Montag, 30.12.2002
PARIS, 23. Dezember. Nach Schweinefleisch oder Alkohol suchen die Kunden des
Supermarktes "Franprix" in dem Pariser Vorort Evry vergeblich. Die Besitzer des Geschäfts, die Brüder Djaiziri, sind strenggläubige Muslime, und sie wollen nichts verkaufen, was gegen ihre religiösen Überzeugungen verstößt. Da rund um das Geschäft überwiegend Muslime wohnen, störte sich kaum jemand an dem eingeschränkten Angebot im "Franprix". Im Gegenteil, die meisten Kunden freuten sich, garantiert "halal", nach den islamischen Regeln geschlachtetes Fleisch, kaufen zu können. Bis der sozialistische Bürgermeister von Evry, bis vor kurzem Regierungssprecher Premierminister Jospins, von dem "100 Prozent muslimischen Laden" erfuhr. "Inakzeptabel" sei es, so Bürgermeister Valls, das Warenangebot nur auf eine bestimmte Bevölkerungsgruppe auszurichten. Das Rathaus
ordnete den Brüdern Djaiziri per Einschreiben an, die Diskriminierung nichtmuslimischer Kunden umgehend einzustellen. Zugleich forderte Bürgermeister Valls die Firmenleitung von "Franprix" auf, dem Laden in Evry gegebenenfalls das Firmenschild zu entziehen. Die "Franprix"-Kette, in etwa vergleichbar mit Spar- oder Edeka-Märkten in Deutschland, habe schließlich den Anspruch, die Nachfrage aller Kunden abzudecken, unabhängig von deren Glauben, schrieb Valls.
Die Demarchen des Bürgermeisters haben keine rechtliche Grundlage. Doch Valls erhebt seine Forderungen im Namen des "Laizismus", der Zurückdrängung des Religiösen in die private Sphäre. In das Weltbild des Sozialisten paßt es nicht, daß Muslime den Anspruch erheben, auch beim Einkaufen ihren religiösen Überzeugungen nachgehen zu können. "Ich lehne eine solche Haltung ab, mit der sich eine Gemeinschaft nach außen hin abriegelt. Diese Leute haben eine fundamentalistische Vorstellung von der Religion", sagte Valls. Nur so könne eine "Ghettobildung" verhindert werden. Doch die Ghettobildung, gegen die Valls
vorgeblich ankämpfen will, sie ist schon lange Alltag in Evry wie in vielen anderen Vororten der französischen Großstädte.
Siebzig Prozent der Bevölkerung in seinem Viertel seien Muslime, sagt Ladenbesitzer Abdel- Jawed Djaiziri stolz. "Das ist die Kundschaft, die wir bedienen wollen", sagt er. In Evry steht eine der größten Moscheen Frankreichs. Der Rektor der Moschee, Khalil Merroun, würde sich am liebsten nicht zum "Fall Franprix" äußern. Dann nimmt er die Brüder Djaiziri doch in Schutz: "Muslimen ist es verboten, mit Alkohol, Zigaretten oder Schwein Handel zu treiben. Das ist ein religiöses Dogma. Deshalb haben sich die Brüder entschlossen, nur ,hala'- Produkte zu vertreiben. Damit bringen sie den muslimischen Konsumenten Respekt entgegen", sagte der Rektor. Bald müssen sich die zwei Geschäftsinhaber auch vor einem Arbeitsgericht rechtfertigen, weil sie die früheren nichtmuslimischen Mitarbeiter des Franprix- Marktes bei der Geschäftsübernahme im Oktober entlassen hatten. Sie stellten dann ausschließlich muslimisches Personal ein.
Wie weit das Ideal des Laizismus und der Alltag des Zusammenlebens mit den etwa vier bis fünf Millionen Muslimen in Frankreich auseinanderliegen, zeigt auch das Beispiel von Dallila Tahri. Die 30 Jahre alte Französin, deren Familie aus Algerien stammt, arbeitete bei einer der großen Telemarketingfirmen in Paris. Im Kundengespräch am Telefon gab sie immer brav "Frédérique" als ihren Vornamen an, die Kunden sollten schließlich nicht verschreckt werden. Als strenggläubige Muslimin kam sie stets verschleiert zu ihrem Arbeitsplatz: Haar, Stirn, Ohren und Nacken verdeckte ein Tuch. Nachdem sich Dallila Tahri der Anordnung ihres Vorgesetzten widersetzte, ihre religiöse Überzeugung doch etwas "diskreter" zum Ausdruck zu bringen, wurde sie entlassen. Doch die junge Muslimin zog vor ein Arbeitsgericht - das ihren Arbeitgeber unlängst dazu verpflichtete, sie wieder einzustellen.
Die Richter befanden, Frau Tahri sei aufgrund ihrer äußeren Erscheinung und ihrer religiösen Überzeugungen entlassen worden. Das sei ein klarer Verstoß gegen das Arbeitsrecht. Weitere Prozesse von jungen muslimischen Frauen, die verschleiert am Arbeitsplatz erscheinen wollen, sind noch anhängig. Immer mehr junge Muslime, die dank der Geburt auf französischem Boden die französische Staatsbürgerschaft erhielten, wollen sich nicht länger den "Assimilierungsversuchen" der staatlichen Schulen und Institutionen beugen. Islamische Kleidungs- und Ernährungsregeln werden ostentativ befolgt, der Wille, den Durchschnittsfranzosen nachzueifern, ist hingegen früh gebrochen. Das hängt wohl auch damit zusammen, daß Vorbildfiguren fehlen, die eine gelungene Integration der aus Nord- oder Schwarzafrika stammenden Muslime in die französische Gesellschaft verkörpern könnten. So muß es schon als großer Erfolg gefeiert werden, daß die rechtsbürgerliche Regierung zwei Mitglieder zählt, deren Familien aus dem Maghreb stammen. Tokia Saifi ist als Staatssekretärin für "dauerhafte Entwicklung" zuständig, Hamlaoui Mékachéra für die Kriegsveteranen, die "anciens combattants".
In der "Volksvertretung", den zwei Kammern des Parlaments, sind die muslimischen "Mitbürger" jedoch unterrepräsentiert. Wie schädlich sich das für den Zusammenhalt der Gesellschaft dauerhaft erweisen könnte, hat Innenminister Sarkozy klar erkannt. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24.12.2002, Nr. 299 / Seite 3