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Die Versammlungsfreiheit


(1) Alle Deutschen haben das Recht, sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu versammeln.

(2) Für Versammlungen unter freiem Himmel kann dieses Recht durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes beschränkt werden.


Der Grundgesetz-Artikel zur Versammlungsfreiheit wirkt auf den ersten Blick nicht besonders bedeutend. Trotzdem verbirgt sich dahinter eines der Rechte, die einen demokratischen Staat überhaupt erst ausmachen. Außerdem kann man bei genauerem Hinsehen aus diesem Artikel Einiges darüber lernen, wie das deutsche politische System insgesamt gedacht ist.


Es ist nicht übertrieben zu sagen: Wo es keine Versammlungsfreiheit gibt, kann keine Demokratie herrschen. Denn die entscheidende Grundidee von Demokratie ist, dass alle Bürger das gleiche Recht besitzen, sich politisch zu betätigen, politische Ideen zu entwickeln, für diese politischen Ideen zu werben, und auch gegen andere politische Programme oder gegen die Politik der Regierung öffentlich zu protestieren. Demokratie bedeutet schließlich v. a. Wettbewerb: Wettbewerb verschiedener politischer Ideen und Programme um die Zustimmung der Bürger. Aber wie könnte man an diesem Wettbewerb gleichberechtigt teilnehmen und für die eigenen politischen Ideen werben, wenn man sich nicht mit Anderen nach Belieben treffen und mit ihnen sprechen könnte, worüber man will, ohne dass man das vorher bei einer staatlichen Stelle anmelden oder gar genehmigen lassen müsste?


Im Alltagsleben trifft man sich mit Anderen natürlich für alle möglichen Zwecke; und meistens bestimmt nicht, weil man über Politik reden möchte. Und Art. 8 GG schützt, wörtlich genommen, ganz allgemein das Recht, sich mit Anderen zu versammeln; denn der Artikel sagt nicht, dass nur Versammlungen geschützt sind, die politische Zwecke haben. Aber das ändert nichts an der demokratischen Bedeutung der Versammlungsfreiheit. Entscheidend für ein freiheitliches demokratisches System ist nicht, dass sich alle Bürger tatsächlich ständig um Politik kümmern, sondern dass sich alle Bürger mit Anderen zu politischen Aktivitäten zusammentun können, wenn sie wollen. Insbesondere müssen demokratische Bürger das Recht haben, ihre politische Meinung öffentlich und gemeinsam mit Anderen auszudrücken – und zwar auch dann, wenn es um politischen Protest geht, der der herrschenden Regierung nicht gefällt. Und das wäre nicht gesichert, wenn die Versammlungsfreiheit nicht als ein Grundrecht aller Bürger garantiert wäre.


Dass man bei der Formulierung im Grundgesetz in erster Linie an diese politische Bedeutung der Versammlungsfreiheit gedacht hat, kann man schon daran erkennen, dass sie nicht als allgemeines Menschenrecht, sondern als Bürgerrecht betrachtet wird: Nicht alle Menschen, sondern nur die Bürger der Bundesrepublik („Alle Deutschen ...“) haben dieses Recht.
Hinsichtlich der Versammlungsfreiheit, besonders für politische Zwecke, gibt es also einen deutlichen Unterschied zwischen Personen, die deutsche Bürger sind, und Personen, die sich in Deutschland aufhalten, vielleicht sogar dauerhaft in Deutschland leben, aber nicht deutsche Bürger sind. Wir haben hier eine erste – im GG bewusst angelegte – Einschränkung der Versammlungsfreiheit, die etwas mit dem zugrunde gelegten Verständnis von Demokratie zu tun hat.


Das bedeutet selbstverständlich nicht, dass sich Ausländer in Deutschland gar nicht versammeln dürfen – das wäre absurd. Es bedeutet nur, dass ihre Freiheit, dies zu tun, nicht unter dem besonderen Schutz des Grundgesetzes steht, dass es also dem Gesetzgeber nicht verboten ist, durch einfache Gesetze zu regeln, ob oder unter welchen Bedingungen sich Nicht-Bürger versammeln dürfen.


Konzentrieren wir uns nun aber auf die Versammlungsfreiheit für die Bürger des Systems, wie es in Art. 8 GG garantiert ist. Auch das ist keine völlig uneingeschränkte Freiheit. Da sie für die Demokratie von so zentraler Bedeutung ist, sollten Demokraten mit Einschränkungen dieser Freiheit jedoch sehr kritisch umgehen und sie nur akzeptieren, wenn es sehr wichtige Gründe dafür gibt. Betrachten wir kurz, welche Einschränkungen der Versammlungsfreiheit von Bürgern Art. 8 formuliert und wie man diese begründen kann:


1) Die erste Einschränkung ist ziemlich einleuchtend: Nur Versammlungen, die „friedlich und ohne Waffen“ stattfinden, sind grundgesetzlich geschützt. Einleuchtend ist das aus zwei starken Gründen:
* Erstens widerspricht es dem Grundgedanken der Demokratie, politische Kontroversen unfriedlich und gewaltsam auszutragen. Demokratie verlangt von den Bürgern, dass sie sich gegenseitig als politisch gleichberechtigt anerkennen und bereit sind, die Auseinandersetzung über politische Ideen und Programme nur mit Argumenten zu führen.
* Zweitens ist der Schutz aller Menschen vor der Gewalt anderer Menschen eine der wichtigsten Aufgaben des Staates überhaupt. Das Menschenrecht auf Leben und auf körperliche Unversehrtheit ist in Art. 2 GG verankert; der Staat muss es gewährleisten.
In einem demokratischen System, das das Menschenrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit ernst nimmt, können also zwangsläufig nur Versammlungen geduldet werden, die friedlich und ohne Waffen stattfinden.


