islam.de - Druckdokument - Druckdatum: Sonntag, 22.12.24
https://www.islam.de/23196.php


islam.de - Alle Rechte vorbehalten

Donnerstag, 09.01.2014

Die Kraft der Bewegung - Muslimische Sozialunternehmer waren bislang auf sich alleine gestellt. Ein neues Netzwerk verbindet und fördert sie jetzt - Marc Winkelmann

Sie hatte noch überlegt, wo man das Gespräch führen könnte. Ob es einen Ort gibt, der sich anbietet, weil sie ihn mit ihrer Arbeit verbindet. Ein Büro vielleicht? Ein Café? Immerhin kommt sie aus Hamburg, einige ihrer Kollegen auch, und jetzt ist sie mal wieder für ein paar Tage hier. Aber wo trifft man sich, wenn man sonst fast nur im Netz unterwegs ist?

Kübra Gümüsay ist dann doch noch etwas eingefallen, ein Coffeeshop am Hamburger Hauptbahnhof. „Hier waren wir mal“, sagt sie und nippt an ihrer mitgebrachten Wasserflasche. Es ist eins dieser Cafés, in dem Reisende nicht lange bleiben, sondern sich einen Kaffee bestellen, um ihn mitzunehmen. Aber vielleicht passt es gerade deshalb ganz gut zu ihrem Netzwerk. Geht es nicht darum, sich zu bewegen, nicht länger in einer Ecke zu verharren, sich einzumischen? „Die Leute sollen raustreten aus ihrer sozialen Blase und aktiv werden“, sagt sie.

Die Leute, damit meint sie die Muslime. Junge Engagierte, die kluge Ideen haben, denen aber Kontakte oder Partner für ihr Geschäftsmodell fehlen. Für sie hat Gümüsay mit ihrem Mann und einigen Freunden vor drei Jahren Zahnräder gegründet, ein deutschlandweites Netz, das sich vor allem über Skype oder den Onlineservice Basecamp austauscht, mit dem sich gemeinsame Projekte von verschiedenen Standorten aus bearbeiten lassen.

Ein vergleichbares Netzwerk gab es bislang nicht. In den klassischen Vereinen geht es vor allem um die muslimische Gemeinschaft und theologische Themen. Junge Generationen können sich dort zwar engagieren. „Aber Sozialunternehmer können sich da nicht verwirklichen. Und genau die wollen wir fördern“, sagt Kübra Gümüsay.

Tanju Doganay ist einer von ihnen. Er steht vor dem Eingang der Emir Sultan Moschee und schaut auf einen schwarzen Monitor, der an der Fassade hängt. Das Bild ist ausgefallen, vor ein paar Tagen schon. „Ein Softwarefehler“, sagt er. Wie viel CO2 seine Photovoltaikanlage einspart, wie viel von ihrem selbstproduzierten Strom verkauft wird – all das kann man gerade nicht ablesen. Dabei soll der Bildschirm genau das: Besuchern zeigen, wie die Moschee die Umwelt schont. Von den Solarmodulen auf dem Dach sieht man hier unten nämlich nichts.

Die Darmstädter Moschee an der Mainzer Landstraße ist ein weißer Bau mit zwei schlanken Minaretten. 1996 wurde der Grundstein gelegt, drei Jahre später war das Gotteshaus fertig. Doganay, 26, kommt regelmäßig her, zum Beten und zum Fußballgucken: Wenn die Champions League läuft, wird im Gemeinschaftsraum der Beamer angeworfen.

Die Idee mit den Solarzellen hatte er an der Universität. Während des Studiums zum Wirtschaftsingenieur legte er seinen Fokus auf Erneuerbare Energien und gründete mit fünf Kommilitonen den Verein Nour Energy; Nour bedeutet im Arabi- schen Licht, Kraft, Erleuchtung. Anschließend stellte er dem Vorstand der Moschee den Plan vor – seit Sommer 2012 erzeugen 41 Module vom Typ YGE 240 mehr Strom, als die Mitglieder verbrauchen.„Etwa die Hälfte der Energie können wir verkaufen. Im Jahr 2020 wird sich die Anlage amortisiert haben.“

Tanju Doganay ist inzwischen Gebietsleiter eines mittelständischen Unternehmens für Dach-, Fassaden- und Gebäudetechnik. Erneuerbare Energien, damit hat er jeden Tag zu tun, und das will er auch weiter nutzen für sein Engagement bei Nour Energy.

Seine Beratung ist gratis, nur für die installierte Technik muss der Auftraggeber zahlen. Eine zweite Moschee in Weinheim, knapp 50 Kilometer weiter südlich, haben sie ebenfalls mit Solarzellen ausgerüstet. Zu einem Projekt in Togo führt er gerade Gespräche, außerdem sucht er bundesweit neue Ehrenamtliche, die ihr Know-how einbringen. In Zukunft wird er nämlich, „so Gott will“, auch für deutsche Kindergärten oder andere Einrichtungen tätig werden.

