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Leserbriefe

Samstag, 03.07.2004



Reiner Moysich:EU-Kommission überprüft Anti-Kopftuch-Gesetze auf Diskriminierung schrieb:


seit etlichen Jahren kämpfe ich auf verschiedenen Ebenen (z.B. Leserbriefe, Internet, ganz neu: Petition an den Deutschen Bundestag) für die Verwirklichung der im Grundgesetz und den Menschenrechten verankerten Gleichbehandlung aller religiösen und nichtreligiösen Weltanschauungen.
In diesem Zusammenhang habe ich mich auch immer wieder gegen ein Kopftuchverbot ausgesprochen.
Nachstehend schicke ich Ihnen meinen neusten Beitrag hierzu.
Mit recht freundlichen Grüßen
Reiner Moysich


EU-Kommission überprüft Anti-Kopftuch-Gesetze auf Diskriminierung
(Auch) baden-württembergische Landtagsabgeordnete müssen damit rechnen, sich strafbar gemacht zu haben.



Es sieht so aus, als bräuchte Frau Ludin gar nicht mehr Verfassungsbeschwerde gegen das negative Urteil des Bundesverwaltungsgerichts einzulegen, um endlich Recht zu bekommen. Denn erfreulicherweise ist nun bereits die Europäische Kommission (Generaldirektion Beschäftigung und Soziales) tätig geworden, um zu überprüfen, ob bei den Anti-Kopftuch-Gesetzen gegen das EU-weite Diskriminierungsverbot verstoßen wurde.
Quelle:
http://www.tagesschau.de/aktuell/meldungen/0%2C1185%2COID3385768_REF1%2C00.html

Vieles spricht dafür (und weit und breit nichts dagegen), dass dieses Diskriminierungsvergehen tatsächlich vorliegt:

1.
"Das vom Bundesverwaltungsgericht bestätigte Kopftuchverbot ist auf vernichtende Kritik gestoßen. Der ehemalige Bundesverfassungsrichter Ernst Gottfried Mahrenholz hat das Verbot als desintegrierend abgelehnt.
Hier gebe es eine Diskriminierung gegenüber dem Christentum und dem Tragen der Nonnentracht im Unterricht, sagte er im Deutschlandfunk. Das Gericht habe entschieden, dass das Tragen des Kopftuches auch Ausdruck der Religionsfreiheit sei, erinnerte der Richter. Die Konsequenz hätte demnach sein müssen, dass man die Frau in ihrer Person befragt, aber nicht generell das Kopftuch verbiete.
Mahrenholz verwies darauf, dass es im Beamtenrecht der Bundesrepublik schon immer die Einzelfallprüfung gegeben habe. Ein generelles Verbot desintegriere aber. Über dieses Urteil könnten sich all diejenigen freuen, die mit "unserer Staatsform nichts anfangen können", sagte er. Der ehemalige Richter am Bundesverfassungsgericht forderte zugleich, künftig positive Lösungen zu finden."
Quelle:


2.
"HUMAN RIGHTS WATCH
Recht auf Kopftuch
Das geplante Kopftuch-Verbot in französischen Schulen verstößt nach Einschätzung der Menschenrechtsorganisation "Human Rights Watch" (HRW) gegen das Recht auf Religions- und Meinungsfreiheit. Nach internationalem Recht könne ein Staat eine religiöse Praxis nur aus Gründen der öffentlichen Sicherheit einschränken. (afp)"
Quelle:
taz Nr. 7296 vom 28.2.2004, Seite 10, 12 Agentur

