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Parteien in der politischen Willensbildung



Gerne komme ich der Bitte nach, einen Beitrag für die Reihe Das Grundgesetz im (Migrations)-Vordergrund zu verfassen, der sich mit dem Thema Parteien in der Verfassung auseinandersetzt und auch die Frage nach einer nur "homöopathischen Vertretung von Muslimen" in den deutschen Parteien aufwirft.

Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus

Die Antwort auf die Frage nach den Parteien in der Verfassung nimmt sinnvollerweise ihren Ausgang von einem Blick in die relevanten Passagen im Grundgesetz. Ganz zentral ist der Satz: Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus (Artikel 20 Absatz 2 Satz 1 GG). Volk meint hier die Gesamtheit der Bürgerrinnen und Bürger. Sie meint nicht einzelne Personen oder Gruppen, die behaupten, sie wüssten, was für alle das Richtige, Wahre und Beste ist. Zwar ist eine solche Behauptung von Einzelnen und Gruppen im Rahmen des Rechts auf Interpretationen und Interessenvertretungen legitim, dennoch wird sie vom Recht der anderen eingegrenzt und relativiert.

Hier liegt auch schon eine wichtige Unterscheidung für unsere Debatte. Wenn Dr. Hofmann in seinen Anmerkungen zu Art. 4 meint, genau zu wissen, was „muslimische Frauen möchten“, ist das vom Recht auf Meinungsfreiheit im Grundgesetz gedeckt. Das Grundgesetz schützt diese Behauptung (Meinungsfreiheit: Artikel 5 GG) und es schützt auch den Islam als eine Religion oder Glaubensrichtung (Religionsfreiheit: Artikel 4 GG). Aber angesichts der Vielzahl der - geschützten - Meinungen und Glaubenseinstellungen von unterschiedlichen Menschen, Gruppen und Binnengruppierungen (auch innerhalb des Islam), kann es sie nicht in dem Sinne anerkennen, dass sich Einzelne - und mögen sie auch noch so fest der Meinung sein, sie seien im Besitz der Wahrheit - an die Stelle des Volkes setzen.

Wenn es aber eine geschützte Vielzahl der Meinungen gibt und Einzelne nicht einfach die Stelle des Volkes als Souverän usurpieren dürfen, wie kann dann der verfassungsmäßige Anspruch, dass alle Staatsgewalt vom Volke ausgehen soll, gewährleistet werden? Wie kann aus der Vielzahl der Stimmen im "Volk" überhaupt ein erkennbarer Wille entstehen? Und wie soll das "Volk" seinen Willen sagen bzw. zum Ausdruck bringen?


Politische Willensbildung

Politische Willensbildung ist ein komplexer Prozess, an dessen Ausgangspunkt all die unterschiedlichen Interessen und Bedürfnisse der Menschen stehen. In der Vielzahl der Meinungen und Bedürfnisse positionieren sich die Parteien. Das Grundgesetz gibt in Artikel 21 Absatz 1 GG den Hinweis: „Die Parteien wirken bei der Willensbildung des Volkes mit.“ Damit ist die primäre Funktion der Parteien bestimmt. Wer etwas beeinflussen will, kann sich mit anderen zusammenschließen, damit seine Meinung gehört wird. Das können Menschen tun, indem sie sich mit anderen gemeinsam versammeln oder eine Demonstration durchführen. Sie können sich auch in einer Partei zusammenschließen. Die Mitwirkung der Parteien an der politischen Willensbildung hebt das Grundgesetz in Artikel 21 wie folgt hervor:

(1) Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit. Ihre Gründung ist frei. Ihre innere Ordnung muss demokratischen Grundsätzen entsprechen. Sie müssen über die Herkunft und Verwendung ihrer Mittel sowie über ihr Vermögen öffentlich Rechenschaft geben.

(2) Parteien, die nach ihren Zielen oder nach dem Verhalten ihrer Anhänger darauf ausgehen, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen oder zu beseitigen oder den Bestand der Bundesrepublik Deutschland zu gefährden, sind verfassungswidrig. Über die Frage der Verfassungswidrigkeit entscheidet das Bundesverfassungsgericht.

(3) Das Nähere regeln Bundesgesetze.

Parteien decken die verschiedensten Interessenslagen ab und legen ihre politischen Ideen und Ziele sowie Wege zu deren Umsetzung in ihren Parteiprogrammen fest. Dabei haben sie auch die Aufgabe, ihre Ziele verständlich darzulegen, damit Bürgerinnen und Bürger die Möglichkeit erhalten, ihren politischen Willen zu bilden. Dies ist sozusagen die erste Stufe in der Konkretisierung der politischen Willensbildung.