Dass es auch andere engagierte Muslime wie ihn gibt, wusste er. Oder besser: Er hatte eine Ahnung davon. „Trotz der Medien, die meistens ein anderes Bild zeichnen.“ Wie viele es tatsächlich sind, erfuhr er erst Mitte April. In Heidelberg lud das Zahnräder-Netzwerk zu seiner jährlichen Konferenz und ließ die Teilnehmer in einem Wettbewerb gegeneinander antreten. Mehr als 50 Projekte wurden vorgestellt, das Auswahlverfahren zog sich über zwei Tage hin. Nour Energy landete am Ende auf Platz zwei und gewann etwas Preisgeld und ein Coaching.

„Es gibt extrem viele Projekte in der muslimischen Community. Das soll sichtbar werden“, sagt Kübra Gümüsay. Um Integration geht es ihr nicht. Diesen in der gesellschaftlichen und politischen Debatte strapazierten Begriff lehnt sie ab. Sich einfügen oder unterordnen, damit kann sie nichts anfangen. „Das ist von gestern. Es geht um Partizipation.“ Wenn ihr etwas nicht passt, meldet sie sich über Twitter oder auf ihrem Blog „Ein Fremdwörterbuch“ zu Wort. 2011 wurde ihre Seite für den Grimme Online Award nominiert.

Zu dem engeren Zahnräderkreis gehören mittlerweile zwischen 70 und 90 Aktive. In virtuellen Arbeitsgruppen gehen sie ihre Themen an, manche kennen sich gar nicht persönlich, und Fluktuation ist ausdrücklich erwünscht. „Kommen, lernen, gehen“, so stellen sie sich die Zusam- menarbeit vor. Ideen sollen entwickelt und dann in die Welt getragen werden. Zahnräder ist eine Mischung aus der Organisation Ashoka, die Sozialunternehmer weltweit fördert, und der populär gewordenen Konferenzreihe TED, die Visionären eine Bühne gibt. Wie TED veranstaltet auch Zahnräder lokale Treffen, um den regionalen Austausch zu stärken.

Und um Einzelkämpfer zu unterstützen. Ege Karar zählte sich vor der Zahnräder-Konferenz dazu. „Kein Vergleich“ sei das, was er jetzt erlebe, sagt er. Er ist Türke, seit Geburt gehörlos und zählt damit zu einer sehr kleinen Minderheit. Maximal 3000 hörbehinderte Muslime gibt es in Deutschland, schätzt er. Karar hat studiert und ist Mitarbeiter der RWTH Aachen am Lehrstuhl für Deutsche Philologie. Das macht ihn zu einer Ausnahme. „Die meis- ten sind gar nicht integriert. Viele wissen noch nicht einmal, warum Ramadan ist.“

Gründe dafür gibt es viele. Manche Eltern sind nachlässig und glauben, nicht viel daran ändern zu können, dass ihr Kind gehörlos ist. Andere Eltern wollen die Ge- bärdensprache nicht lernen. In jedem Fall sind selbst einfachste Informationen für gehörlose Muslime kaum verfügbar. Auch in der Moschee nicht. In Deutschland gibt es keinen Imam, der gebärden kann. Dolmetscher, etwa fürs Freitagsgebet, sind den Gemeinden zu teuer.

Das allgegenwärtige Internet ist auch keine Hilfe. Wer von Geburt an nichts hört, kann in der Regel weder lesen noch schreiben. „Die Schriftsprache ist nicht die Erstsprache Gehörloser, vor allem nicht, wenn man aus der Türkei kommt.“ Karar hatte mehr Glück. Seine Eltern, selbst ge- hörlos, förderten ihn früh.

Vor drei Jahren hat der 37-Jährige den Verein Deaf Islam gegründet. Er will Informationen über den Islam in Gebärden- sprache verbreiten. Eine vergleichbare Initiative gibt es in Deutschland nicht. Nachdem er auf der Zahnräder-Konferenz den ersten Platz belegt hatte, nahmen die Anfragen deutlich zu. „Das Netzwerk hat dazu beigetragen, dass wir einen großen Sprung machen konnten. Wir haben Mitstreiter gewonnen, außerdem wurden Geldgeber auf uns aufmerksam.“

Das ist wichtig für die künftige Arbeit. Je aktiver Ege Karar nämlich ist, desto mehr Geld muss er investieren. Jedes Ge- spräch mit Menschen, die die Gebärdensprache nicht beherrschen, ist nur mit Dolmetscher möglich. Das kostet, 55 Euro pro Stunde plus Fahrtkosten. „Auch dieses Ge- spräch muss der Verein zahlen“, sagt sein Übersetzer ins Telefon, „das bremst mich in meiner Vereinsarbeit.“

Aufklären, Veranstaltungen mit Hörenden und Gehörlosen organisieren, Fördertöpfe anzapfen – das will er erreichen. Dafür reist er durch Deutschland, in England ist er auch gewesen. „Dort ist man bei der Integration Gehörloser schon weiter.“

