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Aus dem Miteinander entsteht unser deutsches „Wir“


Gut acht Monate hatten die Männer und Frauen des Parlamentarischen Rates intensiv gearbeitet, um das Grundgesetz auszuarbeiten. Vor Augen hatten sie die Schwächen der Weimarer Republik, die die Diktatur des Nationalsozialismus nicht abwenden konnte. Die Mütter und Väter unserer Verfassung hatten den Zivilisationsbruch des Holocaust und den Zweiten Weltkrieg erlebt. Sie hatten ein Ziel: So etwas darf in unserem Land nie wieder passieren. Dafür sollte das Grundgesetz Garant sein. Es sollte die Grundlage sein für den Aufbau einer freiheitlichen, parlamentarischen Demokratie in Deutschland.

Von Anfang an waren sich die Ratsmitglieder einig, dass die Grundrechte eines jeden Menschen in unserem Land eine ganz andere, herausgehobene Stellung haben müssen. Deswegen wurden sie gleich am Anfang der Verfassung fest verankert. Der erste Artikel lautet: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ Die Menschenwürde ist unsere oberste Richtschnur, Leitbild für alle. Es ist und bleibt die Grundlage unseres Zusammenlebens, die Grundlage für unser deutsches „Wir“. Das müssen alle wissen und alle akzeptieren, die hier leben. Niemand darf in unserem Land andere Menschen bedrohen, angreifen oder töten. Weder aus Hass oder Verachtung, noch im Namen einer Ideologie, einer Religion oder eines fehlgeleiteten Ehrbegriffs.

Manch einer, dessen Familie schon seit Generationen in Deutschland lebt, meint, gerade diejenigen an unsere Verfassung erinnern zu müssen, deren Familien eine Zuwanderungsgeschichte haben, besonders wenn sie nicht im christlichen sondern zum Beispiel im muslimischen Glauben erzogen wurden. Es gibt in Deutschland Vorbehalte. Dazu möchte ich an ein anderes Grundrecht erinnern, das im dritten Absatz des Artikels drei des Grundgesetzes verankert ist: „Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.“ Auch dieses Grundrecht ist eine Konsequenz aus den menschenverachtenden Erfahrungen während der Zeit des Nationalsozialismus. Niemand darf in unserem Land wegen seines Glaubens benachteiligt werden. Die besondere Verantwortung, die aus dem Holocaust für jeden Deutschen und jede Deutsche erwächst, ist auch etwas, das zu unserem deutschen „Wir“ gehört.

Heute ist unser Deutschland weltoffen, vielfältig und wehrhaft. Es ist ein Land, in dem der Rechtsstaat und Sicherheit gewährleistet sind, Meinungsfreiheit und Schutz vor Diskriminierung gelten. Ein Land, in dem alle Menschen gleich sind vor dem Gesetz. In dem man zusammenleben kann als Gleiche und doch Verschiedene.

Die Demokratie, die die Verfasser des Grundgesetzes mit der Verfassung zugrunde gelegt haben, verlangt uns einiges ab. Aber sie ist die Ordnung des Zusammenlebens, die unserem Selbstverständnis von der gleichen Freiheit der Menschen am nächsten kommt. Sie ist Garant für Vielfalt. Vielfalt ist nicht nur schön und bereichernd, sondern bisweilen unbequem und anstrengend. Zuwanderung bringt auch Zumutungen mit sich: die einen müssen sich öffnen für Unvertrautes, die anderen sich einfinden in gewachsene Strukturen und Wertvorstellungen. Das sollten wir nicht verschweigen. Aber wie sähe Deutschland ohne Zuwanderung aus?

Was wir heute sind, haben wir alle miteinander geschaffen. Aus diesem Miteinander entsteht unser deutsches „Wir“. Für dies „Wir“ ist nicht entscheidend, woher jemand kommt, wie einer aussieht oder woran er oder sie glaubt. Entscheidend ist, dass wir einander respektieren, dass wir für unsere Demokratie eintreten und gemeinsam unser Land voranbringen wollen – auf dem Boden der geltenden Gesetze und auf Grund unserer gemeinsamen Wertvorstellungen, die im Grundgesetz definiert wurden. Integrationsverweigerer sind die, die ein solches „Wir“ bekämpfen und unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung ablehnen. Da spielt es keine Rolle, ob sie Migrationshintergrund haben oder nicht, ob sie jung sind oder alt, ob sie rechts- oder linksextremistisch sind.

Das Grundgesetz war im Hinblick auf die Wiedervereinigung eigentlich nur als Provisorium gedacht. Aber es hat sich bewährt – seit mehr als 60 Jahren. Ausruhen dürfen wir uns darauf nicht. Die Demokratie lebt vom Mitmachen, vom Engagement eines jeden Einzelnen auf allen möglichen Ebenen. Wir haben eine gemeinsame Zukunft, und die liegt in den Köpfen und Herzen der bei uns lebenden Menschen. Sie hängt davon ab, dass jeder und jede die eigenen Talente entfalten kann und will. Das Grundgesetzt bietet dafür die Grundlage. Erreichen können wir es nur, wenn wir alle gemeinsam jeden Tag erneut daran arbeiten.

Christian Wulff wurde am 19. Juni 1959 im niedersächsischen Osnabrück als zweites Kind von Rudolf und Dagmar Wulff geboren. Am Ernst-Moritz-Arndt-Gymnasium legte er das Abitur ab. Früh engagierte er sich als Schülersprecher, Studentenvertreter und in den Jugendverbänden Schüler Union und Junge Union.
Von 1980 bis 1986 studierte Christian Wulff Rechtswissenschaften mit wirtschaftswissenschaftlichem Schwerpunkt an der Universität Osnabrück. 1987 leistete er sein Referendarexamen in Hannover, danach sein Referendariat am Oberlandesgericht Oldenburg und legte 1990 sein Assessorenexamen in Hannover ab. 1990 trat er in eine Rechtsanwaltskanzlei ein.
1986 wurde Christian Wulff für die CDU Mitglied im Rat der Stadt Osnabrück, von 1989 bis 1994 war er deren Fraktionsvorsitzender. Er blieb Ratsmitglied bis 2001. 1994 wurde er in den niedersächsischen Landtag gewählt. Im März des Jahres wurde er Fraktionsvorsitzender, im Juni Landesvorsitzender seiner Partei in Niedersachsen. 1998 wurde Christian Wulff zu einem der stellvertretenden Bundesvorsitzenden der CDU gewählt.
Nach den Landtagswahlen 2003 wurde er am 4. März von den Abgeordneten des niedersächsischen Landtags zum Ministerpräsidenten gewählt und in dieser Position am 26. Februar 2008 bestätigt. Das Amt des Ministerpräsidenten hatte er bis zum 30. Juni 2010 inne, dem Tag der 14. Bundesversammlung. Die Bundesversammlung wählte Christian Wulff zum zehnten Präsidenten der Bundesrepublik Deutschland.
Am 17. Februar 2012 trat Christian Wulff von seinem Amt als Bundespräsident zurück.