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Freitag, 26.06.2015

Das Prinzip des Völkerrechts basiert auf einer Fiktion - Mohammed Khallouk rezensiert Michaels Wolffsohns neustes Buch

Bereits seit Immanuel Kants bedeutendem Werk „Zum ewigen Frieden“ versuchen Philosophen, Gesellschaftswissenschaftler und Politiker Konzepte zu entwerfen, die Menschheit weltweit vom Übel des Krieges zu befreien. Zwei Weltkriege allein im Zwanzigsten Jahrhundert und unzählige zwischen- und innerstaatliche Konflikte auf allen Kontinenten in den Jahrzehnten danach zeigen an, dass der Globus von diesem Ziel weiter entfernt ist denn je. Der deutsch-israelische Historiker und Politologe Michael Wolffsohn hat sich deshalb erneut an eine Analyse dieses global existierenden Unfriedens gewagt und in seinem neuesten Werk „Zum Weltfrieden“ ein politisches Konzept entworfen, das zwar keine Garantie für den globalen Frieden darzustellen für sich beansprucht, jedoch verspricht, die Motivationen für gegenwärtige und künftige Gewaltkonflikte weltweit deutlich zu verringern. Bei seiner Diagnose stellt Wolffsohn fest, dass die Zeit der klassischen imperialen Eroberungskriege heutzutage zwar weitgehend vorbei ist, die Welt jedoch insgesamt kaum friedlicher ist als vor einhundert Jahren. Die gewalttätigen Auseinandersetzungen haben sich stattdessen im Wesentlichen innerhalb die Grenzen der Nationalstaaten hinein verschoben. Gerechtfertigt werden diese Konflikte –regional-kultureller Spezifika zum Trotz – fast überall vom gleichen Ideal, jenem der Volkssouveränität im Sinne Rousseaus, mit dem sich jener Nationalstaatsgedanke seit der Französischen Revolution von Europa aus auf den gesamten Globus ausbreitete. Besondere intellektuelle Nahrung erhalten diese Konflikte zudem durch das 1918 vom damaligen US-Präsidenten Woodrow Wilson entworfene Konzept des „Selbstbestimmungsrechts der Völker“, der geistigen Grundlage des damals entstandenen Völkerbundes und den seit 1948 folgenden, am gleichen Prinzip ausgerichteten Vereinten Nationen. Wolffsohn zufolge sind Nationalstaatsgedanke, Selbstbestimmungsrecht der Völker und ein darauf aufbauendes Völkerrecht keine prinzipiell inhumanen Leitideale, die dahinter stehende Prämisse von einem Nationalstaat, der auf einer einzigen Nation mit einheitlicher kultureller, religiöser und ethnischer Identität gründe, sei jedoch weitgehend Fiktion und bei den existierenden Nationalstaaten in den seltensten Fällen gegeben. Ebenso basiere die hierauf aufbauende Grundannahme eines Regimes von unveränderlichen Grenzen, der das Völkerrecht bis in die Gegenwart folgt, auf Wunschdenken. Vielmehr habe gerade die nach dem Ersten Weltkrieg in den Pariser Vorortverträgen zementierte Nachkriegsordnung in Ost- und Südosteuropa, mehr noch die weiterhin auf den willkürlich gezogenen Grenzen zwischen den Imperialmächten gründende Entkolonialisierung in Afrika und Asien mit neu konstruierten Nationalstaaten, die weder ethnische noch kulturell-religiöse Basis besessen hätten, den Anstoß für gewalttätige innerstaatliche Auseinandersetzungen, Staatenzerfall und letztlich sogenannte „Failed States“ gegeben. Jene gescheiterten Staaten ließen sich auch nicht mit „humanitären Interventionen von außen“ wieder zusammensetzen, wenn am Grundgerüst einer zentralistisch gesteuerten Verwaltungseinheit festgehalten werde. Mit Irak, Afghanistan, Mali, Syrien, Libyen, Jemen oder Somalia kann Wolffsohn an unzähligen aktuellen Beispielen aufzeigen, wo das Selbstbestimmungsrecht der Völker, verbunden mit der westlichen Selbstverpflichtung zu einer „humanen internationalen Ordnung“ zwar den Sturz eines Diktators herbeigeführt hätten, sich dort aber weder Demokratie noch politische Stabilität noch innerer Frieden herstellen ließ. Die Ursache postuliert er darin, dass am Konzept des zentralistischen Nationalstaates festgehalten werde.

