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Samstag, 03.08.2013
Deutsche Sprache als Chance unserer Renaissance
Islam und Europa: Wie können wir Muslime Europa besser verstehen? Eine Momentaufnahme im Ramadan von Driss Tabaalite
Wir befinden uns im Fastenmonat Ramadan, und ich komme gerade von dem Nachtgebet (Tarawih) in einer albanischen Moschee. Schon als wir im Gebetsraum waren, sind mir diese Gedanken eingefallen, eigentlich auch schon lange vorher. Der Auslöser hierfür ist, dass wir in dieser Moschee aus den verschiedensten Herkunftsländern kommen; es gibt Albaner, Bosniaken, Perser, Ägypter, Palästinenser, Kosovaren...usw. Ich selbst komme aus Marokko, bin aber Nichtaraber, sondern Berber. Unsere gemeinsame Kommunikationssprache ist weder Albanisch noch Arabisch noch Persisch, sondern Deutsch - interessanterweise mit österreichischem Akzent, da viele von uns hier in Österreich geboren sind. Diese Beobachtung führte mich ins Mittelalter, nämlich in die Blütezeit der islamischen Zivilisation, als die Muslime weltweit von dem spanischen Andalusien über Marokko bis nach Indonesien und Indien das Arabische, als gemeinsame Sprache, benuzten. Damals haben die Muslime die Welt geändert, weil sie aus dem Islam ein neues fortgeschrittenes Lebens- und Gesellschaftskonzept entwickelt haben. Daher hat der Islam dank seiner Originalsprache aus der Vielfalt eine Einheit gemacht; Araber, Türken, Perser, Inder und Indonesier waren ethnisch und kulturell verschieden, aber durch diese Religion und das Arabische geeint. Man spricht in der islamischen Literatur vom Konzept der Umma (einer einzigen Gemeinschaft).
Heute ist es aber anders: Weder der Islam noch dessen Originalsprache scheinen heute die Muslime zu vereinen. Man denke hier an das, was überall in der islamischen Welt passiert, von Tunesien über Libyen und Ägypten, bis hin nach Syrien und darüber hinaus. Nun, abgesehen davon, wer an dieser Zerrissenheit und Abspaltung der Umma verantwortlich ist, eins ist klar: es scheint so, als gäbe es heutzutage nicht nur eine Interpretation des Islam, sondern mehrere; nicht mehr der eine Islam, der damals Jahrhunderte viele Ethnien und kulturell verschiedener Menschen einte! Wir haben mit vielen Auslegungen des Islam zu tun; jede Gruppe glaubt, dass sie den wahren Islam vertritt. Das ist heute das allergrößte Problem der Muslime. Obwohl sie alle weltweit den Ramadan einhalten und alle seit über tausend Jahren in dieselbe Richtung, nach Mekka beten und obwohl sie alle (Araber und Nichtaraber) den Koran 5-mal täglich beim Gebet auf Arabisch rezitieren, bleiben die Muslime größtenteils ungeeint. Wer die Situation der Muslime in der islamischen Welt sieht, stellt fest, dass sie sich in einer Situation der Orientierungslosigkeit befinden.
Im Gegensatz dazu geht es uns Muslimen in Europa gut. Unsere Brüder und Schwestern in der islamischen Welt beneiden uns um das hohe Sozialsystem, die Meinungs- und Religionsfreiheit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Wissenschaft und nicht zuletzt vor allem um den sozialen Frieden, den wir hier genießen.
Ja, in Europa können wir Muslime aus verschiedensten Ländern in der jeweiligen Sprache des Migrationslandes miteinander kommunizieren. Das kann unsere Identität nur stärken und uns von der Zerrissenheit schützen. Ich bin überzeugt, dass die so genannte Reform des Islam - eigentlich müsste man von der Reform der Muslime sprechen, da es ja die Muslime sind, die den Islam zerrissen haben - aus Europa beziehungsweise aus dem so genannten Westen kommen wird. Dies liegt ganz einfach und ohne anstrengende Analyse daran, dass wir hier in Europa über viele Errungenschaften der Entwicklung und des Fortschrittes verfügen, nämlich: Freiheit, Demokratie und Gerechtigkeit, auch wenn diese nicht immer idealerweise praktiziert wird. Ohne diese Errungenschaften gibt es und wird es keine Reform geben. Reform braucht eine gemeinsame Sprache, die wir alle verstehen - man denke hier an die lutherische Bibelübersetzung ins Deutsche, Sprache des gesamten Volkes - und die uns eint, nicht trennt. Denn es wird gesagt: In der Vereinigung liegt Stärke. Das ist genau das, was ich heute beobachtet habe, und zwar, dass wir in der Moschee verschieden, aber doch eins sind, wenn wir Deutsch als gemeinsame Sprache benutzen.
In diesem Sinne kann ich allen Muslimen in Europa nur ans Herz legen, sich voll mit dem Land und seiner Sprache, wo sie leben, zu identifizieren und diese Sprache zu lernen, nicht nur wegen des Interesses etwa an der Staatsbürgerschaft, sondern weil diese Sprache als Chance unserer Renaissance zu sehen ist. Als frohe Botschaft sind hier die Entstehung der Zentren für islamische Theologie in einigen europäischen Ländern etwa in Deutschland und Österreich zu erwähnen. Der Islam brauchte relativ lange, nämlich mehr als zwei Jahrzehnte, um sich in der arabischen Halbinsel zu verbreiten. Außerhalb dieses kulturell und sprachlich einheitlichen Milieus, wo verschiedene Kulturen und Sprachen waren, brauchte er aber wenige Jahrzehnte, um sich von Persien bis nach Andalusien zu verbreiten.
Wir hier in Europa befinden uns in der gleichen Situation wie damals die Menschen in Andalusien, wo verschiedene Kulturen und Religionen friedlich miteinander zusammenlebten. Es ist nur so, dass dieses Milieu, wo wir leben, uns noch nicht ganz bewusst ist. Würden wir Muslime Europa wie unsere Vorfahren in Andalusien verstehen, würden wir die Renaissance erleben!
Der Sprachwissenschaftler Driss Tabaalite ist gebürtiger Marokkaner (1976) und promovierte in Deutsche Philologie und Religionswissenschaft. Er lebt seit 2002 in Graz / Österreich.