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Mittwoch, 04.12.2013

„Gott ist schön“ von der ästhetischen Dimension des Korans

Interview mit Angelika Neuwirth

Guten Tag Frau Prof. Neuwirth*! Auf mehr als achthundert Seiten versuchen Sie in ihrem Werk über den „Koran als Text der Spätantike“ einen europäischen Zugang zum heiligen Buch der Muslime zu finden. Was genau meinen Sie mit dem „europäischen“ Blick auf den Koran?
Neuwirth: Das Buch selber legt das dar. Ich versuche zu zeigen, dass wenn man den Koran historisch liest, man auf dieselben Traditionen stößt, die von Europäern als für ihre Kultur grundlegend in Anspruch genommen werden. Das ist einfach eine historische Lektüre des Korans, jetzt nicht wie üblich als Gründungsurkunde des Islam, sondern gewissermaßen dahinter zurück. Der Koran wird als eine Verkündigung, das heißt als Botschaft an Leute, die noch gar nicht Muslime waren, gelesen. Denn Muslime wurden sie ja erst durch die Verkündigung. Dieser Blick zeigt, dass damals dieselben Probleme auf der arabischen Halbinsel diskutiert wurden, wie in der umliegenden spätantiken Welt, die später dann gewissermaßen als Grundlage Europas wahrgenommen wurde. Das heißt, wir entstammen alle einem gemeinsamen Entstehungsszenario, ein Sachverhalt, der nur durch spätere historische Entwicklungen verunklärt worden ist.

Also, geht es ja eigentlich nicht um einen „europäischen“ Zugang, sondern um die verbindenden Elemente der Spätantike bzw. die Einflüsse der Antike. Und weder der sogenannte 'Orient'  noch der 'Okzident' können diese Elemente als Eigenheit für sich beanspruchen, oder?

Neuwirth: Das tun sie allerdings faktisch. Sowohl im Orient, also in der konventionellen islamischen Selbstwahrnehmung, wird davon ausgegangen, dass der Islam sich bereits von seinen Anfängen her essentiell von der umgebenden Kultur unterscheidet, dass mit ihm etwas ganz Neues in die Welt gekommen ist. Davor gab es das Zeitalter der 'Jahiliya' (Zeit der Unwissenheit), eine gering geschätzte Epoche, die man nicht unbedingt zur Kenntnis nehmen muss. Und im Westen glaubt man, dass der Islam das ganz Andere ist, also etwas, was nicht zu der eigenen Kultur gehört. Es sind uralte Festschreibungen von Andersheit, die historisch nicht zu halten sind, die sich aber aufgrund von früheren Machtverlagerungen oder Machtverhältnissen eben so festgeschrieben haben. 

Würden Sie dann auch die Auffassung verneinen, dass der Islam noch eine Aufklärung nötig hat bzw. das Vernunft und Wissenschaft im Koran in einem Spannungsverhältnis zum Glauben stehen?
Neuwirth: Die Behauptung, dem Islam fehle die Aufklärung ist auch ein uraltes Klischee. Der Stolz auf die Aufklärung, wenn er sich inzwischen allerdings auch etwas gelegt hat, verleitet immer wieder dazu, der westlichen Kultur gegenüber dem Islam einen erheblichen Vorsprung zuzumessen. In der islamischen Geschichte hat es zwar keine flächendeckende  Säkularisierungsbewegung gegeben, dies aber deshalb nicht, weil Sakrales und Säkulares im Islam bereits nebeneinander existierten. Auch war das Kräfteungleichgewicht keineswegs immer so wie wir es heute haben. Die islamische Wissenskultur war sehr lange Zeit der westlichen oder überhaupt der außerislamischen weit überlegen. Das hat nicht zuletzt zu tun mit den medialen Vorsprüngen, die man hatte. Es gab in der islamischen Welt beispielsweise schon seit dem achten Jahrhundert die Herstellung von Papier. Diese ermöglichte wiederum, immense Massen von Texten zu verbreiten, wovon im gleichzeitigen Westen keine Rede sein konnte. Es ist sicher mehr als das Hundertfache des im Westen an Schriften Vorhandenen was da an arabischen Texten in Umlauf gebracht worden ist. Bis zum 15. Jahrhundert war man im Westen noch auf Pergament angewiesen, was sehr kostspielig und schwer zu bekommen war.

