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Leserbriefe

Samstag, 02.11.2002



Anne S.: es liegt mir etwas auf dem Herzen... schrieb:


Liebe islam.de-Freunde,

Mir liegt etwas auf dem Herzen, aber es faellt mir etwas schwer es in Worte zu fassen. Ich bin selbst bin keine Muslima, habe mich aber seit mehr als einem Jahr intensiv mit dem Islam auseinandergesetzt (bereits vor 9/11...).
Es hat wirklich eine ganz Weile gedauert, bis ich mich durch meine eigenen Vorurteile durchgearbeitet hatte und das Wunderbare am Islam entdecken und verstehen konnte.
Es ist wie eine neue Brille aufzusetzten und die Welt mit anderen Augen zu sehen. Ich konnte nun verstehen, wie man einen knappen Bikini genauso als Zeichen der Unterdrueckung der Frau sehen kann, wie ein Kopftuch. Oder als Zeichen der Befreiung.
Ich habe inzwischen einen tiefen Respekt vor dieser Religion.
Was ich sagen moechte, ist, dass es mich viel Zeit und Auseinandersetzung mit meiner eigenen Kultur (nicht immer ganz einfach) gekostet hat, das alles so zu verstehen und zu respektieren. Viele meiner Freunde leben noch immer mit allen diesen Vorteilen, aber, glaubt mir, daran arbeite ich... Man braucht sehr viel Geduld und Ausdauer dafuer. Diese Geduld und auch Nachsicht wuensche ich mir manchmal auch mehr von Moslems. Ich kann zu gut verstehen, wie sehr einen die Stigmatisierung ‘Moslem = Terrorist’; ‘Jihad = Heiliger Krieg’ etc. verletzt. Ich selbst bin derzeit im Ausland (Suedafrika) und brauche wohl nichts viel darueber zu sagen, welches Bild von Deutschland noch immer im Ausland herrscht. Mir hat gerade neulich jemand gesagt, er wuerde niemals Deutschland bereisen, denn dort wuerden ja nur Nazis leben.
Ich glaube nur, dass es nicht hilft sich selbst als Opfer von Stigmatisierung zu sehen (selbst wenn das der Fall ist) und dann den Finger zurueck auf ‘die Stigmatisierer’ zu zeigen und ihnen zu vorzuwerfen, dass sie auch ‘Dreck am Stecken’ haben. Eine Reaktion zu der man (ich selbst eingeschlossen) vor allem bei den Amerikanern neigt, weil es so schoen einfach ist. Viele Menschen in Deutschland und anderen ‘westlichen’ Laendern plappern einfach nach, was in den Medien steht. Viele interessieren sich nicht besonders fuer Religion. Dazu kommt ein Klima in dem wir aufgewachsen sind (ich kann nur fuer Deutschland sprechen), naemlich, dass Islam eine Religion ist, die die Unterdrueckung der Frau zum Inhalt hat und eine Religion der Verbote und Einschraenkungen ist.
Das hat uns nie jemand ‘offiziell’ so gelehrt, sondern das war immer eine dieser voellig ‘natuerlichen’ Wahrheiten, die man nicht hinterfragt, weil es einen im Grunde genommen ja weder betrifft noch wirklich interessiert.

An diesem Punkt moechte ich betonen, dass wir ALLE diese Form von Vorurteilen ueber Menschen und Dinge habe, schlichtweg, weil wir nicht die Moeglichkeit haben, uns mit der ganzen Welt auseinanderzusetzen und sie in ihrer Komplexitaet und all ihren Nuancen zu erfassen. Es gibt dann Dinge (vor allem, wenn sie uns persoenlich nicht betreffen und interessieren) die wir einfach so nehmen, wie wir sie serviert bekommen, bis jemand sich die Muehe macht, es uns zu widerlegen und wir uns die Muehe machen es zu verstehen. (Das Bild, was in Deutschland von Afrika herrscht waere ein weiteres Beispiel dafuer.)
Seit 9/11 beherrscht das vorurteilsbelastete Bild vom Islam auf einmal unsere Medien, die aus Sensationsnot mit den Aengsten der Menschen spielen. 9/11 hat viele Menschen ‘im Westen’ in einen Schock versetzt (genau wie den Rest der Welt natuerlich und diese suchen nach Antworten. Die Antworten, die sie bekommen passen genau in das latente Bild vom Islam, was schon immer da war, bzw. werden darauf aufgebaut.
Was mir aber wichtig ist zu betonen, ist, dass das nicht zwangslaeufig bedeutet, dass diese Menschen nicht auch anderen Stimmen zu hoeren wuerden. Doch diese anderen Stimmen sind leider ruhig, weil sie sich stigmatisiert und angegriffen fuehlen (wiederum zu recht).
Wird der Teufelskreis deutlich, den ich versuche zu zeichnen?

Meiner Meinung nach, sind sich die meisten Menschen bewusst, dass sie keine Ahnung vom Islam haben. Sie wissen, dass ihre Meinungen auf ein paar wenigen (Kontext-entrissenen) Koran-Zitaten besteht (wenn ueberhaupt). Und ich glaube sicher, sie wuerden zu hoeren, wenn jemand die Ruhe und innere Nachsichtigkeit besitzen wuerde, sich ueber all diese verletztenden Anklagen zu stellen und ihnen mehr ueber den Islam zu vermitteln. Ich bin mir darueber im Klaren, dass das enormer Staerke bedarf, aber ich glaube, dass der Islam diese Staerke vermittelt.
Worum ich hier Moslems bitte, ist, habt Nachsicht mit den Vorurteilen der Menschen, versucht sie nicht peroenlich zu nehmen und als unveraenderlich zu sehen. Ich finde, dass gerade in Deutschland sich die Menschen ueber die Propaganda der Amerikaner bewusst sind und ihr sehr kritisch gegenueberstehen. Diese kritische Haltung muss mit Inhalt gefuellt werden; mit Argumenten, die unschlagbar wuerden, wenn sie einer differenzierten Sicht des Islam entstammen wuerden.
Ich weiss, nicht ob ich mich sehr verstaendlich ausgedrueckt habe. Ich moechte sicher, niemandem ihre/seine Verletztheit ueber Stigmatisierung zum Vorwurf machen. Ich bitte nur um Nachsicht.

Es ist einfach ein schwieriger Prozess sich mit Vorurteilen auseinanderzusetzen und so viel einfacher im Chor mit all den anderen zu singen. Und das geht uns ALLEN so.
Ich wuerde mich sehr ueber etwas ‚feedback’ freuen.