3.
"Bundespräsident Rau hat ... den jetzt von mehreren Bundesländern vorbereiteten Gesetzen zu einem Kopftuchverbot für muslimische Lehrerinnen eine Absage erteilt. Man könne nicht ein religiöses Symbol verbieten und alles andere beim Alten lassen, sagte Rau.... Die im Grundgesetz garantierte Religionsfreiheit gelte nicht nur für christliche Kirchen, sagte Rau: "Sie gilt, auch wenn das manchen nicht immer ausreichend bewußt ist, auch für andere Religionsgemeinschaften und gewiß für den Islam." ... Die Debatte über das Kopftuch wäre einfacher, sagte Rau, wenn dieses ein eindeutiges Symbol wäre. "Das ist es aber nicht." In seiner Rede unter dem Titel "Religionsfreiheit heute - zum Verhältnis von Staat und Religion in Deutschland" erinnerte Rau daran, daß man sich stets bewußt sein müsse, daß es "das" Judentum so wenig gebe wie "den" Islam oder "das" Christentum. Die Menschen muslimischen Glaubens, die heute bei uns lebten, kämen aus ganz unterschiedlichen Ländern mit unterschiedlichen Traditionen und Wertvorstellungen. Das zeige sich auch in der Debatte über das Kopftuch, in der man nicht Pauschalurteilen aufsitzen sollte. Es gebe muslimische Frauen, die kein Kopftuch trügen, weil sie davon überzeugt seien, daß das nicht zu ihrem Glauben gehöre. Andere muslimische Frauen trügen ein Kopftuch, weil sie damit ihren Glauben öffentlich bezeugen wollen. Wieder andere muslimische Frauen werden durch mehr oder weniger Druck aus der Familie und ihrem Umfeld dazu gezwungen. "Und gewiß gibt es auch muslimische Frauen, die ein Kopftuch als Ausdruck ihrer fundamentalistischen religiös-politischen Haltung tragen." Weil das Kopftuch kein eindeutiges Symbol sei, müsse "in dieser Frage nach meiner festen Überzeugung der alte Grundsatz gelten: Der mögliche Mißbrauch einer Sache darf ihren Gebrauch nicht hindern". Rau verwies auf das Bundesverfassungsgericht und sein erstes Urteil zum Kopftuchstreit, in dem es heiße: "Der Aussagegehalt des von Musliminnen getragenen Kopftuchs wird höchst unterschiedlich wahrgenommen. Es kann ein Zeichen für als verpflichtend empfundene, religiös fundierte Bekleidungsregeln wie für Traditionen der Herkunftsgesellschaft sein. In jüngster Zeit wird in ihm verstärkt ein politisches Symbol des islamischen Fundamentalismus gesehen. Die Deutung des Kopftuchs kann jedoch nicht auf ein Zeichen gesellschaftlicher Unterdrückung der Frau verkürzt werden. Dies zeigen neuere Forschungsergebnisse. Junge muslimische Frauen wählen das Kopftuch auch frei, um ohne Bruch mit der Herkunftsgesellschaft ein selbstbestimmtes Leben zu führen."
Quelle:
Text: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23.01.2004, Nr. 19 / Seite 1

Und schließlich vor allem:
4.
Die Europäische Kommission selbst hat in ihrem "Jahresbericht über die Gleichbehandlung und Antidiskriminierung 2003 - Hin zur Vielfalt"
http://europa.eu.int/comm/employment_social/fundamental_rights/pdf/pubdocs/AnnualRep2003_de.pdf
auf Seite 8 zunächst den Begriff „Diskriminierung“ definiert:
„Sie liegt dann vor, wenn eine Person wegen ihrer Rassenzugehörigkeit oder ethnischen Herkunft, ihres Alters, ihrer Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung oder ihrer sexuellen Neigung eine weniger günstige Behandlung erfährt, „als eine andere Person erfährt, erfahren hat oder erfahren würde“.“
Und auf Seite 9 hat die Europäische Kommission bereits eine ähnliche verbotene Diskriminierung gebrandmarkt (dieses ist noch nicht einmal so krass wie es die Anti-Kopftuch-Gesetze sind), wo als Beispiel einer (nur) "mittelbaren Diskriminierung" beschrieben wird:
"Ein Kaufhaus führt eine Regel ein, nach der Angestellte im Umgang mit Kunden keine Kopfbedeckungen tragen dürfen. Dies hat zur Folge, dass Personen, deren Glauben ihnen eine Bedeckung des Kopfes vorschreibt, wie dies z. B. bei moslemischen Frauen der Fall ist, dort nicht mehr arbeiten können. Das Kaufhaus macht sich einer mittelbaren Diskriminierung schuldig, sofern es nicht nachweisen kann, dass ein sachlicher und gerechtfertigter Grund für dieses Verbot besteht."
Bei den Kopftuchverbot-Gesetzen kommt erschwerend hinzu, dass es sich dort sogar um eine so genannte "unmittelbare Diskriminierung" handelt, da sie ausdrücklich einseitig und extrem ungerecht (Kreuz: "Ja!" - Kopftuch: "Nein!") speziell gegen Frau Ludin und ihren ähnlich eingestellten Kopftuch tragenden Kolleginnen gerichtet sind!