Wenn wir uns die inhaltliche Ebene des Korans anschauen: Welches Frauen- und Menschenbild konstatiert der Koran?
Neuwirth: Natürlich ist der Koran kein Nachschlagwerk für soziales Verhalten. Weite Kreise gehen heute davon aus, dass man alle Normen des Islam bereits im Koran auffinden kann. So war der Koran aber nicht gedacht. Es wandte sich als Verkündigung an Leute, die andere Normen kannten und bereit waren, diese Normen infrage zu stellen. Der Koran bildet Verhandlungen über verschiedene Normen ab. Dass man die relativ wenigen rechtlich relevanten Anweisungen dann systematisiert hat und zu einem Teil des islamischen Normenkanons, der Scharia gemacht, ist eine andere Sache. Die spätere Rechtsliteratur reflektiert nicht dieselben Verhältnisse wie der Koran. Das zeigt sich besonders deutlich am Bild der Frau, das ja in der islamischen Rechtsliteratur ganz anders aussieht als im Koran. Gerade hier markiert der Koran einen revolutionären Fortschritt: Er stellt die Frau - zu seiner Zeit ist es einmalig! - vor Gott auf gleiche Ebene mit dem Mann. Beide Geschlechter werden im jüngsten Gericht auf dieselbe Weise beurteilt. Das klingt vor heute aus gesehen vielleicht irrelevant, aber das ist es nicht. In der damaligen Zeit war die Gleichstellung der Frau mit dem Mann noch ganz undenkbar – es gab sogar noch Diskussionen darüber, ob die Frau überhaupt eine Seele habe. Die Frau wurde sehr ambivalent beurteilt und ihr Rechtsstatus war in vielen vorislamischen Gesellschaften ausgesprochen ungünstig. Der Koran rückt die Frau auch in wichtigen weltlichen Dingen auf die gleiche Ebene mit dem Mann, sie besitzt Rechte und kann sogar erben, ist also keineswegs entmündigt. 

 Navid Kermani spricht in seinem Werk „Gott ist schön“ von der ästhetischen Dimension des Korans. Können Sie dazu näheres sagen?

Neuwirth: Ja, das ist sogar wichtig. Wenn man, wie viele Koranforscher es heute tun, den Koran als eine Art Informationsmedium liest, in dem bestimmte Informationen drin stehen, dann wird man der ganzen Sache nicht gerecht. Der Koran ist sehr stark poetisch geprägt und hat eine ganze Reihe von Botschaften, die er gar nicht explizit, gar nicht eindeutig auf der semantischen Ebene mitteilt, sondern eben durch poetische Strukturen vermittelt, sonst wäre er auch gar nicht so eindringlich. Wenn da bestimmte Informationen stünden, die hätte man vielleicht woanders auch haben können. Das Einzigartige am Koran ist eben seine Vielschichtigkeit, das er auf verschiedenen Ebenen spricht und das ist einerseits natürlich ästhetisch von großem Reiz, aber es ist auch, wenn man so will, rhetorisch oder überzeugungstechnisch von großem Reiz.   Wie gesagt, die Aussagen des Korans ließen sich vielleicht in einem ganz kurzen Zeitungsresümee zusammenfassen, das hätte aber keinerlei Effekt gehabt. Es geht wirklich um diese Verzauberung durch Sprache. Sprache selbst wird im Koran auch gepriesen als die höchste Gabe, die der Mensch von Gott erhalten hat. Das hat natürlich zu tun mit Wissen. Sprache ist das Medium des Wissens. Deswegen sollte man auf gar keinen Fall der islamischen Kultur auch noch Wissensfeindlichkeit unterstellen. Also der ganze Koran ist im Grunde genommen ein Preis auf das Wissen. Das Wissen, das sich durch Sprache artikuliert.

Welche Parallelen weist der Koran zu den religiösen Schriften der Juden und Christen auf? Was ist konkret die besondere Auszeichnung des Korans bzw. was hat der Koran neues gebracht?

