gleiche Jackenfarbe tragen, automatisch als Straftäter behandelt werden.

Witte: Warum brechen sich denn aus Ihrer Sicht so viele Vorbehalte gegen Muslime Bahn?

Benz: Sie sind jetzt die Minderheit, vor der man Angst hat. Und es gibt viel zu viele Interessenten, die damit von anderen Problemen ablenken wollen und pauschal Muslime verdammen. Die Minderheit barbarischer Islamisten ist unseres Abscheus sicher. Aber deswegen muss man nicht eine Frau, die ein Kopftuch trägt, mit Verachtung behandeln. Aber genau das geschieht derzeit.

Witte: Und wenn wir wieder auf jüdisches Leben hierzulande blicken?

Benz: Ich halte es für ein gutes Zeichen, wenn wir so betroffen sind über einen einzelnen Vorfall wie den Angriff auf das Restaurant in Chemnitz. Das bedeutet doch, dass die große Mehrheit der Juden in Deutschland der Anteilnahme an ihrem Schicksal sicher sein kann. Es lässt uns nicht unbewegt, wenn ein einzelner Jude, ein einzelnes jüdisches Geschäft angegriffen wird. Die politische und mediale Aufregung bedeutet ja, dass wir Partei ergreifen für diese Minderheit. Und diese Minderheit ist hier anerkannt und wird geschützt, wir lassen uns das nicht nehmen. Wir müssen nun aber auch bei den Muslimen auf diese Stufe der Erkenntnis kommen.