Jinan Rashid, 43, gebürtige Irakerin und Zahnärztin, vermittelt Bildung auf einem anderen Weg. Sie hat ein Brett- und Kartenspiel entwickelt, „The Top 5 For Life“. Im Zentrum stehen die fünf Säulen des Islam: das Glaubensbekenntnis, das Gebet, das Fasten, die Sozialabgabe und die Pilgerreise. Anhand von Bildkarten müssen Spieler ihre Verbindung zu den fünf Säulen herstellen. Wie sie das machen, ist ihnen überlassen und frei interpretierbar. Bis zu acht Spieler machen mit, richtige oder falsche Antworten gibt es nicht, Gewinner oder Verlierer auch nicht. Erste Schulen, Vereine und Bildungseinrichtun- gen haben „The Top 5 For Life“ in ihr Programm aufgenommen.

Bei Muslimen stößt das Spiel aber nicht nur auf Zustimmung. „In Deutschland gibt es kaum eine Familie, die keine Gesellschaftsspiele besitzt. In meiner Heimat dagegen kennt man solche Spiele so gut wie gar nicht,“ sagt Rashid. Von Türken wurde sie darauf hingewiesen, dass so ein Spiel sinnloser Zeitvertreib wäre und man nicht bereit sei, so viel Geld – 34,80 Euro – für ein Stück Pappe auszugeben. Als sie ihr Spiel auf dem Sommerfest einer Mo- schee vorstellte, wiesen orthodoxe Muslime sie darauf hin, dass man mit dem Islam so nicht umgehen dürfe. Die fünf Säulen frei zu interpretieren, das sei nicht gestattet.
Vor gut einem Jahr ist das Spiel auf den Markt gekommen. Mit den Verkäufen ist sie „bescheiden zufrieden“. Ihre Zahnarztpraxis in Leipzig hat sie weitgehend aufgegeben, ihren Idealismus, ihre Ersparnisse und dreiviertel ihrer Zeit investiert die dreifache Mutter in ihren Verlag. Ein Risiko, ganz klar. Aber: „Nur so kann man Spuren hinterlassen.“

Inzwischen führt sie Gespräche über Lizenzversionen. Mit- telfristig will sie mit ihrem Unternehmen Geld verdienen. Als politisches Statement versteht sie ihre Arbeit aber nicht. Natürlich spüre sie die Vorurteile in der Bevölkerung; erst kürzlich stellte der Religionsmonitor, eine Studie der Bertelsmann Stiftung, fest, dass von 14 000 befragten Deutschen mehr als die Hälfte den Islam als Bedrohung wahr- nehmen. Für Jinan Rashid wäre es aber falsch, wenn das Netzwerk anfinge, politisch zu werden.

Forderungen danach gibt es. Sie kommen auch aus dem Netzwerk. Ali Gümüsay, Kübras Mann und Vorsitzender von Zahnräder, will ihnen aber nicht nachgeben. Der 28-Jährige möchte im Hinter-grund die Struktur aufbauen und die Arbeit der Sozialunternehmer für sich sprechen lassen. „Ich verstehe das individuelle Bedürfnis, sich zu politischen Thmen auch innerhalb von Zahnräder zu äußern. Aber wir wollen einen Raum schaffen, der für die unterschiedlichsten politischen Strömungen offen ist“, sagt er via Skype von seinem Rechner in Oxford aus, wo er momentan promoviert. Das renommierte Skoll Centre for Social Entre- preneurship sitzt in demselben Gebäude, das hat auf die Gründung des Netzwerks abgefärbt.

Politische Arbeit hieße, sich und seine Positionen in der Öffentlichkeit zu platzieren. Ansprechpartner für die Medien zu sein, aus einer Person eine Marke zu formen. Ali Gümüsay hat andere Vorstellungen. Er, seine Frau und die übrigen Vorstandskollegen wollen sich überflüssig machen. Ein Gerüst konstruieren, dieses anderen zur Verfügung stellen und dann weiterziehen. Und wenn ihre Nachfolger Fehler machen, die sie mit ihrer Erfahrung vermeiden könnten? „Solange sie daraus lernen, finde ich das gut.“

Und dann erzählt er von anderen Organisationen, in denen er tätig ist. „Closed shops“, wie er sie nennt, für Außenstehende nicht zugängliche Vereine. Dort wird Herrschaftswissen gesammelt, aber nicht geteilt, weil man um seinen Einfluss, um seine Positionen fürchtet. Zahnräder ist ein Gegenentwurf dazu. „Wir wollen, dass Informationen zirkulieren, damit daraus gemeinsames Wissen wird.“ Erst das schafft gesellschaftliche Teilnahme und Teilhabe. Und wenn das erreicht ist, hat er seine Aufgabe erfüllt. Kommen, lernen, gehen eben.

Marc Winkelmann / erschienen in: enorm, Ausgabe 3/2013. Mit freundlicher Genehmigung des Autors