Neuwirth: Ja, was hat der Koran neues gebracht? Also, er muss ja Neues gebracht haben, wenn er so viele hundert Jahre nach der zuletzt vorher entstandenen heiligen Schrift in die Welt tritt (ca. 600 Jahre nach dem Neuen Testament). Zum einen würde ich sagen ist es sein Beharren darauf, dass Wissen einen ganz immens wichtigen Anteil am menschlichen Leben und auch am menschlichen religiösen Leben hat. Der Gedanke ist im Neuen Testament zum Beispiel nicht interessant. Das Neue Testament hebt auf andere Dinge ab, und die Thora, das Alte Testament, also die hebräische Bibel, ebenfalls. Die Fokussierung auf das Wissen ist eindeutig eine Neuheit, die es vorher nicht gegeben hat. Das hängt zusammen mit der spätantiken Entstehung, damals war man einfach, auch durch die Philosophie, bereit, Wissen in den Vordergrund zu stellen. Außerdem lässt sich anführen, dass im Koran die Universalisierung der Botschaft, die sich nun an alle Menschen richtet, eine besondere Rolle spielt. Weder hat der Koran ein besonderes Verständnis für das Erwählungsverständnis der Juden. Eine solche Erwählung lehnt die koranische Stimme ab, an die Stelle einiger Erwählter treten die Menschen insgesamt. Auch die Erwählung der Christen, die sich an die Stelle der Juden gesetzt hatten, wird zurückgewiesen. Es gibt keine Erwählten, sondern es gibt die Menschen insgesamt, die bestimmten Vorbildern folgen, sich aber nicht auf irgendwelche Erwählungsprivilegien berufen können. Also weder, wie die Juden auf Abraham, oder wie die Christen auf Christus. Diese Berufungen helfen vor Gott gar nicht, sondern jeder ist allein verantwortlich und hat für sein Tun Rechenschaft abzulegen.

 Das heißt, dass jeder Mensch eine individuelle Beziehung zu Gott aufbauen kann, ohne dass es dafür eine vermittelnde Instanz gibt?

Neuwirth: Ja, das kann man so sagen, wenngleich auch der Koran selber in gewisser Hinsicht eine vermittelnde Instanz ist, nämlich als ein Medium ist, durch das man leichter diesen Zustand erreichen kann. Durch die Erfüllung der rituellen Verpflichtung, vor allem durch das Gebet, durch die Rezitation des Korans, hat der Gläubige einen Zugang, der anderen nicht offen steht. Das ist aber eben ein verbaler Zugang, ein rituell-verbaler Zugang, aber keine auf eine Person gerichtete, auf einen Vorfahren oder eine Erlöserfigur gegründete Privilegierung.

Welchen Rat würden Sie einem Menschen geben, der bisher keinen Zugang zur Religion des Islams hatte und sich den Koran zum ersten Mal durchlesen möchte?


Neuwirth: Das ist natürlich ein ganz unvorteilhafter Ausgangspunkt (lacht). Vielleicht hat er dann ja auch gar keinen Zugang zu den anderen heiligen Schriften. Es es ist ja leider so, dass man das Wissen, das die Hörer des Propheten hatten, normalerweise nicht nicht mehr hat. Die Hörer des Propheten waren gebildet, sie hatten eine Menge Bibelwissen und auch einiges philosophische Wissen der Zeit, das wir heute nicht haben. Was kann man da tun? Wenn man Muslim ist, tut man gut daran, einfach die Kommentare zu lesen, die enthalten ja die Erfahrungen der muslimischen Gemeinde mit dem Koran. Das ist auf jeden Fall hilfreich – auch wenn diese auch aus einer Zeit stammen, die nicht unsere ist, und es manchmal irritierend ist, was man da zu lesen bekommt. Wenn man Außenstehender ist dann sollte man sich vielleicht damit begnügen, zunächst einmal den letzten Teil des Korans zu lesen, nach Möglichkeit auf Arabisch, wenn es geht, und dabei eine Koranrezitation zu hören. Dieses letzte Dreißigstel des Korans, das Dschuz' 'amm, wie es im Arabischen heißt, ist ein sehr schöner Zugang. Wenn sich da in einem nichts öffnet, wird es auch nicht bei Sure Zwei nicht passieren (lacht). Ich würde unbedingt raten, sich Koranrezitation dazu zu gönnen, damit nicht der falsche Eindruck entsteht, hier würden religiöse Informationen herübergebracht.

