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Sonntag, 21.04.2013
Ab in den „Gottesstaat“?
Ägyptens neue islamisch geprägte Verfassung ist besser als ihr Ruf. Von Kai Hafez
In der Debatte über die ägyptische Politik werden viele Dinge verwechselt. Der Regierung Mursi wird vorgeworfen, mit der demokratischen Revolution zu brechen und einen islamistischen Gottesstaat einführen zu wollen. Aber beabsichtigen die Muslimbrüder das wirklich? Die viel kritisierte neue Verfassung, der die Ägypter in einem Referendum zugestimmt haben, ist im Kern republikanisch und kein Modell einer religiösen Diktatur nach iranischem Vorbild. Sie entspricht allerdings nicht in allen Punkten dem Ideal einer säkularen und liberalen Demokratie. Doch auch im Westen haben sich diese Werte erst langsam durchgesetzt. Die Debatte über die Entwicklung Ägyptens gehört versachlicht. Sie sollte sich auf die Frage der politischen Freiheiten konzentrieren.
Die von Mursi durchgesetzte Verfassung bekennt sich ausdrücklich zur freien Religionsausübung für Minderheiten wie die christliche Bevölkerung. Allerdings verankert sie auch den Islam als Staatsreligion. Der Prophet - wie auch die Propheten anderer Religionen - dürfen nicht 'beleidigt' werden. Die Verfassung beraubt andere Religionen also nicht ihrer Menschenrechte. 'Staatsreligion' bedeutet, dass der Islam im öffentlichen Raum bevorzugt wird, beispielsweise bei den staatlichen Symbolen oder im Schulunterricht. Eine solche Regelung aber besaß aber auch Norwegen bis 2012. Gleiche Rechte von Muslimen und Christen sind zum Beispiel im Schulunterricht in Deutschland bis heute nicht gegeben. Auch Alkoholverbote - noch ist offen, ob sie in Ägypten überhaupt eingeführt werden - hat es noch im 20. Jahrhundert in Ländern wie den USA und Schweden gegeben. Und die einzige andere Demokratie des Nahen Ostens, Israel, ist ganz offiziell ein 'jüdischer Staat'.
Natürlich sind derart religiös gefärbte Demokratien aus unserer heutigen Sicht rückständig. Gesellschaften, die gerade die rechtliche Gleichstellung von Homosexuellen debattieren, empfinden halb-liberale Demokratien als Ausdruck dessen, was sie selber gerade mühsam überwunden haben. Und dass das säkulare Drittel der ägyptischen Wähler eine rasche Durchsetzung gleicher Gruppenrechte fordert, ist nur allzu verständlich.
Staatsrechtler wissen aber, dass das Verhältnis von liberalen Gleichheitsrechten und Demokratie heikel ist. Die Demokratie neigt dazu, wie Alexis de Tocqueville es ausdrückte, eine 'Diktatur der Mehrheit' zu sein. Zwar garantieren die demokratischen Verfassungen heute die Menschenrechte, aber die auf dem Mehrheitsprinzip basierenden Gesetzgebungsverfahren der Demokratie führen oft dazu, dass Minderheiten nicht immer gleichgestellt werden. Die heutige ägyptische Verfassung ist ein typisches Produkt einer solchen frühen Demokratie. Die Minderheiten haben zwar Rechte in der Privatsphäre, die (muslimische) Mehrheit beansprucht aber Hegemonie im öffentlichen und staatlichen Raum. Uns erscheint das rückständig. Für den Nahen Osten ist das aber nach Jahrtausenden der Despotie ein wichtiger Schritt.
Die meisten Ägypter haben zwar genug von Diktatur und Willkürherrschaft - sie sind aber auch überwiegend wertkonservativ; sie wollen Demokratie und Islam. Die mangelnde Toleranz in Religionsfragen ist eine Reaktion auf die Verunsicherung der Gesellschaft in Krisenzeiten.
