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Freitag, 01.06.2012

Wer Muslime an einer aufgeklärten Gesellschaft teilhaben zu lassen beansprucht, sollte ihre Religion dafür nicht als Hindernis, sondern vielmehr als eine Grundlage anerkennen

Eine geistesgeschichtliche Abhandlung als offenener Brief an den CDU-Fraktionsvorsitzenden Volker Kauder - Von Mohammed Khallouk und Rachid Boutayeb

Sehr geehrter Herr Kauder,     schade, dass Sie es bis heute noch nicht vermocht haben, die deutsche Tradition in ihrer Gesamtheit zu erfassen. Dabei dachten wir doch, Sie wären in der deutschen Geistesgeschichte bewandert und wüssten um den zivilisatorischen Beitrag der muslimischen Kultur. Eine Kultur, die die Andere nicht auszuschließen suchte, wie die Humanisten das machten oder sogar Kant, der im Judentum nur den „Gehorsam gegenüber den göttlichen Geboten ohne Prüfung durch die eigene Vernunft“ sah. Sein König Friedrich II. war da hinsichtlich der Einstellung und Aufgeschlossenheit gegenüber dem Anderen schon  erheblich weiter. Die Juden durften in seinem Herrschaftsgebiet ungehindert ihre Synagogen besuchen, auch Muslime nahm er in seine Armee auf und ließ ihnen die ersten Moscheen auf deutschem Boden errichten.

Erst 200 Jahre später entdeckte auch die europäische Gelehrtenszene wieder, welchen Stellenwert ein niederländischer Jude Namens Spinoza, dessen Vorfahren im einst muslimisch dominierten Portugal in ihrer Weltsicht geprägt wurden, für die Entwicklung des spezifisch europäischen Rationalismus eingenommen hatte. Bis die Musik eines Felix Mendelssohn-Bartholdy ausschließlich als ein Glanzpunkt der deutschen Romantik wahrgenommen wurde und nicht nur als Werk eines zum „Christentum konvertierten Juden“, musste der „origin jüdische“ ebenso wie der „ehemals jüdische“ Beitrag zur deutschen Kunstentwicklung als „entartet“ ausgewiesen werden.

Vom islamisch geprägten Orient konnte die deutsche Kultur dieser engstirnigen Sichtweise nach erst recht kaum Inspiration  erhalten haben, schließlich haben die Türken bereits vor Wien ihren Eroberungsfeldzug abbrechen müssen und der arabische Hochglanz des nördlich der Alpen so „dunkel“ anmutenden Mittelalters reichte nicht einmal über die Pyrenäen hinaus.

Die muslimische Minderheit, die seit Friedrich II. der preußischen Armee zu ihrer allseits gepriesenen Schlagkraft verhalf, müsste dementsprechend als unbedeutend für den deutschen Geschichtsverlauf unerwähnt bleiben. Wer als Christdemokrat die Jahrhunderte alte christliche Tradition unseres Landes zu verteidigen bestimmt ist, für den dürfte der  Islam demnach in keinem Fall zur deutschen Identität gehören.



Da erdreistet sich ein ehemaliger Bundespräsident, der auch noch Ihrer mit dem christlichen „C“ geschmückten Partei angehört, den Islam, ausgerechnet am Tag der Deutschen Einheit, als „Teil von Deutschland“ zu charakterisieren, bloß weil – wie er korrekterweise feststellen muss - „mittlerweile“ ein beträchtlicher Teil an Muslimen auf deutschem Territorium lebt.

Dass dieses „mittlerweile“ qualitativ bis ins 18. Jahrhundert zurückreicht und auch die zuvor in Europa entstandenen Ideale zum großen Teil ihre Wurzeln im islamischen Orient besitzen, scheint Ihren konservativen Wählern trotz nunmehr fünf Millionen Muslimen innerhalb der deutschen Grenzen noch immer schwer zu vermitteln zu sein. Vor einer Islamkonferenz könnte es aber doch einmal Erwähnung finden, wenn die beanspruchte Integration dieser Muslime – mit und auch ohne eigene Religiosität – im pluralistisch verfassten Deutschland gelingen soll.

