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Montag, 23.04.2012
Sehnsucht nach Denkern, die die komplizierte Welt erklären
Über Neonazi-Mordserie, rechtes Gedankengut in der Mitte der Gesellschaft, extremistische Muslime und der Mangel an Muslimen in den Parteien - Ein Gespräch mit Dr. Murad Wilfried Hofmann
islam.de: Herr Dr. Hofmann, Sie sind 1931 in Aschaffenburg geboren. Welche Erinnerungen an die Zeit des Nationalsozialismus besitzen Sie noch?
Murad Hofmann: In der damaligen Zeit war man auch schon als Kind politisch wach. Ich musste ja schon mit 10 Jahren in das sogenannte Jungvolk, einer Vorstufe der Hitlerjugend. Wir hatten Uniformen, mussten zweimal die Woche antreten und präsent sein. Deshalb waren wir in einem Maße politisiert, wie das in diesem Alter heute nicht vorstellbar ist. Auch der Bombenkrieg war für uns ein alltägliches Erlebnis. Wir waren insgesamt 900-mal im Luftschutzkeller, so dass wir nach einiger Zeit nur noch im Keller geschlafen haben. Und ich habe miterlebt, dass über ein Dutzend amerikanischer Bomber angeschossen wurde. Der ganze Himmel war voller Fallschirme. Der Krieg hat mich schon sehr mitgenommen.
islam.de: Ab 1936 wurde die nationalsozialistische Ideologie zunehmender Bestandteil der Wirklichkeit des Schulunterrichts. Welchen Faktoren verdanken Sie es, dass diese Sie nicht vereinnahmte, sondern Sie ganz im Gegenteil Teil des Jugendwiderstandes wurden?
Murad Hofmann: Viel dazu beigetragen hat meine Mutter, die eine gläubige und aktive Katholikin war. Sie hat z.B. die Hirtenbriefe von Bischöfen weiter verbreitet. Das war eine illegale Aktivität. Und ich glaube, dass es dieser Hintergrund war, der mich zusagen ließ, als ich von einer jesuitischen Untergrundorganisation für Jugendliche, der Marianischen Kongregation, angeworben wurde. Ohne Deckung durch meine Mutter hätte ich das wahrscheinlich nicht gewagt. Und in dem Moment, als ich dieser Organisation angehörte, führte ich tatsächlich ein Doppelleben. Zweimal pro Woche trafen wir uns in einem tiefen Keller mit einem Jesuitenpater und es gab ein Programm. Wir sangen bestimmte Lieder, es wurde gebetet und Vorträge gehalten. Dann mussten wir in Abständen einzeln nach Hause gehen. Nur alle fünf Minuten durfte einer das Haus verlassen, einer in die eine Richtung, der andere in die andere Richtung. Ich kannte in meiner Schule Mitglieder dieser Organisation. Wir haben es vermieden, miteinander zu stehen oder zu sprechen, wir haben uns nur mit den Augen zugezwinkert. Wenn wir aufgeflogen wären, dann hätte dies bedeutet, dass mein Vater in ein Konzentrationslager gekommen wäre.
Wenn Deutschland noch überwiegend katholisch oder evangelisch geprägt wäre, dann wäre der Islam eine weitere Religion neben den anderen und würde auch so wahrgenommen werden.
islam.de: In den vergangenen Jahren konnten wir erleben, dass Ablehnungstendenzen gegenüber Muslimen in unserer Gesellschaft zunehmen. Es entstanden Internetforen wie Politically Incorrect oder Grüne Pest, die antimuslimische Hetze betreiben. Sozialdarwinistische Thesen, wie jene von Thilo Sarrazin fanden breites Gehör und Zustimmung. Insgesamt kann man sagen, dass antisemitische Stereotypen zunehmend auf Muslime übertragen werden. Wie eine Studie der Friedrich Ebert Stiftung 2010 ergab, passiert dies nicht am gesellschaftlichen Rand, sondern antimuslimischer Rassismus durchzieht mittlerweile die gesamte Gesellschaft. Selbst linke Milieus wie die SPD sind davon betroffen. Wie ist dies zu erklären, gerade nach unserer Erfahrung mit dem Nationalsozialismus?