Selbstbestimmung dient gleichermaßen als Allheilmittel gegen Separatismus und Imperialismus


Dabei könnte, wie Wolffsohn betont, gerade Europa auf Beispiele seiner jüngeren Geschichte verweisen, wo mittels Regionalisierung und Föderalisierung politisch motivierte Gewalt deutlich verringert werden konnte. Hielt Spanien nach dem Ende der Franko-Diktatur zunächst am zentralistischen Prinzip fest, sah es sich alsbald mit Bombenanschlägen der baskisch separatistischen ETA konfrontiert. Eine Dezentralisierung der Verwaltungsstrukturen, einhergehend mit mehr politischer Eigenständigkeit für die baskischen Provinzen hätten dem Terror jedoch mehr und mehr den Wind aus den Segeln genommen. Die Gewalt in Nordirland habe ebenfalls mit mehr Eigenständigkeit für die nach wie vor zum Vereinigten Königreich gehörende Provinz, einhergehend mit gleichberechtigter Teilhabe von Katholiken und Protestanten an der politischen Entwicklung nahezu beseitigt werden können. Regionalisierung und Föderalisierung sind für Wolffsohn auch Allheilmittel gegen die Gewalthaftigkeit im Weltmaßstab. Wenn heutzutage Wladimir Putin das Begehren nach Autonomie oder das Selbstbestimmungsrecht der Völker als Rechtfertigung für die Anstachelung separatistischer Bewegungen auf der Krimhalbinsel oder in der Ostukraine vorgebe, könne er sich des Beifalls bei den russischsprachigen Ostukrainern ebenso gewiss sein wie 1939 Adolf Hitler unter der sudetendeutschen Bevölkerung bei der gewaltsamen Zerschlagung der damaligen Tschechoslowakei, wenngleich beide Aktionen dem Völkerrecht eindeutig entgegenstünden. Um das Völkerrecht mit dem durchaus berechtigten Anspruch ethnischer oder religiöser Minoritäten nach politischer Selbstbestimmung in Einklang zu bringen, bedürfe es demnach einer Abkehr vom Prinzip der Dauerhaftigkeit bestehender Grenzen hin zur Förderung von bundestaatlichen Strukturen mit ausgewiesenen Minderheitenrechten innerhalb eines heterogenen Gemeinwesens.

Regionalisierung funktioniert nicht überall

In Staaten wie der Ukraine, dem Irak oder Mali, wo - aller Heterogenität zum Trotz - zumindest regional relativ homogene Bevölkerungsstrukturen bestehen, erscheint eine solche territoriale Föderalisierung relativ einfach zu bewältigen sein, in Staaten, in denen auch innerhalb einer Region eine ethnisch-kulturelle Heterogenität existiert, wie beispielsweise in Israel und Palästina hingegen ungleich schwieriger. Wo eine Kollektivvertreibung sich politisch nicht durchführen ließ, hätten Imperialherrscher deshalb in einem Gebiet, auf welches sie Anspruch erhoben hätten, Bevölkerung aus dem Zentrum des Landes explizit angesiedelt, um die ethnischen Mehrheitsverhältnisse zugunsten der nationalen Mehrheitsbevölkerung zu verschieben. Eine dauerhafte Befriedung und Stabilisierung hätten sie damit, worauf Wolffsohn hinweist, jedoch nicht erreicht. Der Historiker Wolffsohn findet solches Verhalten in der Geschichte (beispielsweise bei der englisch-schottisch protestantischen Ansiedlung in Nordirland, bei der deutschen Ostkolonisation im Mittelalter oder bei der Ansiedlung von Russen und Deutschen durch die Zaren in Sibirien und Zentralasien). Der Politologe Wolffsohn beobachtet selbiges ebenso in der Gegenwart (bei der Ansiedlung von Han-Chinesen in Xinjang und Tibet sowie nicht zuletzt bei der israelischen Siedlungspolitik in der Westbank und Ostjerusalem). Die Tatsache, dass im Nordosten von Israel, in der Provinz Galiläa, mindestens ebenso viele Palästinenser mit israelischem Pass lebten wie Juden derzeit im Westjordanland dürfe allerdings nicht dazu verleiten, in einem Bevölkerungsaustausch die geeignete Lösung zu suchen. Diese an Stalin erinnernde Methode erwecke nur neue Widerstandsbewegungen und trage somit den Keim für neue Gewalt in sich. Stattdessen fordert Wolffsohn den Juden in den Westbanksiedlungen in einem neuen palästinensisch dominierten Gemeinwesen die Wahl zwischen israelischer oder palästinensischer Staatsangehörigkeit zu lassen und bei Entscheidung für letztere ein weitgehend autonomes Rechtssystem wie seinerzeit im Millet im Osmanischen Reich zu gewähren. Im Gegenzug müsse aber auch die arabisch-muslimische Bevölkerung in Israel mehr eigene Verwaltungsstrukturen erhalten. Wenn der „Jüdische Staat“ zivilrechtliche Anliegen nach alttestamentarischen Rechtsbegriffen zu regeln beanspruche, sei dies für muslimische Staatsbürger Israels zu Recht inakzeptabel. Die ethnisch-religiöse Mischung des Landes, die geographisch zwar nicht gleichmäßig verteilt, jedoch prinzipiell überall vorhanden sei, lasse hier nur parallele Verwaltungsstrukturen auf nationaler, regionaler und kommunaler Ebene zu. Es handele sich vielmehr um ein Prinzip, welches Wolffsohn auch für die muslimische Minorität in Europa vorschwebt, wenngleich seine Voraussage spezifischer muslimischer Parteien hier bislang keine Bestätigung gefunden hat und eher geeignet erscheint, Parallelgesellschaften erst neu entstehen zu lassen. Wenngleich sein Staatsverständnis sich von jenem der palästinensischen Autonomiebehörde deutlich unterscheidet, bekennt sich der deutsch-israelische Hochschulprofessor im Gegensatz zur gegenwärtigen israelischen Regierung durchaus zu einem eigenen Staat des palästinensischen Volkes, der auch das Territorium der in den letzten Jahrzehnten in die Westbank hineingezogenen Juden einschließt. Auf den Schutzanspruch Israels für diese dadurch in Palästina lebenden Siedler vermag allerdings auch er nicht gänzlich zu verzichten. Hier zeigt sich, dass jegliche im Weltmaßstab einfach erscheinende Theorie in der Praxis in einem konkreten Konfliktgebiet nur Erfolg mit der Umsetzung haben kann, wenn sie das Identitätsempfinden der dortigen Bewohner vollständig berücksichtigt. Letztlich verlangt es nicht nur, wie Wolffsohn zu Recht betont, ein Umdenken bei den Eliten in Politik, Medien und Wissenschaft, sondern auch in der allgemeinen Zivilgesellschaft, die einen eigenen Kollektivanspruch nach politischer Selbstbestimmung nicht mehr als Rechtfertigung verstehen darf, einem anderen Kollektiv dessen Selbstbestimmungsrecht zu beschneiden.  