Erwarten Sie nicht immerzu von jener Minderheit, dass sie sich mit der deutschen Kultur identifizieren können sollte? Sie lebt vielfach bereits in der dritten Generation in Deutschland. Auf jeden Fall trägt sie zu dieser deutschen Kultur ihren eigenen Anteil bei. Es handelt sich dabei selbstverständlich nicht um eine „christlich dominierte Leitkultur“, sondern um eine Symbiose im Sinne von Hans Mayer. Er versteht darunter ein „Zusammenleben in Differenz“. Er befürwortet  eben jenes Kulturverständnis, welches dem Königreich Preußen in der Zeit des aufgeklärten Absolutismus Friedrichs des II. seine Fortschrittlichkeit und Tugendhaftigkeit verlieh. Natürlich baute dieser Fortschritt auf der Tugend der Vernunft.

Wenn die jüdische Religion wie von Hegel als „Religion des Gehorsam und nicht der Vernunftautonomie“ charakterisiert wird, kann sie hierzu ebenso wenig beitragen wie ein Islam, der nur die buchstabengerechte Nachahmung von Gelehrtenautoritäten kennt. Für ein sich aufgeklärt gebendes Europa wäre damit die Emanzipation der Juden von ihrer Religion ebenso wie das Infrage stellen islamischer Glaubensgrundsätze durch die Muslime die notwendige Konsequenz für deren Teilhabe am beanspruchten geistigen Fortschritt.

Diese fremdverachtende Rationalität kennzeichnet jedoch nicht die gesamte deutsche Aufklärung. Die jüdischen Denker des 19. und 20. Jahrhunderts wussten sich dieser Fremdkonstruktion ihrer Religion durchaus entgegenzustellen. Hermann Cohen fand sogar in der Rückbesinnung auf seine jüdische Religion seine verloren gegangene Identität wieder. Sein Verständnis der Aufklärung bedeutete gerade nicht die Distanz vom Judentum, sondern eine Rationalisierung der Offenbarung, denn die Vernunft erkannte er auch in seiner Religion als den „einzigen Weg zu Gott“.

Dieses vernunftbegründete Religionsverständnis kennt der Islam seit seinen Anfängen ebenso. Als jtihad ist es bis heute unter islamischen Gelehrten existent. Nicht umsonst kam der mit der Antike nördlich des Mittelmeers verloren gegangene Rationalismus im späten Mittelalter aus der islamischen Welt nach Europa zurück. Wer Muslime an einer aufgeklärten Gesellschaft teilhaben zu lassen beansprucht, sollte ihre Religion dafür nicht als Hindernis, sondern vielmehr als eine Grundlage anerkennen. Statt permanenten Aufforderungen an die Muslime in Deutschland, sich von diesen oder jenen für inhuman empfundenen Vorkommnissen in bestimmten muslimischen Kreisen auf dem Globus zu distanzieren, muss die aufklärungsverpflichtete deutsche Politik sie dabei unterstützen, in ihrer Religion zum humanen Fortschritt unserer Gesellschaft beizutragen.

Anstatt den Blick auf eine für extrem empfundene salafistische Minderheit zu richten, die in Deutschland zudem bislang im Wesentlichen mit dem Verteilen von Koranen, nicht aber mit verurteilungswürdiger Unmenschlichkeit aufgefallen ist, sollte die Politik eine Botschaft an die Mehrheit der Muslime richten, dass sie in Deutschland mit  ihrer erkennbaren Differenz zu Christen und anderen Nichtmuslimen gesellschaftlich akzeptiert ist. 

Hier sind noch etliche Hürden zu überwinden. Diese Hürden bestehen weniger in vereinzelt vorkommender „häuslicher Gewalt“ und „Zwangsehen“ als mehr in deutschen Arbeitgebern, die qualifizierten Bewerbern mit muslimischen Namen ohne Vorstellungsgespräch Absagen erteilen. Dazu gehören beispielsweise auch deutsche Sportlehrer, die von muslimischen Mädchen im Schwimmunterricht den gerichtlich zugelassenen Burkini auszuziehen verlangen. Letztlich gehören auch all jene Vertreter in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft dazu, die dem Islam die Zugehörigkeit zur deutschen Identität absprechen. Sie veranlassen die Muslime geradezu zur Suche nach einer „nichtdeutschen Ersatzidentität“. Das Ergebnis sind die allseits beklagten „Parallelgesellschaften“ und die Popularität sich gegen die Mehrheitsgesellschaft wendender Extremisten.