 Inwiefern gibt es eine andere Spiritualität im Islam, oder eine andere Vorstellung von Spiritualität im Islam, als jetzt im Judentum oder Christentum?

Neuwirth: Es ist jetzt schwer in einem Satz von drei Spiritualitäten zu handeln, aber auf jeden Fall lebt die islamische Spiritualität von der Koranrezitation. Erstmal reinszeniert man damit die Erfahrung des Propheten, was ja schon einmal eine ganz wichtige Rückbindung an ihn ist. Man steht in einer Tradition. Die Rezitation ist eingebettet in die Vorstellung, dass man durch das Sprechen bestimmter Formeln sich für einen Moment aus der Alltagswelt entfernen kann. Besonders im Gebet selber werden bestimmte Formeln gesprochen, am Anfang und wieder am Ende, die zeigen, dass man während dieser Zeit‚ abgemeldet ist aus dem Alltag. Das ist ein ganz erheblicher Vorteil gegenüber Leuten, die eine solche Möglichkeit nicht haben, sondern gewissermaßen 24 Stunden lang auf demselben Alltagsniveau sind. Es gibt inzwischen ja eine Menge Versuche, solche Auszeiten mithilfe künstlicher Religionen zu erreichen, aber im Islam ist diese Praxis - sehr genuin und außerordentlich gut geregelt - schon abrufbar. Das heißt, mit dieser Rezitation ist man eine Weile in einer anderen Welt.

Guten Tag Frau Prof. Neuwirth! Auf mehr als achthundert Seiten versuchen Sie in ihrem Werk über den „Koran als Text der Spätantike“ einen europäischen Zugang zum heiligen Buch der Muslime zu finden. Was genau meinen Sie mit dem „europäischen“ Blick auf den Koran?
Neuwirth: Das Buch selber legt das dar. Ich versuche zu zeigen, dass wenn man den Koran historisch liest, man auf dieselben Traditionen stößt, die von Europäern als für ihre Kultur grundlegend in Anspruch genommen werden. Das ist einfach eine historische Lektüre des Korans, jetzt nicht wie üblich als Gründungsurkunde des Islam, sondern gewissermaßen dahinter zurück. Der Koran wird als eine Verkündigung, das heißt als Botschaft an Leute, die noch gar nicht Muslime waren, gelesen. Denn Muslime wurden sie ja erst durch die Verkündigung. Dieser Blick zeigt, dass damals dieselben Probleme auf der arabischen Halbinsel diskutiert wurden, wie in der umliegenden spätantiken Welt, die später dann gewissermaßen als Grundlage Europas wahrgenommen wurde. Das heißt, wir entstammen alle einem gemeinsamen Entstehungsszenario, ein Sachverhalt, der nur durch spätere historische Entwicklungen verunklärt worden ist.

Also, geht es ja eigentlich nicht um einen „europäischen“ Zugang, sondern um die verbindenden Elemente der Spätantike bzw. die Einflüsse der Antike. Und weder der sogenannte 'Orient'  noch der 'Okzident' können diese Elemente als Eigenheit für sich beanspruchen, oder?

Neuwirth: Das tun sie allerdings faktisch. Sowohl im Orient, also in der konventionellen islamischen Selbstwahrnehmung, wird davon ausgegangen, dass der Islam sich bereits von seinen Anfängen her essentiell von der umgebenden Kultur unterscheidet, dass mit ihm etwas ganz Neues in die Welt gekommen ist. Davor gab es das Zeitalter der 'Jahiliya' (Zeit der Unwissenheit), eine gering geschätzte Epoche, die man nicht unbedingt zur Kenntnis nehmen muss. Und im Westen glaubt man, dass der Islam das ganz Andere ist, also etwas, was nicht zu der eigenen Kultur gehört. Es sind uralte Festschreibungen von Andersheit, die historisch nicht zu halten sind, die sich aber aufgrund von früheren Machtverlagerungen oder Machtverhältnissen eben so festgeschrieben haben. 