Auf einer zweiten Stufe ist dann der Souverän mit seinem Entscheidungs- und Wahlrecht an der Reihe. Die Frage nach dem Ausdruck des Willens beantwortet das Grundgesetz mit „Wahlen [von Personen] und Abstimmungen [über Sachentscheidungen, wie bei Volksentscheiden]“. Bei Wahlen haben Bürgerinnen und Bürger die Möglichkeit, KandidatInnen und Parteien, von denen sie sich am meisten vertreten fühlen, ihre Stimme zu geben.

Das Bundesverfassungsgericht hat die unterschiedlichen Aufgaben der Parteien in einem seiner Urteile beschrieben und dabei gerade auch den Aspekt der diskursiven Willensbildung neben dem eigentlichen Wahlakt hervorgehoben:

„Die Parteien sind [...] nicht bloße Wahlvorbereitungsorganisationen und nicht nur in dieser Funktion sind sie für die demokratische Ordnung unerlässlich. Sie sind vornehmlich berufen, die Bürger freiwillig zu politischen Handlungseinheiten mit dem Ziel der Beteiligung an der Willensbildung […] organisatorisch zusammenzuschließen und ihnen so einen wirksamen Einfluss auf das staatliche Geschehen zu ermöglichen. Den Parteien obliegt es, politische Ziele zu formulieren und diese den Bürgern zu vermitteln sowie daran mitzuwirken, dass die Gesellschaft wie auch den einzelnen Bürger betreffende Probleme erkannt, benannt und angemessenen Lösungen zugeführt werden. Die für den Prozess der politischen Willensbildung im demokratischen Staat entscheidende Rückkoppelung zwischen Staatsorganen und dem Volk ist auch Sache der Parteien. Sie erschöpft sich nicht nur in dem nur in Abständen wiederkehrenden Akt der Wahl des Parlaments. Willensbildung des Volkes und Willensbildung in den Staatsorganen vollziehen sich in vielfältiger und tagtäglicher, von den Parteien mit geformter Wechselwirkung.“


Wer mitmachen darf

Von Entscheidungen des Bundestages als gewähltem Parlament sind alle Menschen betroffen, die in Deutschland leben. Dies ist ein Grund dafür, dass alle Menschen unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit Meinungsfreiheit genießen (Artikel 5 GG) und das Demonstrationsrecht haben (Artikel 11 der Europäischen Menschenrechtskonvention) und sich in Vereinigungen zusammen schließen dürfen (gleichfalls Artikel 11 der Europäischen Menschenrechtskonvention). Es liegt deshalb nahe, dass alle Menschen, die in Deutschland leben unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit auch in politischen Parteien mitwirken können.

Allgemein sind aber die Parteien frei, selbst darüber zu entscheiden, ob in ihrer Organisation Ausländer im Sinne des Staatsangehörigkeitsrechts mitmachen dürfen. Die Parteien haben hierzu unterschiedliche Regelungen getroffen (über die aktuellen Regelungen sollte man sich bei der jeweiligen Partei informieren). Bei Bündnis 90/Die Grünen kann jede/r Mitglied werden, die/der in Deutschland einen Wohnsitz hat. Der Besitz der deutschen Staatsbürgerschaft ist keine Voraussetzung der Mitgliedschaft. Das ist aus unserer Sicht eine wichtige Möglichkeit, um am politischen Leben und den politischen Debatten zu partizipieren.
Die Frage danach, warum einige Parteien ausländische Staatsangehörige von der Mitgliedschaft ausschließen dürfen, obwohl die in Deutschland lebenden "Ausländer" über Grundrechte verfügen, führt zurück auf die oben angesprochenen Grundfragen, wer das Volk ist, von dem alle Staatsgewalt ausgeht. Wir Grüne sind hier der Auffassung, dass es dem Gesetzgeber frei steht, in das (Wahl-)Volk auch diejenigen einzubeziehen, die in Deutschland leben, aber nicht die deutsche Staatsangehörigkeit haben. Denn es birgt große Gefahren für eine Demokratie, wenn Menschen, die lange im Land leben, nicht mitwirken und teilhaben können.

Das Bundesverfassungsgericht hat diese Frage jedoch bisher anders beantwortet: Staatsvolk meint danach nicht alle Einwohner des Staatsgebietes, sondern nur diejenigen, die die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen. Nur Deutsche in diesem Sinne dürfen grundsätzlich an Wahlen teilnehmen. Aus diesem Grunde sind die Parteien frei, über die Frage der Aufnahme von "Ausländern" – auch negativ - zu entscheiden. Aus meiner Sicht ist dieses Urteil des Bundesverfassungsgerichts im Lichte eines veralteten Verständnisses von Grund- und Bürgerrechten zustande gekommen. Es wird den Entwicklungen im Bereich der demokratischen Rechte nicht mehr gerecht.