Außerdem:
a) Alle Abgeordnete der Landtage, die für diese Anti-Kopftuch-Gesetze gestimmt haben, müssen damit rechnen, sich persönlich der Diskriminierung strafbar gemacht zu haben.
Die Begründung steht ebenfalls auf jener Seite 9, wo als ein Beispiel einer strafbaren "Anweisung zur Diskriminierung" genannt wird:
"Eine Zahnärztin, die ihrer Sprechstundenhilfe die Anweisung gibt, keine Patienten aus einem bestimmten Stadtteil aufzunehmen, in dem die Mehrheit der Bewohner einer ethnischen Minderheit angehört, macht sich genauso der Diskriminierung strafbar, als wenn sie diese Patienten selbst abgewiesen hätte."
b) Frau Ludin (u.ä.) steht ein "Recht auf Wiedergutmachung" zu, da Menschen, die diskriminiert worden sind, die Möglichkeit haben, "für das erfahrene Leid und eventuell entstandene finanzielle Verluste angemessen entschädigt zu werden." (Seite 13)

Ergänzung: „Für Vielfalt. Gegen Diskriminierung“
Die Europäische Kommission hat seit Juni 2003 eine fünfjährige, europaweite Informationskampagne zur Bekämpfung von Diskriminierung aufgrund von Rasse oder ethnischer Herkunft, Religion oder Weltanschauung, Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung gestartet.
Unter dem Motto „Für Vielfalt. Gegen Diskriminierung“ will die Kommission alle Bürgerinnen und Bürger der EU für die Problematik sensibilisieren und sie zugleich über die neuen Möglichkeiten aufklären, gegen verschiedenste Formen der Diskriminierung vorzugehen.
Schon im Jahre 2000 forderte eine EU-Richtlinie zur Gleichbehandlung ihre Mitgliedsländer auf, diese Richtlinie in nationales Recht überzuführen, wobei es auch darum geht festzuschreiben, dass niemand auf Grund seiner Weltanschauung benachteiligt werden darf. Viele europäische Länder haben bereits Antidiskriminierungsgesetze erlassen. Seltsamer- und skandalöserweise fehlen ausgerechnet im deutschen Recht bislang solche Bestimmungen (und das bei der Nazi-Vergangenheit!).
Als dann 2002 die rot-grüne Koalition solch ein längst überfälliges Gesetz in den Bundestag einbringen wollte, gab es heftigen Widerstand der Kirchen; und für mich unfassbar: ausgerechnet die große Volkspartei SPD, die vorgibt, besonders für soziale Gerechtigkeit einzutreten, kuschte vor den um ihre bisherigen (widerrechtlichen!) Bevorzugungen fürchtenden Kirchen - und trat den Rücktritt an.
Laut Presseerklärung der GRÜNEN wird sehr bedauert, dass das höchst wichtige und dringende Antidiskriminierungsgesetz (zumindest vorerst) nicht verabschiedet wird.
Grund: „Der Widerstand der Kirchen gegen ihre Einbeziehung in ein Verbot der Diskriminierung aufgrund der Religionszugehörigkeit veranlasste die SPD, auf eine Verabschiedung des Antidiskriminierungsgesetzes zu verzichten.“
Dabei wäre gerade nach dem Terroranschlag vom 11. September und des offenen und latenten Antisemitismus (laut Umfrage sogar bei 50% der Deutschen vorhanden!) ein Antidiskriminierungsgesetz „auch ein wirksames Instrument zur Bekämpfung von Antisemitismus und Antiislamismus“.

Es ist eine Schande für Deutschland, dass zunächst beim Verabschieden des Grundgesetzes auf massiven Druck der Kirchen hin trotz grundgesetzlichen Verbots von Bevorzugung irgendeiner Weltanschauung dennoch die Weltanschauung der Kirchen massiv bevorzugt wurde - und als dann nach einigen Jahrzehnten erst(!) versucht wurde, wenigstens zum Teil diese Ungleichbehandlung gesetzlich zu beseitigen, es wiederum den Kirchen gelang, mit Druck auf Politiker (die sich anscheinend leider nur formell allen Deutschen gleichermaßen verpflichtet fühlen) sich ihre immensen asozialen Bevorzugungen zu bewahren.

Reiner Moysich
(Diplom-Psychologe)
Wehlauer Str. 34
76139 Karlsruhe