Eine globale Konflikttheorie mit internationalem Lösungsanspruch


Nach Huntingtons „Clash of Civilisations“ und Fukuyamas „Staaten bauen“ beinhaltet Wolfsohns Theorie zum Weltfrieden seit langem mal wieder ein Modell, mit dem ein politisch denkender Autor die gesamte gegenwärtige Welt(un)ordnung zu erklären und zu vereinfachen sucht. Im Gegensatz zu Ersterem belässt er es nicht bei Befunden, sondern sucht nach Lösungen, die der kulturellen und religiösen Vielfalt auch innerhalb einzelner Staaten Rechnung tragen und gleichzeitig das demokratische Grundmodell, basierend auf individueller und kollektiver Selbstbestimmung für alle Kulturen und Religionen praktikabel gestalten. Hiermit könnte sich manche sogenannte „Erbfeindschaft“ langfristig tatsächlich überwinden lassen. Im Gegensatz zu Letzterem reicht es Wolffsohn für eine innere Befriedung neu konstruierter Gemeinwesen nicht aus, dass die neustaatlichen Strukturen von unten nach oben aufgebaut werden, sondern er verlangt darüber hinaus einen im System inbegriffenen Minderheitenschutz, weil er erkannt hat, dass das die Demokratie charakterisierende Majoritätsprinzip ausschließlich in einem homogenen Gemeinwesen mit dem Selbstbestimmungsideal für ein Kollektiv im Sinne Rousseaus und Wilsons tatsächlich deckungsgleich ist. Da Wolffsohn nicht Kultur, Religion oder Zivilisation als eigentliche Ursache der meisten Konflikte betrachtet und sein Lösungsmodell dennoch universellen Charakter besitzt, kann sein Buch für Außen- ebenso wie für Innenpolitiker, die Konfliktbewältigung als Zukunftsaufgabe begreifen, als Lektüre empfohlen werden. Zwar lässt er bei seiner Analyse seine eigene deutschjüdische Herkunft stets zum Vorschein gelangen, versäumt es jedoch nicht, westliche wie israelische Autoritäten in seine kritische Analyse einzubeziehen und zögert nicht, Tabus- auch einige im innerjüdisch-innerisraelischen Diskurs - für zukunftsfähige Lösungen als hinderlich zu benennen.

Michael Wolffsohn: Zum Weltfrieden – ein politischer Entwurf
Mit 10 Abbildungen Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2015 ISBN 978-3-423-26075-6