Säkulare Ägypter können sich heute damit trösten, dass es in solchen sich entwickelnden Demokratien einen Mechanismus in Richtung mehr Liberalität und rechtlicher Gleichheit gibt. Und so könnte aus der islamistischen eines Tages eine säkulare Hegemonie werden. Auch die amerikanische Verfassung hat sich im Laufe der Zeit durch Verfassungszusätze (amendments) weiterentwickelt. Ägypten könnte eine solche Amendment-Demokratie werden, vorausgesetzt allerdings, die drei Grundbestandteile einer jeden Demokratie bleiben intakt: Wahlfreiheit, Versammlungsfreiheit und Meinungsfreiheit.
Die Haltung der Muslimbruderschaft zur Demokratie gilt als zwiespältig. Allerdings erfüllt die neue Verfassung auf den ersten Blick alle Voraussetzungen für eine Demokratie. Sie garantiert unter anderem Volkssouveränität, Republikanismus, Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit, Vereinsfreiheit und Gewerkschaftsbildung. Es gibt dort ein Folterverbot und eine Habeas-Corpus-Regelung - niemand darf ohne Anklage auf unbestimmte Zeit in Haft. Und es sind sogar Rechte verbrieft, um die man die Ägypter im Westen beneiden könnte, zum Beispiel die Sozialverpflichtung des Landbesitzes.
Bei näherer Betrachtung gibt es allerdings auch Defizite im Kernbereich der Demokratie. Während Wahl- und Versammlungsfreiheit in Ägypten mit seinen vielen Wahlen und Parteien gesichert erscheint, steht es um die Meinungs- und Pressefreiheit nicht zum Besten. Sie wird in der neuen Verfassung im Artikel 48 zwar allgemein garantiert, Artikel 47 schreibt die Informationsfreiheit fest. Zensur ist in Kriegszeiten erlaubt - aber auch in Fällen der 'öffentlichen Mobilisierung'.
Hier nun wird es schwammig, und es geht auch schwammig weiter. Der Staat, so heißt es in der Verfassung, soll den Mediensektor regulieren; der dazu auserkorene 'Nationale Medienrat' hat keine klare Zusammensetzung. Er soll aber dafür sorgen, dass die Medien 'Werte und konstruktive Traditionen der Gesellschaft achten'. Die Unabhängigkeit der staatlichen Medien wird nicht erwähnt.
Solche Formulierungen und Leerstellen öffnen staatlichen Eingriffen in die eigentlich verbriefte Meinungs- und Medienfreiheit Tür und Tor. Die Unesco und andere Akteure fordern daher zu Recht in diesem Bereich umfassende Reformen in Ägypten. Noch aus der Mubarak-Zeit stammende Mediengesetze müssen abgeschafft werden, ebenso die Lizenzierung, die ein rein technischer Vorgang sein sollte. Das System der journalistischen Selbstregulierung muss erneuert und die Staatsmedien in die Unabhängigkeit entlassen werden. Wie seinerzeit die USA braucht Ägypten ein 'First Amendment' zur Verfassung, das die Meinungsfreiheit klarer als bisher regelt.
Solange die individuellen Menschenrechte und die politischen Freiheiten der Wahl, Versammlung und Meinungsäußerung erhalten bleiben, ist eine Demokratie offen für Veränderungen. Es sollte also nicht um die Abschaffung der islamisch gefärbten Verfassung Ägyptens gehen, sondern darum, diese wirklich ernst zu nehmen. Mursi muss die Verfassung nachbessern - die Opposition muss aber auch Mursi respektieren. Nicht die Abschaffung der Verfassung, sondern die Umsetzung der in ihr versprochenen Freiheitsrechte ist heute der Kern berechtigter Forderungen an die Regierung.
(Erstveröffentlichgung in der Süddeutschen Zeitung vom 15.04.13 mit freundlicher Genehmigung des Autors, Hochschulprofessor (Erfurt) und Medienexperten Kai Hafez)