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Dienstag, 18.08.2015
Das Jahrhundert-Problem - Von Heribert Prantl
Flüchtlingszahlen sind auch Folge dessen, was der Raubtierkapitalismus und die gewachsene Bereitschaft der Geostrategen, Interessenkonflikte mit Gewalt zu lösen, angerichtet haben
Das Flüchtlingsproblem ist nicht nur ein Problem des Sommers 2015; es ist das Problem des 21. Jahrhunderts. Es ist ein Problem, das viel größere Anstrengungen erfordern wird als die Stabilisierung des Euro und die Sanierung des griechischen Haushalts. Es geht hier nicht um das Schicksal von Banken, nicht um das Überleben des Euro; es geht um das Überleben von Millionen Menschen.
Man wird das 21. Jahrhundert einmal daran messen, wie es mit den Flüchtlingen umgegangen ist. Man wird es daran messen, was es getan hat, um die Staaten im Chaos wieder zu entchaotisieren. Man wird es daran messen, welche Anstrengungen unternommen wurden, um entheimateten Menschen ihre Heimat wiederzugeben. Das ist eine gigantische Aufgabe, die von Politik und Wirtschaft ein radikales Umdenken verlangt.
Die Flüchtlingszahlen, die Deutschland im Sommer 2015 beunruhigen, sind auch Folge dessen, was der Raubtierkapitalismus und die gewachsene Bereitschaft der Geostrategen, Interessenkonflikte mit Gewalt zu lösen, angerichtet haben. Flucht hat Ursachen - aber die Bekämpfung der Fluchtursachen ist zu einer Floskel geworden, mit der man eigentlich nur sagen will: Da kann man nichts machen, "die" sollen doch bleiben, wo sie sind.
Aber es werden die Syrer nicht in Syrien bleiben, solange dort der Tod regiert; es werden die Eritreer nicht in Eritrea bleiben, solange die Staatsgewalt dort die nackte Gewalt ist; und es werden die Menschen nicht in Serbien, in Kosovo und in Albanien bleiben, solange sie dort für sich und ihre Familie keinerlei Perspektiven sehen. Gewiss: Die Ursachen dafür, warum Menschen ihre Heimat verlassen, sind höchst verschieden. Gewiss: Die Situation für die Menschen in Syrien ist viel bitterer als für die auf dem Balkan. Gewiss: Perspektivlosigkeit ist kein Asylgrund. Aber die Verschiedenartigkeit der Probleme ist kein Grund, sie nicht auf verschiedene Weise anzupacken.
Das 21. Jahrhundert wird einmal daran gemessen werden, wie es mit den Flüchtlingen umgegangen ist
Im Übrigen versteckt sich hinter der Chiffre "Flüchtlinge aus den Balkanstaaten", für die in Bayern zentrale Aufnahmelager errichtet und Schnellverfahren etabliert werden sollen, ein Problem, das mit Aufnahmelagern und Schnellverfahren nicht zu lösen ist: Die Roma haben kein Zuhause - nicht auf dem Balkan, nicht in Deutschland, nicht in Frankreich. Sie sind überall ungern gelitten. Es ist nötig, Europa für die Roma zum Zuhause werden zu lassen. Aber dazu hört man weder von Horst Seehofer etwas noch von der EU-Kommission. Die aktuelle Debatte raunt, man würde gern Roma loswerden und dafür Syrer aufnehmen.
Aber: Menschen sind keine Bauklötzchen, die man schnell austauschen kann. Und: Es geht einem Menschen, dem es schlecht geht, nicht schon deswegen besser, weil es einem anderen Menschen noch schlechter geht. Sinti und Roma dürfen in der neuen Flüchtlingsdebatte nicht unter die Räder kommen. Die Sorge um die Zukunft von Sinti und Roma muss Deutschland, auch aus historischer Verantwortung, in die EU tragen. Es handelt sich um ein Armuts- und Klassenproblem, das durch rassistische Zuweisungen verdrängt wird. Es gilt, einem Volk eine Zukunft zu geben.
Flüchtlingspolitik besagt: Es gibt ungeheuer viel zu tun. Aber es wird so wenig davon angepackt. Die Fantasien der Politik erschöpfen sich in Abwehr- und Abschreckungsmaßnahmen. Es handelt sich um die Wiederkehr des immer Gleichen, der Rezepte also, die man aus den Neunzigerjahren kennt: Flüchtlingen in Deutschland soll das Taschengeld gekürzt werden - das zum Beispiel dafür da ist, dass sie telefonieren und öffentliche Verkehrsmittel benutzen können.
Flüchtlinge sollen auch kein Geld mehr erhalten, um sich Nahrung und Kleidung selber kaufen zu können; stattdessen sollen sie Sachleistungen kriegen. Das alles ist in den vergangenen dreißig Jahren schon versucht und dann vom Verfassungsgericht verworfen oder als unwirtschaftlich und unwürdig wieder eingestellt worden. Angesichts hoher Flüchtlingszahlen scheinen diese Erfahrungen für immer mehr Politiker keine Lehre mehr zu sein.
Grundrechte sind nicht aus Seife; sie werden nicht durch ihren Gebrauch abgenutzt. Die Würde des Menschen steht nicht unter dem Vorbehalt, "es sei denn, es sind zu viele Menschen". Und die Probleme, die es in Fluchtländern gibt, verschwinden nicht dadurch, dass man diese Länder zu "sicheren Herkunftsländern" definiert; Probleme lassen sich nicht wegdefinieren. Man könnte die ganze Welt für sicher erklären, mit Ausnahme von ein paar wenigen Staaten, die dann auf einer Positivliste stehen; an den Fluchtgründen würde sich nichts ändern.
Asylverfahren lassen sich beschleunigen - das ist bitter notwendig. Beschleunigen muss sich auch ein neues Denken.