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Leserbriefe

Dienstag, 07.10.2003



Katja T.: “Neutral” verhält sich wer kein Kopftuch trägt?! schrieb:


Die öffentliche Diskussion um das Kopftuch scheint sich in Deutschland zu einem perpetuum mobile zu entwickeln. Die von Kopftuchgegnern wie –befürwortern langerwartete, ja geradezu herbeigesehnte Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts hat keine Klarheit gebracht. Das Gericht hat entschieden, dass es nicht entscheidet und hierfür bereits von vielen Seiten herbe Kritik, ja sogar den Vorwurf der Feigheit ertragen müssen. Doch auch die bereits von vielen Bundesländern angekündigten Gesetze zu religiösen Symbolen in öffentlichen Einrichtungen werden früher oder später vor dem Bundesverfassungsgericht landen. Vielleicht vor anderen Richtern, vielleicht unter anderen politischen Vorzeichen. Bis dahin wird das Thema Kopftuch weiterhin die Gemüter erregen und mit grosser Wahrscheinlichkeit als Wahlkapfthema herhalten müssen. Darüberhinaus sind die kopftuchtragenden Lehrerinnen nur die Vorhut einer jungen Generation gebildeter muslimischer Frauen, die ihr Fachwissen in die Gesellschaft einbringen möchten. Muslimische Richterinnen, Staatsanwältinnen und Polizistinnen werden nicht lange auf sich warten lassen.

Dreh- und Angelpunkt der Diskussion ist das Stichwort der Neutralität. Die Bundesrepublik Deutschland versteht sich als freiheitlicher säkularer Rechtsstaat mit der Pflicht zu religiös-weltanschaulicher Neutralität. Dies bedeutet entgegen einer weit verbreiteten Auffassung nicht, dass Religion im öffentlichen Leben keinen Platz habe. Anders als die türkische oder französische Variante des Laizismus, die jegliches religiöse Leben aus der Öffentlichkeit zu verbannen suchet, besteht der deutsche Säkularismus in der institutionellen Trennung von Religionsgemeinschaften und Staat. Staatskirche und Privilegierung bestimmter Bekenntnisse sind ausgeschlossen. Dennoch betont das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil die Offenheit des Staates gegenüber der Vielfalt weltanschaulicher Überzeugungen und dessen Ziel, die Glaubensfreiheit für alle Bekenntnisse gleichermassen zu fördern.

Folge der Neutralität ist die Pflicht eines Lehrers, seine Aufgabe unter Wahrung strikter weltanschaulich-religiöser Neutralität wahrzunehmen. Doch diese verkommt im öffentlichen Diskurs –anders als im differenzierteren Urteil des Bundesverfassungsgerichts- zu einer reinen Äusserlichkeit, messbar an einem kleinen Stück Stoff. “Neutral” verhält sich –so die einfache Formel- wer kein Kopftuch trägt. Entscheidend ist nicht die Einstellung oder das konkrete Verhalten einer Person, sondern ihr äusseres Erscheinungsbild. Doch auch die “westliche” Kleidung ist keineswegs neutral, sie ist ebensosehr Ausdruck einer bestimmten – in diesem Fall areligiösen- Gesinnung, wie es die Kleidung eines religiösen Muslim, Christen, Juden, Sikh etc. ist. Ein Mensch kann nicht neutral sein, er kann sich lediglich anderen gegenüber neutral verhalten. Von einem Lehrer kann verlangt werden, alle Schüler gleich zu behandeln und von religiösen und politischen Themen Abstand zu nehmen. Ist es aber sinnvoll, ihn zur Verleugnung seiner Identität zu nötigen, um den Kindern eine nicht existente weltanschaulich homogene Gesellschaft vorzuspielen? Schadet es Kindern wirklich, mit der Tatsache konfrontiert zu werden, dass nicht alle Menschen denselben Glauben haben und dass auch Menschen anderen Glaubens, anderer ethnischer Herkunft Autoritätspersonen sein können? Oder ist dies nicht gleichzeitig die die Voraussetzung und die logische Kosequenz einer funktionierenden multikulturellen Gesellschaft?

Das Bundesverfassungsgericht hat es den Ländern anheimgestellt, Gesetze zu erlassen, welche die Einbringung religiöser Symbole in den Unterricht regeln. Dabei werden Praktikabilität und Durchsetzbarkeit solcher Gesetze offenbar überschätzt. Ein reines "Kopftuchverbot" ist aus Gleichheitsgründen nicht denkbar. Die Konsequenzen eines allgemeinen Verbots religiöser Symbole wären absurd: Ein Sikh müsste sich die Haare schneiden und den Bart abrasieren, um Lehrer zu werden, ein männlicher Muslim dürfte keinen Bart tragen, eine muslimische Lehrerin müsste im Sommer zwangsweise einen Minirock tragen, da eine lange Hose genauso Ausdruck ihrer religiösen Haltung ist, wie ein Kopftuch.

Das Kopftuch scheint jedoch noch mehr Symbolgehalt zu besitzten. Über der ganzen Diskussion steht die Frage nach der Zukunft des deutschen Staates. Ist die Gesellschaft bereit, sich zu öffnen und den nicht mehr wegzudenkenden Menschen anderer Herkunft ihren Platz als gleichberechtigte deutsche Staatsbürger einzuräumen? Oder wird man weiterhin versuchen, sie als Deutsche zweiter Klasse zu behandeln, denen man grosszügig Rechte gewährt, die man aber bezeiten in ihre Schranken verweist, wenn sie ihren Platz in der Gesellschaft geltend machen wollen?

Katja Tupak