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Freitag, 20.05.2016
„Islam gehört nicht zu Deutschland“
Eine Replik auf das Parteiprogramm der AFD
Die Erfolge der AFD bei den letzten Wahlen haben gezeigt, dass die Aussage des ehemaligen Bundespräsidenten Wulff „Der Islam gehört zu Deutschland“ von einigen wahlberechtigten Bürgern nicht geteilt wird, denn die AFD schreibt in ihrem Grundsatzprogramm exakt das Gegenteil. Wieso finden Parteien wie die AFD zur Zeit so viele Anhänger und wieso können Muslime und der Islam so erfolgreich als „Gefahrenherd“ für die deutsche Gesellschaft gezeichnet werden?
Gerne wird von den Vertretern jener Sichtweise darauf verwiesen, dass Deutschland ein Rechtsstaat sei, der auf der Basis von Majoritätsvotum entstandener Gesetze basiere. Der Islam beanspruche jedoch, die Scharia nicht nur zur Lebensrichtschnur für den einzelnen Muslimen, sondern auch zur alleinigen Gültigkeit im staatlichen Kollektiv zu erheben. Wer den Islam in Deutschland zu etablieren suche, verlange demnach, dass die nichtmuslimische Mehrheitsbevölkerung sich als „göttlich sanktioniert“ gerechtfertigten Regelungen unterzuordnen habe, die sie nicht durch Wahlen oder Referenden herbeigeführt hätte. Auf diese Weise werde das Majoritätsprinzip als Grundsäule der Demokratie ausgehöhlt.
Wer derart argumentiert, kennt das Wesen der Scharia nicht. In der Tat bezieht sich die Scharia für Muslime auch auf gemeinschaftliches Agieren. Welches konkrete Verhalten im Einzelfall daraus abzuleiten ist, muss jedoch auf der Basis der islamischen Quellen und der rationalen kontextbezogenen Urteilskraft stets neu herausgefunden werden. Die Tatsache, dass verschiedene Staaten, die sich explizit auf die Scharia berufen, voneinander abweichende gesetzliche Regelungen besitzen, belegt, im Rahmen der Scharia besteht die menschliche, vernunftgeleitete und kontextbezogene Gesetzgebung fort. Diese kontextbezogene Neuauslegung erlaubt es den Muslimen in Deutschland auch, das deutsche Grundgesetz mit der Scharia und ihrem Glauben als konform zu interpretieren.
Eine wie immer definierte „christlich-jüdisch-humanistische Grundlage“ der deutschen Kultur wird ein Muslime keineswegs auszulöschen suchen, wohl aber dieser deutschen Kultur eine „islamische Komponente“ hinzufügen. Letztere entsteht im Übrigen nicht durch ein „aufoktroyiertes islamisches Gesetz“, sondern durch das Urteilen und Handeln von in Deutschland lebenden Individuen nach islamischen Wertmaßstäben, die mit der deutschen Gesellschaftsordnung kompatibel sind und aus denen sich ebenso wie aus jüdischer und christlicher Ethik Humanismus und Pluralismus ableiten lassen. Vor dem Hintergrund, dass Muslime in Deutschland zwar eine Minorität, mit ca. fünf Millionen jedoch bereits seit Jahren eine nicht zu vernachlässigende Einwohnerzahl bilden, sind die Resultate dieser muslimischen Urteilskraft im deutschen Alltag vielerorts spürbar.
Die Erfolge der AFD sind dort am größten, wo die muslimische Einwohnerzahl mit am geringsten ist. Dies kann als Anzeichen gewertet werden, dass auch ein Großteil der Nichtmuslime die für sie sichtbare muslimische Urteilskraft ihren Freiheitsansprüchen nicht als entgegenstehend betrachtet. Während die AFD bei den jüngsten Landtagswahlen in Sachsen-Anhalt, wo die Muslime in der aktuellen Konfessionstatistik Statista 2016 wegen eines vernachlässigbaren Anteils überhaupt nicht gesondert aufgeführt sind, mit 23,1% der Stimmen fast ein Viertel der wahlberechtigten Bürger für sich gewinnen konnten, blieb ihre Zustimmung am gleichen Tag in Rheinland-Pfalz mit 12,6%, wo sie demnach 4% der Bevölkerung darstellen, und in Baden-Württemberg mit 15,1%, wo sie demnach 6% darstellen, deutlich geringer. Vielmehr erkennt die Mehrheit der Bürger auch den Islam als Teil ihrer Gesellschaft an.