Würden Sie dann auch die Auffassung verneinen, dass der Islam noch eine Aufklärung nötig hat bzw. das Vernunft und Wissenschaft im Koran in einem Spannungsverhältnis zum Glauben stehen?
Neuwirth: Die Behauptung, dem Islam fehle die Aufklärung ist auch ein uraltes Klischee. Der Stolz auf die Aufklärung, wenn er sich inzwischen allerdings auch etwas gelegt hat, verleitet immer wieder dazu, der westlichen Kultur gegenüber dem Islam einen erheblichen Vorsprung zuzumessen. In der islamischen Geschichte hat es zwar keine flächendeckende  Säkularisierungsbewegung gegeben, dies aber deshalb nicht, weil Sakrales und Säkulares im Islam bereits nebeneinander existierten. Auch war das Kräfteungleichgewicht keineswegs immer so wie wir es heute haben. Die islamische Wissenskultur war sehr lange Zeit der westlichen oder überhaupt der außerislamischen weit überlegen. Das hat nicht zuletzt zu tun mit den medialen Vorsprüngen, die man hatte. Es gab in der islamischen Welt beispielsweise schon seit dem achten Jahrhundert die Herstellung von Papier. Diese ermöglichte wiederum, immense Massen von Texten zu verbreiten, wovon im gleichzeitigen Westen keine Rede sein konnte. Es ist sicher mehr als das Hundertfache des im Westen an Schriften Vorhandenen was da an arabischen Texten in Umlauf gebracht worden ist. Bis zum 15. Jahrhundert war man im Westen noch auf Pergament angewiesen, was sehr kostspielig und schwer zu bekommen war.

Wenn wir uns die inhaltliche Ebene des Korans anschauen: Welches Frauen- und Menschenbild konstatiert der Koran?
Neuwirth: Natürlich ist der Koran kein Nachschlagwerk für soziales Verhalten. Weite Kreise gehen heute davon aus, dass man alle Normen des Islam bereits im Koran auffinden kann. So war der Koran aber nicht gedacht. Es wandte sich als Verkündigung an Leute, die andere Normen kannten und bereit waren, diese Normen infrage zu stellen. Der Koran bildet Verhandlungen über verschiedene Normen ab. Dass man die relativ wenigen rechtlich relevanten Anweisungen dann systematisiert hat und zu einem Teil des islamischen Normenkanons, der Scharia gemacht, ist eine andere Sache. Die spätere Rechtsliteratur reflektiert nicht dieselben Verhältnisse wie der Koran. Das zeigt sich besonders deutlich am Bild der Frau, das ja in der islamischen Rechtsliteratur ganz anders aussieht als im Koran. Gerade hier markiert der Koran einen revolutionären Fortschritt: Er stellt die Frau - zu seiner Zeit ist es einmalig! - vor Gott auf gleiche Ebene mit dem Mann. Beide Geschlechter werden im jüngsten Gericht auf dieselbe Weise beurteilt. Das klingt vor heute aus gesehen vielleicht irrelevant, aber das ist es nicht. In der damaligen Zeit war die Gleichstellung der Frau mit dem Mann noch ganz undenkbar – es gab sogar noch Diskussionen darüber, ob die Frau überhaupt eine Seele habe. Die Frau wurde sehr ambivalent beurteilt und ihr Rechtsstatus war in vielen vorislamischen Gesellschaften ausgesprochen ungünstig. Der Koran rückt die Frau auch in wichtigen weltlichen Dingen auf die gleiche Ebene mit dem Mann, sie besitzt Rechte und kann sogar erben, ist also keineswegs entmündigt. 

 Navid Kermani spricht in seinem Werk „Gott ist schön“ von der ästhetischen Dimension des Korans. Können Sie dazu näheres sagen?