Murad Hofmann: Ich erinnere mich noch mit Schrecken an Symptome des Antisemitismus in der damaligen Zeit. Ich habe einmal eine Frau mit einem Judenstern gesehen und habe meine Mutter laut gefragt, wie Kinder es nun einmal tun: „Was ist denn das?“ Da hat meine Mutter gesagt, ich solle den Mund halten. Zuhause hat sie mir dann erklärt, dass sei eine arme jüdische Frau. Dann habe ich erlebt, dass die Synagoge in Aschaffenburg 1938 verbrannt worden ist. Und ich konnte nicht begreifen, warum die Feuerwehr nicht eingegriffen hat. Das waren meine Erlebnisse mit Antisemitismus in der Nazi-Zeit, und das hat mein Verständnis von Rechtsstaatlichkeit erschüttert. Deshalb bin ich besonders wach, wenn ich Symptome von antimuslimischem Rassismus höre. Wohlgemerkt der Islam hat nichts mit Rasse zu tun, aber die Form, wie man ihn bekämpft, hat mit Rassismus zu tun. Deshalb bin ich ganz besonders beunruhigt, wenn ein Mensch wie Sarrazin – ohne von der Presse sozusagen niedergeprügelt zu werden – sich in einer Art und Weise äußern kann, wie es in der Nazi-Zeit üblich war.
islam.de: Muslimische Mitbürgerinnen und Mitbürger erleben antimuslimischen Rassismus ja im Großen, wie z. B. die sich seit zwei Jahren häufenden Anschläge auf Moscheen bis hin, dass eine Neonazi-Terrororganisation 10 Jahre lang ungehindert mordend durch die Republik ziehen konnte, aber auch im alltäglichen Kleinklein. Beispielsweise ergab eine Befragung der Pädagogischen Hochschule in Freiburg, dass 15 Prozent von 400 Betrieben im Landkreis Breisgau-Hochschwarzland keine Jugendlichen ausbilden wollen, die offen als Muslime leben. 41,7 Prozent schließen die Einstellung einer Kopftuchträgerinn aus. Wo liegen gesellschaftlich die Ursachen für diese Entwicklung?
Murad Hofmann: Das ist natürlich ein sehr komplexes Thema, bei dem man von vornherein einräumen muss, dass die Schuld auf beiden Seiten liegt. Um gleich damit zu beginnen: Der größte Teil der Muslime in Deutschland sind Türken. Und der größte Teil von ihnen ist bis heute nicht integrationsbereit, sondern glaubt immer noch, dass Deutschland ein Land ist, das ihnen erlaubt, Geld zu verdienen, das sie in der Türkei anlegen wollen, um dort ihren Ruhestand zu verbringen. Das heißt, die Rückkopplung eines großen Teils türkischer Menschen in Deutschland an die Türkei ist stärker als eine entsprechende Rückkopplung bei Bosniern oder arabischen Muslimen hierzulande. Und die Öffentlichkeit nimmt dies wahr. Dass es eine türkische Pressevielfalt in Deutschland gibt, ist ja ein Zeichen dafür, dass es an Integration zumindest hapert, sonst wäre es doch nicht möglich, dass man türkischsprachige Zeitungen in Deutschland drucken muss. Das ist die eine Seite. Die andere ist, dass Deutschland; und dies trifft auch auf die meisten übrigen europäischen Länder zu; sich in Richtung Religionslosigkeit bis hin zum Atheismus entwickelt hat. Ganz im Gegensatz zu den Vereinigten Staaten von Amerika, wo man keine Karriere machen kann, zumindest in der Politik, ohne Mitglied in einer Kirche zu sein. Im Gegensatz dazu ist es hier geradezu umgekehrt. Die Europäer neigen zum Atheismus und das ist eine schlechte Voraussetzung für die Muslime hier. Wenn Deutschland noch überwiegend katholisch oder evangelisch geprägt wäre, dann wäre der Islam eine weitere Religion neben den anderen und würde auch so wahrgenommen werden. Aber dem ist nicht mehr so.
islam.de: Aber tragen nicht auch die Abgrenzungstendenzen eines wenn auch verhältnismäßig kleinen Teils der muslimischen Community einen Beitrag zur diffusen Angst vor dem Islam und der sozialen Kälte, die man Muslimen entgegenbringt, bei? Ich denke da an das Erscheinungsbild junger muslimischer Männer, die arabische oder pakistanische Tracht tragen oder an Frauen, die sich mit der Burka kleiden. Gleiches gilt für Einrichtungen wie das kürzlich gegründete "Muslim-Taxi".