Scharia-Richter, sofern diese tatsächlich einst eingefordert werden sollten und sich am Verlangen nach regelmäßiger ijtihad orientieren, würden im Deutschland wohl kaum in einer Weise urteilen, die mit dem modernen Rechtsstaatsverständnis inkompatibel ist. Schließlich identifizieren sich die Muslime in Deutschland in gleichem Maße mit dem deutschen Rechts- und Wertesystem wie ihre jüdischen und christlichen Mitbürger.
Indem den Muslimen und ihrer Religion die Zugehörigkeit zur deutschen Gesellschaft abgestritten wird, ihnen vielmehr eine demokratischen Wertmaßstäben entgegenstehende Aktivität unterstellt wird, erzeugt man hingegen geradezu die als Bedrohungsszenario konstruierten Parallelgesellschaften. Abschottung kann nämlich auf zweierlei Weise erfolgen, zum einen durch eine Minorität, die sich mit den Werten der gesellschaftlichen Majorität nicht identifiziert, ebenso jedoch durch die staatlichen Autoritäten, sofern diese der Minorität ihre Existenzberechtigung und Eigenansprüche versagen, und darüber hinaus Sonderregelungen auferlegen, die ihre individuelle Freiheit einschränken.
In einer pluralistischen Gesellschaft mag auch Kritik an Verhaltensweisen, die religiös gerechtfertigt werden, seine Berechtigung besitzen. Aufklärung bedeutet jedoch nicht, aufgrund einzelner, möglicherweise für unzeitgemäß gehaltener, gelegentlich religiös begründeter Praktiken eine gesamte Religion unter Generalverdacht zu stellen, als „undemokratisch“ zu verfehmen oder elementare Inhalte dieser Religion zum Gegenstand von Hohn und Spott heranzuziehen. Zudem ist es irrig zu glauben, wer einer Religion generell kritisch gegenüber stehe, sei in der Lage, diese Religion in eine zeitgemäßere Praktizierungsweise bringen zu können. Was zeitgemäße Praktizierung im Konkreten beinhaltet, kann nur derjenige beurteilen, der sich zu der betreffenden Religion als solcher uneingeschränkt bekennt.
In einer Religion, besonders im Falle des Islam, aber auch im Falle des Christentums ist eine genetische Abstammung nicht entscheidendes Kriterium, ebsowenig eine Beschäftigung mit ihren Quellen als Islamwissenschaftler, sondern allein das Bekenntnis zu den Glaubensinhalten und Grundregeln. Vor diesem Hintergrund ist ein Islamwissenschaftler, anders als ein Islamtheologe, für seine wissenschaftliche Analyse, die durchaus auf historisch-kritischer Methodik beruhen kann, auch nicht auf ein normatives Bekenntnis angewiesen. Er muss nicht einmal Muslime sein. Eine religiöse Autorität, die in der Lage ist, gesellschaftliche Veränderungen in der religiösen Alltagspraxis der Muslime angemessen zur Geltung zu bringen, kann er auf diese Weise jedoch nicht erwarten.
Die Tatsache, dass es seit Beginn der islamischen Zeitrechnung auch innerhalb der islamischen Gelehrten- versus Theologenszene permanent eine Diskussion um die zeitgemäße Auslegung der islamischen Quellen gegeben hat und bereits seit einigen Jahren in der Bundesrepublik Deutschland mehrere Institute für Islamische Theologie bestehen, verleitet zu der berechtigten Hoffnung, dass auch eine Auslegungsform gefunden wird, die eine mit den Prinzipien des deutschen Grundgesetzes vereinbare Praktizierungsweise erlaubt. Die religiöse Alltagspraxis von Millionen Muslimen in Deutschland, die im Einklang mit den Werten des deutschen Grundgesetzes steht, ist vielmehr der Beleg dafür, dass diese demokratiekonforme Praktizierungsweise bereits die Regel darstellt.
Hierzu verlangt es keineswegs die Scharia aufzugeben, denn eine ordnungsgemäße Islampraktizierung ist nur innerhalb des Rahmens der Scharia möglich. Eine Anzweifelung des Korans als geoffenbartes und zeitlos gültiges Wort Gottes wie auch der prophetischen Überlieferung (Sunna) als bindend und primäre Rechtquellen ist dazu ebenso wenig konstitutiv. Die Scharia beruht allerdings auch auf zwei weiteren, sogenannten sekundären Rechtsquellen, dem Konsens der Gelehrten in einer auf den konkreten Fall bezogenen, in Koran und Sunna nicht beschriebenen Angelegenheit (Idschma) und dem Analogieschluss von einem beschriebenen Sachverhalt aus (Qiyas). Die Ergebnisse aus Idschma und Qiyas basieren unbestrittenermaßen auf menschlicher Erkenntnis. Mit einer Erweiterung dieser Erkenntnis angesichts gesellschaftlicher Veränderungen lassen sich deshalb mittels ijtihad permanent neue Konsense und Analogieschlüsse finden.
