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Montag, 15.10.2012
Mit Poetik der Wahrhaftigkeit den letzten Rest Anstand nicht verlieren
Diesjährige Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels, der chinesische Autor Liao Yiwu greift den Westen wegen seiner China-Politik an – Geladene Gäste, darunter der ZMD-Vorsitzender Aiman Mazyek, erlebten bewegende Feier in der Paulskirche
Unter den Augen des Bundespräsidenten Joachim Gauck, Frankfurts Oberbürgermeister, dem Hessischen Ministerpräsidenten und vielen weiteren prominenten Gästen ist gestern in der Frankfurter Paulskirche der chinesische Autor Liao Yiwu mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels gestern ausgezeichnet worden. In seiner Dankesrede verurteilte er die blutige Unterdrückung von Dissidenten in China, den Religionsgemeinschaften in Tibet und den Uiguren in Xinjiang.
"Dieses Imperium muss auseinanderbrechen", sagte Liao am Sonntag in der Frankfurter Paulskirche. "Der neunjährige Lü Peng wurde (beim Massaker auf dem Platz des himmlischen Friedens) frontal von einer Kugel getroffen und niedergestreckt. Viele andere starben im Kugelhagel, doch er war der jüngste. In dieser Nacht weinten zahllose Menschen wegen dieses kleinen Kindes."
"Ein Wimpernschlag und 23 Jahre sind vergangen. Heute möchte ich eine andere Todesnachricht verkünden. Ein Land, das kleine Kinder ermordet, muss auseinanderbrechen... Das Wertesystem dieses Imperiums ist längst kollabiert. Es muss auseinanderbrechen."
Die freie Welt wird sich ausweglos verheddern
Zugleich griff der Schriftsteller scharf den Westen an. Weltweit sei man der Ansicht, der wirtschaftliche Aufschwung Chinas werde zwangsläufig politische Reformen nach sich ziehen und aus einer Diktatur eine Demokratie machen. "Deshalb wollen jetzt all die Staaten, die dereinst wegen des Tian’anmen-Massakers Sanktionen gegen China verhängten, die ersten sein, die den Henkern die Hand schütteln und mit ihnen Geschäfte machen. Obwohl dieselben Henker noch immer Menschen inhaftieren und umbringen, immer neue Blutflecken zu den alten hinzukommen und neue Gräueltaten die alten armselig aussehen lassen. Die einfachen Leute, die zwischen Blut und Grausamkeit ihr Dasein fristen müssen, verlieren dabei auch noch den letzten Rest Anstand", sagt Liao Yiwu.
Und er kritisiert weiter: "Unter dem Deckmantel des freien Handels machen westliche Konsortien mit den Henkern gemeinsame Sache, häufen Dreck an. Der Einfluss dieses Wertesystems des Drecks, das den Profit über alles stellt, nimmt weltweit überhand." Chinas Wertesystem sei längst in sich kollabiert und werde nur noch vom Profitdenken zusammengehalten. "Gleichwohl ist diese üble Fessel des Profits so weit reichend und verschlungen, dass sich die freie Welt der wirtschaftlichen Globalisierung noch ausweglos in ihr verheddern wird", so Liao Yiwu.
"Volksschriftsteller im wahrsten Sinne des Worts"
"Seine eigene Stimme zu finden ist für den Menschen von elementarer Bedeutung... Es ist die Sprache, die den Menschen seine eigene Herkunft begreifen lässt... Mehr als alles andere mache Sprache Kritik möglich", sagte Gottfried Honnefelder, Vorsteher des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels. "Zurecht ist Liao bekannt geworden durch Interviews am unteren Rand der Gesellschaft". Er mache Menschen hörbar, die sonst ohne Stimme blieben. Unerschrocken und sprachmächtig habe er den unter Repression und Unterdrückung leidenden Menschen seines Volks zu einer Stimme verholfen. Er sei ein Volksschriftsteller im wahrsten Sinne des Wortes. Er selbst habe seine Stimme auf leidvollem Wege finden müssen. Die Literaturkritikerin und Literatur-Chefin der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Felicitas von Lovenberg, bescheinigte dem Preisträger in ihrer Laudatio eine tiefe Verbundenheit zu China, seinen Menschen und Traditionen. "Liao gewährt uns mit seiner eigene Biografie und seinen Büchern einen ernüchternden Blick hinter die Fassaden des großen Landes". Er schreibe aus bitterster eigener Erfahrung. Er müsse nichts dazu erfinden, wenn er über Verfolgung und Folter schreibe. Es sei eine Poetik der Wahrhaftigkeit, der sich Liao verpflichtet fühle, eine "oral history" Chinas.