Murad Hofmann: Ich glaube, dass sind ganz normale Reaktionen. Du willst mich nicht, okay, ich mag dich auch nicht. Du sagst ich sei anders, okay, ich bin anders. Also unterstreicht man das Anderssein als Reaktion auf Ablehnung. Soziologisch ist das ein ganz typischer Fall, den man nicht nur bei Muslimen beobachten kann, sondern weltweit in ähnlichen Situationen. Das hat keine religiösen, sondern soziologische Wurzeln.
... sonst haben Muslime nicht die Chance der Integration, die sie haben sollten
islam.de: Herr Hofmann, Sie gehören zu den frühsten Stimmen in der muslimischen Community, die dafür plädierten, dass Mitbürger muslimischen Glaubens in die politischen Parteien eintreten, um so gesellschaftlich mitzugestalten und mitzuverantworten. Gegenwärtig finden wir Muslime aber in den Parteien nur in homöopathischen Dosen wieder. Scheinbar genügt es den meisten Muslimen, sich einzig und allein im religiösen Sektor zu engagieren. Aber Parteien sind auf muslimische Mitglieder angewiesen, denn andernfalls sind sie gezwungen eine Politik über die Köpfe der Muslime, statt mit ihnen zu machen. Wie kann es also gelingen, Muslime stärker zu politisieren?
Murad Hofmann: Das ist eine Arbeit, die in den Moscheen geleistet werden müsste. Nur Imame sind meines Erachtens nach in der Lage, die Scheu der Muslime vor Eintritt in Parteien zu überwinden. Da ist also tatsächlich ein großer Nachholbedarf und das muss sich ändern, sonst haben Muslime nicht die Chance der Integration, die sie haben sollten.
islam.de: Die SPD als ein Beispiel verfügt über einen Arbeitskreis Christinnen und Christen in der SPD wie auch über einen Arbeitskreis Jüdischer Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten. Das Thema Islam wird man nun in dem neugegründeten Arbeitskreis Migration/Integration unterbringen. Sind Islam und Integration zwei Seiten derselben Medaille? Immerhin spielt das Thema Integration für Muslime in der dritten Generation nur noch eine geringe, oftmals gar keine Rolle mehr. Ebenso müsste dies für Sie gelten, da Sie Muslim ohne jeglichen Migrationshintergrund sind.
Murad Hofmann: Es gibt inzwischen um die 100.000 Deutsche ohne Migrationshintergrund, die Muslime geworden sind, und deshalb sollte es auch bei der SPD einen Arbeitskreis zum Islam geben, der sich nicht über Migration definiert. Was nicht ausschließt, dass man einen anderen Arbeitskreis hat, der sich mit den Migrationsproblemen – auch von Muslimen – befasst.
islam.de: Sehr geehrter Herr Dr. Hofmann, vielen Dank für das Gespräch.
(Das Interview führte Muhammad Sameer Murtaza M.A.)
Murad Wilfried Hofmann arbeite von 1961 bis 1994 im deutschen Auswärtigen Dienst. Er war in Algerien während des Unabhängigkeitskrieges (1961-1962), in der Schweiz, in Frankreich und Jugoslawien tätig. Von 1979 bis 1983 war er Leiter des Referats "NATO und Verteidigung" im Auswärtigen Amt, anschließend bis 1987 Informationsdirektor der NATO in Brüssel und von 1987 bis 1994 deutscher Botschafter in Algerien und Marokko. Er konvertierte 1980 zum Islam und veröffentlichte weltweit erfolgreiche Bücher, die in zahlreiche Sprachen übersetzt wurden. Zu seinen wichtigsten Werken zählen Tagebuch eines deutschen Muslims, Reise nach Mekka, Der Islam als Alternative, Islam 2000, Der Islam im 3. Jahrtausend, Islam, Koran und Den Islam verstehen. Er ist Träger des Bundesverdienstkreuzes sowie der höchsten an Ausländer vergebenen Orden von Marokko, Ägypten und Jordanien. 2009 erhielt der deutsche Muslim in Dubai die Auszeichnung „Islamic Personality of the Year“ Dr. Hofmann ist Beiratsmitglied des Zentralrates der Muslime in Deutschland.
Lesen Sie dazu auch:
-Exklusivinterview mit Murad Hofmann Exklusiv in SOGESEHEN.TV Ein spannendes Gespräch mit dem bekannten Diplomat, Autor und Islamwissenschaftler (2009)
-> (http://sogesehen.tv/?s=s34_15_10_09)