Wenn die Politik ein Interesse daran besitzt, dass sich das Schariaverständnis in Deutschland zeitgemäß weiterentwickelt, ist sie gehalten, anstatt den Muslimen vorzuschreiben, wie ihre Religion grundgesetztreu zu interpretieren ist und wer dazu berechtigt ist, die islamtheologische Wissenschaft und Imamausbildung in Deutschland angemessen zu fördern. Ebenso gilt es, den bestehenden Islamverbänden als organisierte Repräsentanten der Muslime in diesem Land, in gleichem Maße wie den Kirchen im Falle des Christentums als Körperschaften die Autorität zuzugestehen, sowohl personell als auch inhaltlich eine Infrastruktur aufzubauen, die einen zeitgemäßen islamischen Gelehrtendiskurs in Deutschland, der in der muslimischen Community Akzeptanz findet, zulässt. In dem Maße wie den organisierten Muslimen in Deutschland die rechtlichen, strukturellen und finanziellen Bedingungen geboten werden, aus eigener Kraft ihre Aktivitäten durchzuführen, sind sie auf möglicherweise politisch zweifelhafte Unterstützung aus dem Ausland nicht mehr angewiesen.
Der basisdemokratische Anspruch, den die AFD auf politischer Ebene für sich gelten lässt, darf den Muslimen bezogen auf ihre Religionsauslegung nicht vorenthalten werden. Nur die existente, in über das gesamte Land verteilten Moscheen, islamischen Vereinen und Verbänden organisierte muslimische Basis in Deutschland ist in der Lage, die angemessene und zeitgemäße Praktizierungsform ihrer Religion zu erkennen bzw. die geeigneten Autoritäten zu finden, die ihr diese Erkenntnis vermitteln.
Die Tatsache, dass etablierte Parteien, christliche Kirchen, jüdische Gemeinden und zahlreiche andere zivilgesellschaftliche Akteure bereits seit Jahren erfolgreich im Sinne demokratisch-humanistischer Werte mit muslimischen Gemeinden und Verbänden zusammenarbeiten, belegt, dass weite Teile der nichtmuslimischen deutschen Zivilgesellschaft die Aktivität des praktizierten Islam zu schätzen wissen. Wer diese bestehende, der Mehrheitsgesellschaft durchaus dienliche, aus dem islamischen Gemeinschaftsideal heraus entstandene Aktivität leugnet, zeichnet ein Zerrbild von unserer Republik.
Die Muslime sehen sich und ihre Religion selbst allerdings nur in dem Maße zu Deutschland gehörig, wie die Autoritäten dieses Landes bereit sind, sie als Teil ihrer Gesellschaft zu akzeptieren und ihnen den entsprechenden religiösen Entfaltungsspielraum zu bieten. Wenn die AFD für sich beansprucht, Repräsentantin des zivilgesellschaftlich aktiven Bürgertums darzustellen, sollte sie nicht weiterhin die Augen vor jenen Millionen von der Aktivität des organisierten Islam in Deutschland profitierenden Bürgern – Muslime wie Nichtmuslime – verschließen. Anstatt besonders jenen Bundesbürgern, die bislang kaum mit Muslimen in Berührung gekommen sind und demzufolge deren wertegebundene Aktivität innerhalb Deutschlands noch nicht erfahren konnten, ihr durchaus verständliches Unbehagen vor dem für sie „Fremden“ zu vergrößern, gilt es, sie zu ermuntern, auf die Muslime zuzugehen und mit ihnen Wege zu suchen, die Muslime wie Nichtmuslime gleichermaßen betreffenden Probleme unserer Gesellschaft gemeinsam zu bewältigen.
Mohammed Khallouk ist Politologe und Islamwissenschaftler.
Sein letztes Werk "Islamischer Fundamentalismus vor den Toren Europas - Marokko zwischen Rückfall ins Mittelalter und westlicher Modernität" ist 2016 bei Springer VS erschienen.