2) Die zweite Einschränkung ist weniger zwingend und wird deswegen auch viel mehr diskutiert. Sie besagt, dass für Versammlungen „unter freiem Himmel“ einschränkende Regelungen gesetzlich getroffen werden können.
Begründet wird dies mit der Vermutung, dass Versammlungen unter freiem Himmel eine besondere Gefahr bergen, die Grundrechte unbeteiligter Dritter zu verletzen und den geordneten Ablauf des öffentlichen Lebens zu stören.
So bringen z. B. unangemeldete Demonstrationen vielleicht den Verkehr zum Erliegen, versperren Notarztwagen und Pflegediensten die Durchfahrt, verhindern, dass Menschen ihre Züge oder Flüge erreichen und ihre Termine einhalten können usw. Deswegen müssen Demonstrationen in Deutschland – so schreiben es Versammlungsgesetze vor – angemeldet werden: damit sich die Polizei darauf einstellen kann, den Verkehr zu regeln und ggf. umzuleiten, damit Termin und Ort der Demonstration allgemein bekannt ist, so dass andere Menschen entsprechend planen können, usw.
Eine andere gesetzliche Auflagen, die die Freiheit von Versammlungen unter freiem Himmel einschränkt, ist das sogenannte „Vermummungsverbot“, das verhindern soll, dass Personen, die bei Demonstrationen Straftaten begehen (z. B. geparkte Autos oder Fensterscheiben am Demonstrationsweg beschädigen), nicht erkennbar sind und deswegen nicht gerichtlich belangt werden können.
Wegen der Schutzfunktion des Staates gegenüber allen Menschen sind solche Einschränkungen sicher oft tatsächlich gerechtfertigt. Aber trotzdem sind sie immer problematisch, weil sie ziemlich leicht missbraucht werden können, um politische Meinungen zu unterdrücken. Zwischen gerechtfertigten Einschränkungen der Versammlungsfreiheit zum Schutz der Grundrechte Dritter einerseits und der nicht zu rechtfertigenden Unterdrückung politischer Meinungsäußerung andererseits ist es manchmal eine schmale Gratwanderung. Polizei- und Ordnungsbehörden im demokratischen Rechtsstaat müssen immer aufpassen, dass sie für Versammlungen unter freiem Himmel nicht so massive Auflagen machen, dass damit die Versammlungen praktisch unmöglich werden.


Für Politiker ist es natürlich nie besonders angenehm, mit dem Risiko zu leben, dass sich unzufriedene Bürger versammeln und gegen sie und ihre Politik protestieren könnten. Demokratische Politiker müssen das aber aushalten.


In vielen Verfassungen wird Versammlungsfreiheit „auf dem Papier“ garantiert. Wie damit tatsächlich umgegangen wird, sagt viel darüber, ob es sich um ein demokratisches System handelt. Die Verfassung der Russischen Föderation z. B. gewährt Versammlungsfreiheit in Art. 31. Dass russische Bürgerrechtler das Risiko von Verhaftung oder Verletzung auf sich nehmen und an jedem 31. eines Monats – in symbolischer Erinnerung an Art. 31 ihrer Verfassung – für die Durchsetzung der Versammlungsfreiheit demonstrieren, spricht Bände.
Die Furcht nicht-demokratischer Machthaber vor politischen Demonstrationen und ihren möglichen destabilisierenden Folgen ist gelegentlich so groß, dass sie jegliche nicht ausdrücklich genehmigte Versammlung von mehr als drei Personen auf der Straße verbieten (so etwa in Malaysia durch das Polizeigesetz 1967) oder dass sie friedliche Proteste und Forderungen nach politischen Veränderungen von Panzern niederwalzen lassen, wie z. B. in Mexiko 1968, in Peking 1989 oder in Libyen und Syrien im Frühjahr 2011.
Wie irritierend und störend die Versammlungsfreiheit auf nicht-demokratische Machthaber wirkt, zeigt schließlich auch die Aussage eines syrischen Oppositionellen zur Situation in seinem Land: „Das Freitagsgebet und Fußballspiele sind einfach die einzigen Anlässe, an denen sich größere Mengen von Leuten versammeln dürfen, ohne sich verdächtig zu machen. Die Fußballspiele wurden aus gutem Grund inzwischen alle abgesagt.“ (ZEIT Online vom 20. 04. 2011; Ahed al-Hendi im Interview mit Julia Jaki).

Wo die friedliche, gewaltlose Versammlung von Bürgern als „verdächtig“ angesehen wird, kann Demokratie nicht existieren. Deswegen ist der so unbedeutend wirkende Art. 8 GG in Wahrheit so ungeheuer wichtig.

Prof. Dr. Ruth Zimmerling leitet den Bereich Politische Theorie am Institut für Politikwissenschaft an der Johannes Gutenberg-Universität in Mainz. Ihre Forschungsschwerpunkte umfassen Politische Philosophie, Machttheorien, Spieltheorien, sowie Demokratietheorie und –vergleich. Sie veröffentlichte u. a. Influence and Power – Variations on an Messy Theme, Normative Systems in Legal and Moral Theory und Facetten der Wahrheit.