Samstag, 03.11.2001
Der Terror und die Folgen
Peinlicher Missgriff
Marx-Essay macht renommierten britischen Intellektuellen für Münchner Polizei verdächtig
Von Peter Nonnenmacher (London)
Die Polizei in München freute sich: Am Flughafen war ihr am frühen Montagmorgen ein ganz großer Fisch ins Terror-Netz gegangen. Ein finster blickender Pakistaner mit britischem Pass, offensichtlich im Bunde mit Osama bin Laden, versuchte sich auf einen British-Airways-Flug nach London zu schmuggeln. Im Handgepäck führte der gefährliche Passagier, noch schön in Zellophan verpackt, ein Bändchen "Über Selbstmord" mit sich: Der Autor des Essays, ein gewisser Karl Marx, ließ an der Gepäck-Kontrollstelle alle Alarmglocken läuten.
Kein Zweifel, dass hier ein potenzieller Luftpirat mit Marx- und Taliban-Ideen im Kopf auf eine verheerende Kamikaze-Aktion sann - womöglich über dem just erwachenden Buckingham-Palast. Da brauchte es weder Metall noch weißes Pulver im Handgepäck: Rasch beschlagnahmte die Polizei das Buch und den Pass des Möchtegern-Terroristen sowie anderes verdächtiges Material wie ein Exemplar der Süddeutschen Zeitung und führte ihn ab zum Verhör.
Überraschten Fluggästen teilte man mit, pflichtschuldigste Wachsamkeit habe zu einer wichtigen Verhaftung geführt. Dem Betreffenden selbst aber wurde auf dem Weg zur Flughafen-Wache nahe gelegt, dass er "mit solchen Büchern nach dem 11. September doch nicht mehr verreisen" solle. "Vielleicht sollten Sie solche Bücher dann nicht mehr drucken in Deutschland", entgegnete der Festgenommene gereizt. "Oder noch besser: sie in aller Öffentlichkeit verbrennen."
Hoppla, da hatten sich die uniformierten Hüter westlicher Zivilisation wohl vergriffen. Ihr dicker Fisch, so stellte sich heraus, war kein anderer als Tariq Ali, der britische Literat, Filmproduzent und frühere Londoner Studentenführer. Der Linksintellektuelle pakistanischer Herkunft, der über die Grenzen des Königreichs hinaus bekannt ist, kehrte just von einer Konferenz des Goethe-Instituts zum Thema "Islam und die Krise" nach Hause, nach England, zurück.
Empört berichtete Ali am Dienstag in der Londoner Zeitung Independent über den Beamten-Schnellschuss von München und darüber, wie "Karl Marx zu meiner Festnahme als Terrorist in Deutschland führte".
Zwar sei das Ganze eine recht triviale Episode gewesen, doch sei sie wohl "bezeichnend für die Stimmung des sozialdemokratisch-grünen Bündnisses, das heute in Deutschland regiert". Scharf attackierte Tariq Ali Bundesinnenminister Otto Schily, "der die Einführung neuer Sicherheits-Gesetze überwacht, die traditionelle Bürgerrechte bedrohen". Fast komme es ihm so vor, meinte Ali, als würden in Deutschland "viele der heute Mächtigen verzweifelt versuchen, ihre eigene Vergangenheit (als Verteidiger solcher Bürgerrechte) vergessen zu machen".
Kein großer Fang also, eher betretene Gesichter im Flughafen München. Als der abgeführte "Mister Ali" darauf bestand, den Münchner Oberbürgermeister anzurufen, der ihn noch am Freitag in einer Buchhandlung der bayerischen Landeshauptstadt zur Krise um Afghanistan befragt hatte, kapitulierte die Staatsmacht umgehend. Eine Entschuldigung sei man ihm jedenfalls schuldig geblieben, monierte der Brite. Aber er schaffte gerade noch seinen Heimflug nach London.