Neuwirth: Ja, das ist sogar wichtig. Wenn man, wie viele Koranforscher es heute tun, den Koran als eine Art Informationsmedium liest, in dem bestimmte Informationen drin stehen, dann wird man der ganzen Sache nicht gerecht. Der Koran ist sehr stark poetisch geprägt und hat eine ganze Reihe von Botschaften, die er gar nicht explizit, gar nicht eindeutig auf der semantischen Ebene mitteilt, sondern eben durch poetische Strukturen vermittelt, sonst wäre er auch gar nicht so eindringlich. Wenn da bestimmte Informationen stünden, die hätte man vielleicht woanders auch haben können. Das Einzigartige am Koran ist eben seine Vielschichtigkeit, das er auf verschiedenen Ebenen spricht und das ist einerseits natürlich ästhetisch von großem Reiz, aber es ist auch, wenn man so will, rhetorisch oder überzeugungstechnisch von großem Reiz.   Wie gesagt, die Aussagen des Korans ließen sich vielleicht in einem ganz kurzen Zeitungsresümee zusammenfassen, das hätte aber keinerlei Effekt gehabt. Es geht wirklich um diese Verzauberung durch Sprache. Sprache selbst wird im Koran auch gepriesen als die höchste Gabe, die der Mensch von Gott erhalten hat. Das hat natürlich zu tun mit Wissen. Sprache ist das Medium des Wissens. Deswegen sollte man auf gar keinen Fall der islamischen Kultur auch noch Wissensfeindlichkeit unterstellen. Also der ganze Koran ist im Grunde genommen ein Preis auf das Wissen. Das Wissen, das sich durch Sprache artikuliert.

Welche Parallelen weist der Koran zu den religiösen Schriften der Juden und Christen auf? Was ist konkret die besondere Auszeichnung des Korans bzw. was hat der Koran neues gebracht?

Neuwirth: Ja, was hat der Koran neues gebracht? Also, er muss ja Neues gebracht haben, wenn er so viele hundert Jahre nach der zuletzt vorher entstandenen heiligen Schrift in die Welt tritt (ca. 600 Jahre nach dem Neuen Testament). Zum einen würde ich sagen ist es sein Beharren darauf, dass Wissen einen ganz immens wichtigen Anteil am menschlichen Leben und auch am menschlichen religiösen Leben hat. Der Gedanke ist im Neuen Testament zum Beispiel nicht interessant. Das Neue Testament hebt auf andere Dinge ab, und die Thora, das Alte Testament, also die hebräische Bibel, ebenfalls. Die Fokussierung auf das Wissen ist eindeutig eine Neuheit, die es vorher nicht gegeben hat. Das hängt zusammen mit der spätantiken Entstehung, damals war man einfach, auch durch die Philosophie, bereit, Wissen in den Vordergrund zu stellen. Außerdem lässt sich anführen, dass im Koran die Universalisierung der Botschaft, die sich nun an alle Menschen richtet, eine besondere Rolle spielt. Weder hat der Koran ein besonderes Verständnis für das Erwählungsverständnis der Juden. Eine solche Erwählung lehnt die koranische Stimme ab, an die Stelle einiger Erwählter treten die Menschen insgesamt. Auch die Erwählung der Christen, die sich an die Stelle der Juden gesetzt hatten, wird zurückgewiesen. Es gibt keine Erwählten, sondern es gibt die Menschen insgesamt, die bestimmten Vorbildern folgen, sich aber nicht auf irgendwelche Erwählungsprivilegien berufen können. Also weder, wie die Juden auf Abraham, oder wie die Christen auf Christus. Diese Berufungen helfen vor Gott gar nicht, sondern jeder ist allein verantwortlich und hat für sein Tun Rechenschaft abzulegen.

 Das heißt, dass jeder Mensch eine individuelle Beziehung zu Gott aufbauen kann, ohne dass es dafür eine vermittelnde Instanz gibt?

Neuwirth: Ja, das kann man so sagen, wenngleich auch der Koran selber in gewisser Hinsicht eine vermittelnde Instanz ist, nämlich als ein Medium ist, durch das man leichter diesen Zustand erreichen kann. Durch die Erfüllung der rituellen Verpflichtung, vor allem durch das Gebet, durch die Rezitation des Korans, hat der Gläubige einen Zugang, der anderen nicht offen steht. Das ist aber eben ein verbaler Zugang, ein rituell-verbaler Zugang, aber keine auf eine Person gerichtete, auf einen Vorfahren oder eine Erlöserfigur gegründete Privilegierung.

