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Leserbriefe

Donnerstag, 02.10.2003



Selma Gümüs: "Man hat das Gefühl zu ersticken" schrieb:


WAZ Bergkamen. Der Wind um das Kopftuch-Urteil aus Karlsruhe fegt im kleinen Bergkamen eine Kündigung vom Tisch. Die muslimische Erzieherin Selma Gümüs darf wieder im Kindergarten arbeiten. Mit Kopftuch, mit Genehmigung der Stadt, wohl aber ohne deren Segen.
Wenn Selma Gümüs Roland Schäfer begegnen würde in diesen Tagen, sie würde den Blick nicht senken, wie es sich vielleicht gehört für eine gläubige Muslimin. Sie würde ihm in die Augen sehen und "danke" sagen: "Danke, Herr Bürgermeister, Sie haben mich reif gemacht und selbstbewusst, und ich bin nicht zusammengebrochen." Selma Gümüs hat persönlich genommen, was als "Kopftuch-Streit von Bergkamen" durch die deutsche Presse ging: Die Stadt hatte der Erzieherin im Sommer 2002 fristlos gekündigt.
Nun hatte sie das nicht einfach so getan: Zwei Abmahnungen bekam die junge Frau zur Warnung, viele Gespräche wurden geführt. Mit immer demselben Ergebnis - das Kopftuch blieb. Selma Gümüs setzte es nicht wieder ab.
Dabei hatte die Muslimin es jahrelang gar nicht getragen. War ausgebildet worden, war in den Dienst der Stadt getreten, hatte gute Zeugnisse bekommen überall. Doch dann, nach ihrer Heirat, erschien sie verändert im Kindergarten "Sprösslinge", ein Tuch fest um das Haar gewunden, eine schwarze Haube darunter. "Der Wunsch war immer da", sagte Selma Gümüs, der Koran verlange von einer Frau, sich zu bedecken. Soll sie, sagte die Stadt, aber bitte nicht vor den Kindern.
Man berief sich, wie andere öffentliche Arbeitgeber auch, auf die Religionsfreiheit, auf die gesetzlich festgelegte Neutralität in Erziehungseinrichtungen. "Nur ein Tuch", sagten die meisten Eltern, die das Stückchen Stoff als Folklore verstanden und auf die Straße gingen für die Kindergärterin.
"Leider umsonst, diese ganze Mühe", dachte Selma Gümüs damals - dankbar, aber hoffnungslos. Denn die Stadtverwaltung beharrte auf ihrer Sicht der Dinge, auch, als das Dortmunder Arbeitsgericht der Klägerin Recht gab. Für Bürgermeister Roland Schäfer blieb das Kopftuch, Beamtenrecht hin oder her, "Zeichen eines Menschenbildes, das uns nicht gefällt". Also ging die Kommune in die Berufung, die Erzieherin wurde beurlaubt; bei vollen Bezügen, bis zum Urteil.
Das aber ließ auf sich warten, weil die Richter warteten: Erst sollten die Kollegen vom Bundesverfassungsgericht im Fall Ludin entscheiden. Als die nun nicht klar ja sagten, aber auch nicht klar nein, sah Schäfer "keine Chance mehr zu gewinnen".
Einen "Prozess um des Prozesses willen" wollte er nicht führen. Man zog die Berufung zurück, also darf Selma Gümüs wieder arbeiten.
Nun wird Bürgermeister Schäfer von manchem Bürger der Schwäche geziehen, weil er nachgab - er gibt aber nicht auf. Er fordert von der Landesregierung ein Gesetz: "Religi-öse Symbole haben in öffentlichen Erziehungseinrichtungen nichts zu suchen." Kein Kopftuch, keine Burka, "das wäre ja nun auch möglich". Kein großes Kreuz um den Hals. "Und schon gar nicht ein Sticker ,Jesus rettet´."
Selma Gümüs indes mag ihren Sieg auch nicht feiern. "Ist ja nett", sagte sie, als sie von der WAZ vom Sinneswandel ihres Arbeitgebers erfuhr. Doch die 29-Jährige ist verletzt, hat an sich selbst gezweifelt, "so darf man mit Menschen nicht umgehen". Ein Jahr lang war sie daheim, "man hat das Gefühl zu ersticken". Und dann die Kinder: "Wenn sie Maschinen wären, es wäre vielleicht einfacher. Aber ich hatte sie immer vor Augen, die Kleinen mit ihren Problemen, die einen brauchen." Noch steht nicht fest, welcher der drei städtischen Kindergärten sie einstellt, aber Selma Gümüs ahnt: "Das wird nicht mehr wie früher."
Zumal: Ihre Stelle war ohnehin befristet bis zum Frühling 2005. Und Selma Gümüs macht sich keine Illusionen: "Die Stadt wird froh sein, wenn sie mich los wird. Für die bin ich ein rotes Tuch. Leider."
01.10.2003 Von Annika Fischer