Seine Werke seien im offiziellen China nicht zu haben, im Untergrund aber Bestseller. "Liao Yiwu verkörpert den Widerstand aus dem Gedächtnis heraus. Er basiert auf einem Schrecken, 'der auf einer tieferen Ebene angesiedelt ist als das lange Eingesperrtsein und die körperlichen Qualen'. Es ist die Angst davor, vergessen zu werden, umsonst gelebt und gelitten zu haben, die er mit allen Betroffenen des 4. Juni teilt", so von Lovenberg. Durch das Sammeln von Einzelschicksalen stelle Liao die Würde unzähliger Menschen wieder her, die die Machthaber am liebsten auf der "Müllhalde der Geschichte" unbemerkt entsorgen wollten, so von Lovenberg.
Oberbürgermister Peter Feldmann (SPD) betonte, dass man mit Worten die Welt verändern könne. "Worte haben Wirkung. Wir sind stolz darauf, dass der Friedenspreis in der Paulskirche verliehen wird, der Wiege der Demokratie." Der Buchmarkt, mit ihm die Buchstadt Frankfurt, sei sich seiner Verantwortung bewusst, er löse seine Verantwortung mit der Verleihung des Friedenspreises an Liao Yiwu ein.
Haft verändert sein Leben radikal
Liao Yiwu wurde am 4. August 1958 in Chengdu in der Provinz Sichuan geboren und wuchs in bitterer Armut auf. Zunächst galt er als ungewöhnlich talentiert und erhielt für seine Gedichte zahlreiche Auszeichnungen. Doch Liao hält nicht mit seiner Hoffnung auf eine "offene Gesellschaft" hinterm Berg. Die Behörden reagieren: Immer wieder erhält er Schreibverbot und kommt 1987 auf die "Schwarze Liste". Kurz vor dem Massaker am Tiananmen-Platz 1989 in Peking publiziert er sein Gedicht "Massaker"; dafür musste er vier Jahre lang ins Gefängnis. Die Haft habe sein Schreiben radikal verändert; ihm sei seine romantische Dichterhaut bei lebendigem Leibe abgezogen worden, sagt er.
Zwei Mal will er sich das Leben nehmen. Nach der Entlassung aus dem Gefängnis ist seine Existenz zerstört. Seine Frau hat ihn mit dem gemeinsamen Kind verlassen, die Freunde wenden sich von ihm ab. Er schlägt sich als Straßenmusiker und Gelegenheitsarbeiter durch. Seine Bücher dürfen nicht erscheinen. 14 Mal bemüht sich Liao in der Folge um eine Ausreisegenehmigung - jedesmal versagen die Behörden die Erlaubnis. An der Frankfurter Buchmesse 2009, bei der China Ehrengast ist, darf er nicht teilnehmen. Erst nachdem er Bundeskanzlerin Angela Merkel um Hilfe gebeten hat, kann er 2010 erstmals für sechs Wochen ausreisen. Im Juli 2011 setzt er sich über Vietnam nach Deutschland ab, denn er will sein Buch "Für ein Lied und hundert Lieder" veröffentlichen. Dreimal hat er diese Erinnerungen an seine Gefängniszeit schreiben müssen, zweimal wurde ihm das Manuskript einfach weggenommen. Zuletzt hatte er Todesdrohungen bekommen, sollte es im Ausland erscheinen.