Allein die Tatsache, dass gemäß dem geltenden Europarecht jeder Unionsbürger mit Wohnsitz in einem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit er nicht besitzt, das Wahlrecht bei Kommunalwahlen besitzt, belegt diesen materiellen Fortschritt im Demokratiebereich. Folgerichtig im Sinne der Weiterentwicklung und Modernisierung von demokratischen Rechten wäre es, das kommunale Ausländerwahlrecht auf all diejenigen auszudehnen, die zwar nicht Unionsbürger sind, aber schon lange in Deutschland leben und ihren Lebensmittelpunkt hier haben. Denn Integration bzw. Partizipation ist doch viel mehr als die bloße Konsequenz einer Einbürgerung. Sie beginnt viel früher, unter anderem auch dort, wo "Ausländer" die Möglichkeit erhalten, an gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen teilzuhaben und auch mit zu entscheiden. Das würde wiederum das Interesse und die Beteiligung am politischen Prozess steigern, hätte also einen sich selbst verstärkenden positiven Effekt.

Uns ist bewusst, dass es beim kommunalen Ausländerwahlrecht um eine komplizierte Materie geht. Um ein Wahlrecht für alle Ausländer auf kommunaler Ebene einzuführen, bedürfte es einer Änderung des Grundgesetzes und damit einer Zustimmung des Bundestages und des Bundesrates mit jeweils einer Mehrheit von mehr als zwei Dritteln aller Mitglieder. Angesichts der Entwicklungen des Rechts und der neuen Debatten im Bereich Demokratie und Bürgerrechte lohnt sich der Einsatz für eine solche Verfassungsänderung.
Selbstverständlich müssen wir auch allen Versuchen energisch entgegentreten, die demokratischen Rechte von Menschen mit Hinweisen auf ihre ethnische oder religiöse Herkunft in Abrede stellen oder einschränken zu wollen. Denn nach einer Einbürgerung steht allen der Weg zu sämtlichen Ämtern offen. So wurden bei der Bundestagswahl 2009 fünf türkischstämmige Abgeordnete in den Bundestag gewählt. Sevim Dagdelen (Die Linke, MdB seit 2005), Ekin Deligöz (Bündnis 90/Die Grünen; MdB seit 1998), Memet Kiliç (Bündnis 90/Die Grünen; MdB seit 2009), Aydan Özoguz (SPD; MdB seit 2009) und Serkan Tören (FDP; MdB seit 2009). Selbst in der CDU (der Christlich-Demokratischen Union) sind mittlerweile Muslime anzutreffen, wie etwa die seit 2010 amtierende niedersächsische Ministerin Aygül Özkan.


Parteienpluralismus

Einige Vertreter islamischer Verbände in Deutschland stellen die These auf, dass „Muslime Parteien als Vertreter bestimmter gesellschaftlicher Interessen wahrnehmen und nicht des gesamtgesellschaftlichen Wohls“. Darin sehen sie den Grund für den nur geringen Anteil von muslimischen Mitgliedern in den Parteien. Für mich liegt hier ein doppelter Denkfehler.

Einmal sollte man nicht erwarten, dass Menschen muslimischen Glaubens ihre Interessen nur in einer einzigen Partei vertreten und artikulieren können. Das würde auch dem demokratischen Grundgedanken widersprechen, wonach jede Person über die Art ihrer politischen Teilhabe und Artikulation frei befinden kann, unabhängig auch von ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten Religion oder ethnischen Herkunft. Für Bürgerinnen und Bürger islamischen Glaubens gibt es Platz in den unterschiedlichen demokratischen Parteien.
Außerdem würde ich keine demokratische Partei aus der Aufgabe entlassen, eine Perspektive des Gemeinwohls zu formulieren – auch wenn ich durchaus konstatiere, dass sie bei der Formulierung einer solchen Perspektive unterschiedlich erfolgreich sind!


Claudia Roth ist Parteivorsitzende und MdB von Bündnis 90/Die Grünen. Sie arbeitete als Dramaturgin und als Managerin der Band Ton Steine Scherben, bevor sie 1985 Pressesprecherin der grünen Bundestagsfraktion wurde. Von 1989 bis 1998 war sie Mitglied des Europaparlaments, ab 1994 Fraktionsvorsitzende der Grünen im EP. Sie war Mitglied u.a. im Ausschuss "Bürgerliche Freiheiten und Innere Angelegenheiten" und im Unterausschuss Menschenrechte. Von 1998 bis März 2001 und erneut seit Oktober 2002 ist sie Bundestagsabgeordnete. 1998 wurde sie zur Vorsitzenden des neu konstituierten Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe gewählt. Von März 2003 bis Oktober 2004 war Claudia Roth Beauftragte der Bundesregierung für Menschenrechtspolitik und Humanitäre Hilfe im Auswärtigen Amt. 2001 wurde sie erstmals Parteivorsitzende von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN. 2004, 2006, 2008 und 2010 wurde sie wiedergewählt.