Welchen Rat würden Sie einem Menschen geben, der bisher keinen Zugang zur Religion des Islams hatte und sich den Koran zum ersten Mal durchlesen möchte?


Neuwirth: Das ist natürlich ein ganz unvorteilhafter Ausgangspunkt (lacht). Vielleicht hat er dann ja auch gar keinen Zugang zu den anderen heiligen Schriften. Es es ist ja leider so, dass man das Wissen, das die Hörer des Propheten hatten, normalerweise nicht nicht mehr hat. Die Hörer des Propheten waren gebildet, sie hatten eine Menge Bibelwissen und auch einiges philosophische Wissen der Zeit, das wir heute nicht haben. Was kann man da tun? Wenn man Muslim ist, tut man gut daran, einfach die Kommentare zu lesen, die enthalten ja die Erfahrungen der muslimischen Gemeinde mit dem Koran. Das ist auf jeden Fall hilfreich – auch wenn diese auch aus einer Zeit stammen, die nicht unsere ist, und es manchmal irritierend ist, was man da zu lesen bekommt. Wenn man Außenstehender ist dann sollte man sich vielleicht damit begnügen, zunächst einmal den letzten Teil des Korans zu lesen, nach Möglichkeit auf Arabisch, wenn es geht, und dabei eine Koranrezitation zu hören. Dieses letzte Dreißigstel des Korans, das Dschuz' 'amm, wie es im Arabischen heißt, ist ein sehr schöner Zugang. Wenn sich da in einem nichts öffnet, wird es auch nicht bei Sure Zwei nicht passieren (lacht). Ich würde unbedingt raten, sich Koranrezitation dazu zu gönnen, damit nicht der falsche Eindruck entsteht, hier würden religiöse Informationen herübergebracht.

 Inwiefern gibt es eine andere Spiritualität im Islam, oder eine andere Vorstellung von Spiritualität im Islam, als jetzt im Judentum oder Christentum?

Neuwirth: Es ist jetzt schwer in einem Satz von drei Spiritualitäten zu handeln, aber auf jeden Fall lebt die islamische Spiritualität von der Koranrezitation. Erstmal reinszeniert man damit die Erfahrung des Propheten, was ja schon einmal eine ganz wichtige Rückbindung an ihn ist. Man steht in einer Tradition. Die Rezitation ist eingebettet in die Vorstellung, dass man durch das Sprechen bestimmter Formeln sich für einen Moment aus der Alltagswelt entfernen kann. Besonders im Gebet selber werden bestimmte Formeln gesprochen, am Anfang und wieder am Ende, die zeigen, dass man während dieser Zeit‚ abgemeldet ist aus dem Alltag. Das ist ein ganz erheblicher Vorteil gegenüber Leuten, die eine solche Möglichkeit nicht haben, sondern gewissermaßen 24 Stunden lang auf demselben Alltagsniveau sind. Es gibt inzwischen ja eine Menge Versuche, solche Auszeiten mithilfe künstlicher Religionen zu erreichen, aber im Islam ist diese Praxis - sehr genuin und außerordentlich gut geregelt - schon abrufbar. Das heißt, mit dieser Rezitation ist man eine Weile in einer anderen Welt.  



Das Interview wurde auch auf dem Online-Magazin 'DAS MILIEU' veröffentlicht und die Alia Hübsch und Anna Alvi stellen dies hier freundlichweise islam.de zu Verfügung



Prof. Dr. Angelika Neuwirth studierte Arabistik, Semitistik und Klassische Philologie an der Freien Universität Berlin sowie in Teheran, Göttingen, Jerusalem und München. Nach ihrer Habilitation arbeitete sie von 1977 bis 1983 als Gastprofessorin an der Universität von Jordanien in Amman. Von 1994 bis 1999 war sie Direktorin am Orient-Institut der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft Beirut und Istanbul. Derzeit ist sie an der Freien Universität in Berlin als Professorin tätig. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich des Korans und der Koranexegese, in der modernen arabischen Literatur der Levante, der palästinensischen Dichtung und der Literatur des israelisch-palästinensischen Konflikts. Für ihre Koranforschung erhielt sie im Juni 2013 den Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa.