Die Wahrheit über die Täter und was es auslöste
Seit langem hatte sich die Familie mal wieder in größerer Runde versammelt, um sich das EM-Qualifikationsspiel zwischen der Türkei und Kroatien anzugucken. Geplant war ein geselliger Abend mit Schwatzen und Essen, aber dann hört der Bruder im Radio zufällig Nachrichten, der Name seines Vaters fällt. Die vermeintlichen Mörder sind tatsächlich gefunden. Seitdem geht es Semiya schlechter als je zuvor.Sie kann es zunächst nicht fassen. Jahrelang haben die Behörden ihnen nicht zuhören wollen, wenn sie gemeinsam mit anderen Opferangehörigen ihren Verdacht auf einen rechtsextremen Hintergrund ausgesprochen haben. Sie haben sogar demonstriert, sind freiwillig in die Öffentlichkeit gegangen, haben Interviews gegeben. Niemand hat uns doch geglaubt! Dieser Satz hämmert nun in Endlosschleife in ihrem Kopf, als sie im Fernsehen die Nachrichten sieht. Sie ruft am Samstagmorgen beim Bundeskriminalamt an, sie denkt, sie ist eine Betroffene, sie ist schließlich die Tochter von Enver Simsek, die müssen ihr Auskunft geben! Sie wird abgewimmelt, bekommt den Ratschlag, sich über die Medien zu informieren.Die Tage der Ungewissheit sind eine Qual, immer wieder laufen elf Jahre wie im Zeitraffer durch die Gedanken: Am Anfang die Angst der Minderjährigen, dass der Mörder auch zu ihr kommen könnte, die Sorge um die Mutter, die ihre Kinder ebenfalls aus Angst unentwegt erreichen musste und sie ständig auf dem Handy nervte, wenn sie abends ausgingen; der wirtschaftliche Niedergang der Familie, die noch heute auf einem Berg Schulden sitzt, weil das Geschäft nach dem Tod des Vaters nicht mehr funktionierte. Wer will Blumen von Leuten, die angeblich der türkischen Mafia angehören, wie es ein Gerücht besagte. Das Getuschel der Leute und Nachbarn, die Blicke und die Weigerung der Tochter, für eine Zeit überhaupt darüber zu reden. Nur einen Satz sagte sie lange, nur den einen: Mein Vater ist tot. Punkt.Nun war alles wieder da, alle Wunden offen, Feuer brannte in ihr. Aber nach jenem Freitagabend im November, als die Nachrichten das 0:3 der Türkei gegen Kroatien zur lächerlichen Nebensache degradierten, dauerte es fünf Tage, bis sich ein Beamter aus Nürnberg bei ihnen meldete. Er war oft bei der Familie gewesen, bevor das BKA die Ermittlungen an sich gezogen hatte. Der Mann kommt bei ihnen vorbei, aber er weiß auch nicht mehr als sie, er sitzt selbst „wie geschockt“ auf ihrem Sofa, erinnert sich Semiya und sagt: „Wenn das stimmt, was da jetzt bekannt wird, dann haben die uns doch auch verarscht.“ Mit „die“ meint der Beamte den Verfassungsschutz.Mit jeder neuen Information, die nun über die mutmaßlichen Täter und ihr rechtes Terrornetzwerk bekannt wird, verschwindet ihre eigene Identität aufs Neue. Denn nun kommt noch eine ganz andere Ahnung in ihr auf, dass sie in diesem Land unerwünscht sein könnte, weil sie von einem Türken abstammt, obwohl sie doch Deutsche ist. Bis zum Mord an ihrem Vater, sagt Semiya Simsek, habe die Familie niemals ein Problem gehabt mit Rassismus oder Ausländerfeindlichkeit. Aber in den Tagen, als alles wieder aufgewühlt wird, als das Versagen der Sicherheitsbehörden offenbar wird, beschleicht sie ein Gefühl von panischer Intensität: Die wollen uns hier nicht! Noch nie zuvor hat sie sich unsicherer in Deutschland gefühlt. Dabei hatte sich doch kaum jemand besser integriert als ihre Eltern. Sie waren fleißig, höflich, sprachen Deutsch. Sie sagt: „Ich habe das Vertrauen verloren in diesen Staat.“Noch viel schlimmer ist, dass sie ihren Vater nun, da bekannt ist, dass die Neonazis ihn getötet haben, mit jedem Tag mehr vermisst. Jetzt spürt sie plötzlich wieder das Loch, das er hinterlassen hat. Doch bevor sie im Juni in das Land ihrer Eltern gehen wird, wie lange auch immer, will sie mit der Kraft, die ihr noch verblieben ist, die „Öffentlichkeit aufrütteln“. Sie will nicht, dass sich „so etwas jemals wiederholt“, auch deshalb wird sie am 23. Februar auf der Gedenkveranstaltung im Berliner Konzerthaus reden, gemeinsam mit zwei weiteren Töchtern von anderen Familien, deren Väter getötet wurden.
Aber die Wende, die sie sich so ersehnt, diese emotionale Befreiung, das kann dauern. Vielleicht gelingt sie ihr, wenn sie Beate Zschäpe im Gerichtssaal als Nebenklägerin gegenübersitzt und sie endlich fragen kann: Warum? Das will sie tun, dafür wird sie zurückkommen, egal, von wo, um dieses Kapitel in ihrem Leben so gut es eben geht abzuschließen. Denn eines sollen alle Neonazis wissen: „Dass ich in die Türkei gehe, heißt nicht, dass ich nicht zu Deutschland gehöre.“