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Freitag, 12.02.2016

Ismael und die Wiederherstellung des Abrahamssegen - Von Muhammad Sameer Murtaza

Die dominierende Kultur seit Anbeginn der Menschheitsgeschichte war eine Kultur der Gewalt, so der muslimische Gelehrte und Friedenslehrer Maulana Wahiduddin Khan. Die anfängliche universale Geschichtserzählung in der Genesis schildert die Genese dieser Kultur, beginnend mit dem ersten Mord bis zu dem Völkergemetzel zu Noahs Zeiten. Unsere Gewalttätigkeit ist damit ein Grundproblem des Menschen, das droht zum Selbstläufer zu werden und die Menschheit in ihr Verderben zu stürzen.

Zugleich wird diese Spirale der Gewalt durch die Entsendung von Propheten und durch das Auftreten von religiösen Friedensstiftern und Vermittlern immer wieder durchbrochen. Die allegorische Erzählung Adams proklamiert den Gedanken von der unverletzlichen und unteilbaren Würde eines jeden Menschen. Der noachidische Bund ist ein Toleranzkonzept für den friedvollen Umgang des Judentums mit anderen monotheistischen Religionen, denen der eine und einzige Gott gleichermaßen Urgrund, Urhalt, Urziel und Urhoffnung ist. Bestärkt wird das Achtungs- und Toleranzgebot zwischen den monotheistischen Religionen durch den Abrahamssegen, der das Heil allen Menschen verkündet, denen Abraham der Vater des Glaubens ist. Das Evangelium knüpft in Römer 4,13-25 an den Abrahamssegen an und die katholischen Christen haben in der Moderne in der Erklärung Nostra Aetate des Zweiten Vaticanums 1965 sich wahrhaftig bemüht, diesem Segen zu entsprechen. Und auch der Qurʾān (dt.Die Lesung) knüpft in Sure 2, Vers 62, Sure 5, Vers 69 und Sure 29, Vers 46 an den Abrahamssegen an, um ihn schließlich in Sure 22, Vers 17 zu überschreiten, indem das Heilsversprechen auf alle Monotheisten ausgedehnt wird. Die abrahamischen Religionen werden somit als Teil der monotheistischen Weltbewegung verstanden. In der Moderne haben eine Vielzahl von muslimischen Gelehrten und Philosophen hieran erinnert.

Und doch wurde die Menschheit wiederholt Zeuge davon, wie sich die Gläubigen aller Religionen in den Dienst der Kultur der Gewalt gestellt und den Namen Gottes mit Blut besudelt haben. Die Folge hiervon erleben wir heute drastisch: eine zunehmende Skepsis und Ablehnung gegenüber Religion, die nicht unberechtigt ist. Der Baptistenpastor und Bürgerrechtler Martin Luther King (gest. 1968) schrieb einmal über die künftige Aufgabe der Christen–und ich denke, es wäre im Sinne Kings gewesen, wenn wir dies als die Aufgabe aller Gläubigen verstehen:

„Es mag Zeiten gegeben haben, da der Krieg als ein negatives Gutes diente, indem er die Ausbreitung und das Wachstum einer bösen Macht verhinderte, aber die äußerste zerstörende Gewalt moderner Waffen schließt an sich schon die Möglichkeit aus, dass der Krieg heute noch als negatives Gutes dienen könnte. Wenn wir also voraussetzen, dass das Leben lebenswert ist, wenn wir voraussetzen, dass die Menschheit ein Recht darauf hat zu überleben, dann müssen wir eine Alternative zum Kriegfinden (...). (...) Kein Einzelner kann allein leben; kein Land kann allein leben, und je länger wir esversuchen, desto mehr werden wir in dieser Welt Krieg haben. Jetzt ist das Gericht Gottes über uns, und wir müssen entweder lernen, als Brüder miteinander zu leben, oder wir werden alle zusammen als Narren zugrunde gehen.“

Wir leben in der Mitternacht. Die Menschheit hat sich in der Dunkelheit der Kultur der Gewalt verirrt. Das Friedenspotential der Religionen hat seine Leuchtkraft verloren.
Das entlässt aber verantwortungsbewusste Gläubige nicht aus der Pflicht, sich weiterhin für Frieden auf Erden einzusetzen. Nicht gestattet ist es zu resignieren, wenn Gewalttäter jüdischen, christlichen oder muslimischen Glaubens ihr unmenschliches Handeln mit Religion rechtfertigen wollen. Nicht gestattet ist es zu resignieren, wenn die Religionskritik die Religionen im Ganzen trifft. Sondern es gilt 1) zu erinnern, an das Gewaltpotential im Menschen, an die Friedensbotschaft und Toleranzkonzepte der abrahamischen Religionen und an ihre wiederholte Pervertierung in der Geschichte aller Religionsgemeinschaften durch sie selber. 2) Zu lehren, wie der Mensch seinem Gewaltpotential durch Achtsamkeit Herr werden kann, wie die Toleranzkonzepte der Religionen in die Gegenwart übertragen werden können, und dass das unumstößlich Gebot gilt "Du sollst nicht töten", denn das menschliche Leben ist zu einzigartig, als das es auf einem der Schlachtfelder dieser Welt genommen werden darf. 3) Zu wirken, nämlich dass die Gläubigen inmitten dieser Mitternacht wieder das Licht des Friedens entzünden und Räume des Friedens schaffen, wo Juden, Christen und Muslime miteinander leben (d. h. miteinander essen, miteinander arbeiten, miteinander feiern, miteinander nachdenken über ihren gemeinsamen geistigen Reichtum), sich gegenseitig lehren, den anderen so zu verstehen, wie er sich selber sieht, und miteinander für eine bessere Welt arbeiten.
Im Arabischen haben das Wort Mensch (insān) und das Wort Vergessen (nisyān) den gleichen Ursprung. Sowohl Juden, als auch Christen, als auch Muslime werden nicht das Toleranzpotential, das im Abrahamssegen angelegt ist, aktivieren können, solange ihnen der Sohn Abrahams, Ismael ein Vergessener ist.
(Muhammad Sameer Murtaza M.A.)


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