Zugleich wird ein Bild in der deutschen Öffentlichkeit gefestigt, das jegliche Differenz gegenüber der Mehrheitsgesellschaft mit einer Gefahr für diese assoziiert. Rechtsterroristen wie Herr Breivik in Norwegen und die NSU-Mitglieder in Deutschland wähnen sich berechtigterweise als „Verteidiger der europäischen Kultur“, die in Notwehr handeln. Sie können sich einbilden, die von den Eliten allseits beschworene Gefahr aktiv zu beseitigen.

Habermas fordert dementsprechend die Immigranten und ihre in Deutschland aufgewachsenen Nachfahren bewusst „in ihrem Anderssein zu respektieren und in die staatsbürgerliche Solidarität einzubeziehen

Integration, inneren Frieden und innere Einheit erreicht man nur mit einer Kultur der Differenz, die das Individuum in den Mittelpunkt rückt und diesem als Muslime wie als Nichtmuslime  mit seiner eigenen Religion und Weltanschauung gesellschaftliche Chancen eröffnet. Diese Chancen entstehen nicht auf Konferenzen mit ausgewählten Vertretern, die den Islam zu repräsentieren haben und denen ein christlicher Innenminister zu erläutern sucht, wie ein aufgeklärter „deutscher Islam“ auszusehen hat, sondern im Abbau von Barrieren im Alltag und in der Anerkennung ihrer Religion als gleichrangig zu Juden- und Christentum.

Es besteht jedoch die Tendenz, dass sogar diejenigen Muslime, die sich von einem traditionalistisch verstandenen Islam, der eine orientalische Tradition mit dem Islam als Religion gleichsetzt, zu lösen beginnen und ihre Religionsauffassung mit dem deutschen Grundgesetz in Einklang zu bringen suchen, immer noch nicht als gleichberechtigte deutsche Bürger verstanden werden. Wurde einem Mendelssohn-Bartholdy einst das Stigma des „getauften Juden“ angeheftet, klassifiziert man jene als „liberale“ oder auch „deutsche Muslime“, sie bleiben immer noch Repräsentanten des verachteten Fremden. Wie Cohen seinerzeit in der Rückbesinnung auf sein Judentum auf den damaligen Antisemitismus reagierte, verleitet die versteckte und offene Islamophobie in Teilen unserer Gesellschaft heute Muslime in Deutschland dazu, verstärkt in der islamischen Religion Bestärkung und Identität zu suchen.  Solange sie sich dabei im Rahmen des deutschen Grundgesetzes bewegen, bleiben sie damit jedoch ebenso Bestandteil der deutschen Nation und auch der deutschen Kultur.

Mit dem Versuch, den hier lebenden Muslimen ihre gleichzeitige deutsche Identität abzusprechen, entfernen Sie sich vom deutschen Verfassungspatriotismus, den Sie von den Muslimen einfordern. Deutsche Kultur setzen Sie eben nicht mit Treue zum deutschen Grundgesetz und demokratischer Gesinnung, sondern mit der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Religion oder dem Anhängen an eine bestimmte Weltanschauung gleich. Mag diese Weltanschauung in Deutschland der Mehrheitsauffassung entsprechen und Ihnen dementsprechend die Mehrheit an Wählerstimmen versprechen, als ein Repräsentant der Bundesrepublik Deutschland und ihres Grundgesetzes, sind Sie eben nicht nur dieser Mehrheit, sondern gleichermaßen der Minderheit gegenüber verpflichtet. Wenn Sie diese Minderheit auszuschließen suchen und der Bundesinnenminister darüber hinaus deren Religion mit Gefahren und einem Sicherheitsrisiko zu assoziieren sucht, gefährden Sie gerade die innere Sicherheit und die erfolgreiche Integration der Muslime in Deutschland.

