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Freitag, 07.06.2013

Thomas Bauer: Die Kultur der Ambiguität – Eine andere Geschichte des Islams: Buchbesprechung von Mohammed Khallouk über diese hiesige Kultur der Ambiguität = Uneindeutigkeit

Im dominierenden medialen Diskurs unserer Tage wird dem Islam wie kaum einer anderen Weltreligion Intoleranz und Inflexibilität attestiert. Diese westliche Wahrnehmung des Islam beruhe, dem Arabisten und Islamwissenschaftler Thomas Bauer zufolge, auf der Dominanz des gleichen verengten Wahrheitsbegriffs in der westlichen Zivilisation, den Salafisten und neuzeitlich fundamentalistische Islamgelehrte besäßen. Es fehle eine Ambiguitätstoleranz, d.h. eine Offenheit gegenüber der Kontingenz mehrerer Bedeutungen und Diskurse zu einem Sachverhalt, die sich einander nicht ausschließen müssten und gleichermaßen Berechtigung besäßen.

In seinem Buch „Die Kultur der Ambiguität“ sucht Bauer nachzuweisen, dass die islamische Religion nach traditionellem Verständnis und darüber hinaus die historische arabische Kultur jene Mehrdeutigkeit gerade als Wesenszug kannte. Die Gefahr der Beliebigkeit sei dadurch gebannt gewesen, dass die verschiedenen kontingenten Bedeutungen einer Aussage sich nicht hätten gegenseitig widersprechen dürfen und permanent eine sogenannte Ambiguitätszähmung durch die Herausnahme nicht nachvollziehbarer Bedeutungen vorgenommen worden sei. Die Ambiguität als solche habe man nicht auszuschließen versucht und sich sogar immer wieder aufgeschlossen gegenüber neuen Anwendungen und Bedeutungen gezeigt.

Diese Ambiguität sucht der Autor im religiösen Heiligen Schrifttum, sowohl im Koran als auch den prophetischen Überlieferungen, ebenso zu belegen, wie auch in fast allen anderen, nicht primär religiösen Diskursen der arabischen Vormoderne, von der Medizin über die Literatur bis hin zur Sexualität. Sie habe sich auch nicht auf die frühislamische Epoche beschränkt, sondern sei bereits in den schriftlichen Erzeugnissen der präislamischen arabischen Kultur wahrzunehmen und bis in die osmanisch dominierte frühe Neuzeit hinein ein Wesenszug gewesen.

Erst der europäische Kolonialismus habe diese Ambiguität mit zivilisatorischer Rückständigkeit gleichgesetzt und bekämpft, denn die europäische Kultur sei, anders als die arabische Kultur, im Kern ambiguitätsfeindlich. Der moderne Rationalismus habe zudem für alle existenziellen Fragen eine einzige unbestreitbare Wahrheit gefordert. Jegliche, davon abweichenden Erklärungsmuster seien dementsprechend falsch oder irrational. Wenn nun im Westen heutzutage eine „Intoleranz der islamischen Kultur“ beklagt werde, sei diese eine Folge der Ambiguitätsfeindlichkeit der eigenen Kultur, jedoch weder Charakteristikum des Islam als Religion noch des islamisch geprägten Kulturkreises.

Arabischen Literaten hätten europäische Analysten im 19. Jahrhundert angesichts der sprachlichen Mehrdeutigkeit in ihren Werken sogar die Fähigkeit, sich mit modernem rationalem Denken zu arrangieren, grundsätzlich abgesprochen. Die Vorteile mehrerer Bedeutungen und Deutungsmöglichkeiten habe man im Abendland nicht nachvollziehen können und Fortschritt nur in der Disambiguität gesehen. Während der Orient eine Pluralität an Bedeutungen als Markenzeichen gekannt habe, sei im Okzident spätestens seit der Aufklärung eine Kultur der Ausschließung des Anderen und somit auch jeglicher „anderer“ Aussagemöglichkeiten entstanden, die sich nachfolgend aber auch in die Arabische Welt hinein ausgebreitet habe.

Wenn europäische Intellektuelle dem Islam und der arabischen Kultur gegenwärtig beispielweise vorhielten, gegenüber Erotik zwischen Individuen gleichen Geschlechts zurückweisend zu reagieren, betrachteten sie lediglich die gesellschaftliche Gegenwart und ignorierten das disambiguierende Verständnis von Liebe und Sexualität des viktorianischen Zeitalters, welches schließlich auch in den muslimisch geprägten ehemaligen britischen Kolonien seine Spuren hinterlassen habe. Dort sei es jedoch erst zu einem Zeitpunkt zur Dominanz gelangt, zu dem die Ausgangszivilisation sich bereits davon distanziert habe.

Letztlich kritisiert Bauer die Verengung des westlichen Diskurses über den Islam als Kulturkreis auf den Islam als Religion. Hierbei blende man die bedeutende profane Kulturleistung der arabischen, persischen und türkisch-osmanischen Historie aus, die zum großen Teil sogar auf tiefgläubige Muslime zurückgehe, welche zu ihrem Glauben jedoch angesichts ambiguer Denkweise darin kein Gegensatz gesehen hätten.

Das Buch hebt sich wohltuend von der Majorität neuzeitlicher westlicher Literatur über den Islam und die orientalische Kultur ab, da es sich nicht auf gegenwärtig zu beobachtende, kritikwürdigend erachtete Phänomene beschränkt, sondern im Gegenteil die Jahrhunderte lange Aufgeschlossenheit und in gewisser Weise sogar Fortschrittlichkeit des Morgenlandes betont und für tatsächlich beobachtete Regressionen dem Westen seine entscheidende Mitverantwortung aufzeigt.

Ein wenig reduziert erscheint allerdings der Blick auf die europäische Historie, bei der die Dominanz des christlich Theologischen über andere Diskurse vermutlich auch nicht die Dimension hatte, die ihr von kritischen Historikern wie offenbar auch Bauer nicht selten nachgesagt wird. Anderenfalls hätten die Europäer die vorgefundenen Gedanken und Erzeugnisse arabischer Philosophen und Naturwissenschaftler nicht in so kurzer Zeit in eigene Innovationen hineinsetzen können. Das Nebeneinander von rationaler profaner Wissenschaft und tiefgründiger Religiosität existierte in Europa bis in die Neuzeit hinein ebenfalls. Bedeutende abendländische wissenschaftliche Pioniere wie Isaac Newton und Louis Pasteur zeichneten sich ebenfalls durch Frömmigkeit aus, ließen ihre rationale wissenschaftliche Erkenntnissuche dadurch aber nicht beeinträchtigen.

Wenn es den Europäern gelingt, die Ambiguität der arabisch-islamischen Kultur, die auch in der Gegenwart noch nicht vollständig ausgelöscht worden ist, wieder verstärkt wahrzunehmen, als Bereicherung anzuerkennen und darüber hinaus zu erkennen, dass Ambiguität nicht nur im Orient, sondern auch im Okzident in der Historie zum humanen Fortschritt beigetragen hat, besteht die Perspektive für eine erneute „Kultur der Ambiguität“ in der Postmoderne, die einem Miteinander der Zivilisationen im Sinne des Fortschritts den Weg ebnet. Bauers historische Betrachtung vormoderner islamischer Ambiguität könnte hierzu den Orientierungspfeil setzen.

Thomas Bauer: Die Kultur der Ambiguität – Eine andere Geschichte des Islams
Verlag der Weltreligionen, Berlin 2011