Sie tragen dazu bei, dass die Muslime gegen das ihnen verschlossen bleibende deutsche Kollektiv aufbegehren und dabei ihre minoritäre Religion geradezu als Mittel ansehen. Wie soll sich ein in Deutschland aufwachsendes muslimisches Kind zu einem verfassungstreuen deutschen Staatsbürger entwickeln, wenn ihm von führenden Repräsentanten des deutschen Staates immerzu eingetrichtert wird, es gehöre aufgrund seiner Religion nicht vollständig zu Deutschland und besitze keine deutsche Identität.

Der Identitätsbegriff, der dabei vermittelt wird, trägt bereits nicht zur Aufnahme, sondern zum Ausschluss des Anderen bei. Gefragt ist deshalb ein säkularer Identitätsbegriff, der von jeglicher Form der geschlossenen Zugehörigkeit befreit ist, eine Identität, die sich als Begegnung verwirklicht.
Eine spezifisch „deutsche Identität“ gäbe es in diesem Sinne gar nicht mehr, wohl aber eine „Identität als Demokrat und Verfassungspatriot“, die das bewusste sich Einlassen auf den Anderen erfordert. Grundsätzlich ist es legitim, von einem „jüdisch-christlichen Erbe“ Europas zu sprechen, dieser Begriff wird jedoch heutzutage vielfach politisch instrumentalisiert, das Andere – in diesem Falle das Nichtjüdische und Nichtchristliche – auszuschließen, zumal, wenn er mit dem Begriff der Kultur in Zusammenhang gebracht wird. Dieses selektive Identitätsverständnis bedeutet nämlich, die Begegnung mit dem Anderen zu vermeiden, eine Permanenz im Selben.

Habermas fordert dementsprechend die Immigranten und ihre in Deutschland aufgewachsenen Nachfahren bewusst „in ihrem Anderssein zu respektieren und in die staatsbürgerliche Solidarität einzubeziehen.“ Er begreift die Begegnung mit dem Anderen keineswegs als Gefahr, sondern als Bereicherung und Erweiterung des eigenen Horizontes. Eine Begegnung der deutschen Politik mit dem Islam und den in Deutschland ansässigen Muslimen bedeutet demnach gerade nicht, diese über die Grundvorstellungen der deutschen Mehrheit von Freiheit zu belehren, sondern ihnen die demokratischen Freiheiten als Staatbürger zuzugestehen und sich dafür einzusetzen, dass sie als Muslime von der Teilnahme am Gesellschaftsleben in Deutschland profitieren können.

Unter diesen Voraussetzungen werden sie auch die Tatsache, dass die sie umgebende Gesellschaft mehrheitlich nicht aus Muslimen besteht, keineswegs als  Bedrohung für ihre zweifellos vorhandene muslimische Identität auffassen, sondern ebenso als Bereicherung begreifen. Die Pluralität des deutschen Gemeinwesens erkennen sie sogar als Rahmenbedingung, ihren muslimischen Glauben in jener Form auszudrücken, die ihrem eigenen Religionsverständnis entspricht. Eine mehrheitlich nichtmuslimische Elite, die ihnen nahezulegen sucht, welche Form des Islam im deutschen Kontext als angemessen gilt, trägt hingegen dazu bei, dass die Muslime sich gerade zu jener vorgegebenen als „modern“ titulierten  Islamauffassung in Opposition begeben

Wenn sich die deutsche Elite von der ebenfalls im 18. Jahrhundert in Deutschland aufkommenden fremdverachteten Rationalität löst, benötigt es keines erneuten „Ganzopfers“, damit die hier lebenden Muslime in Zukunft ebenso wie die heutzutage wieder hier lebenden Juden als selbstverständlicher Teil Deutschlands, seiner heterogenen Identität  sowie als Bereicherung seiner Kultur wahrgenommen werden.

Hochachtungsvoll

Mohammed Khallouk und Rachid Boutayeb

Marburg, 20.05.1012