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Montag, 11.07.2011

Srebrenica: Völkermord im 20. Jahrhundert

Khutba des Rais-ul-Ulama Dr. Mustafa Cerić anlässlich des sechzehnten Jahrestages des gemeinsamen Totengebetes in Potocari/Srebrenica

Liebe Brüder und Schwestern,
heute ist der 11. Juli 2011, der Tag an dem in Potocari mehr als 600 unserer getöteten Brüder aus Srebrenica zu Grabe getragen werden. Die massive Tötung bosnischer Muslime begann am 11. Juli 1995, einem Jahr in dem ein Genozid (Völkermord) als Folge einer Kette von Ereignissen über unserem Volk hereinbrach. Diese Freitagspredigt ist vor allem Diesen gewidmet, aber auch allen anderen Opfern von Völkermorden des zwanzigsten Jahrhunderts.

Denn, zweifelsfrei, war das letzte Jahrhundert eines der blutigsten der modernen Zeit. Sowohl im relativen als auch im absoluten Sinne viel gewalttätiger als irgendeine Ära zuvor. Für Bosnien und Herzegowina wird das zwanzigste Jahrhundert aufgrund der bitteren Tatsache in Erinnerung bleiben, dass der Ruf nach dem „never again“ eines Völkermords, von der Weltorganisation UN, welche im Endeffekt nicht in der Lage war die Menschen vor einem Genozid zu schützen, überhört und das bosnische Volk im Stich gelassen wurde.

Es muss aber gesagt werden, dass der Sicherheitsrat der UN verantwortungsbewusst reagiert und gehandelt hat, als er ein internationales Tribunal ins Leben gerufen hat, welches für die Verhaftung derjenigen Personen aus dem ehemaligen Jugoslawien zuständig war, die auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawien gegen internationale Menschenrechte verstoßen haben.

Wenn wir tatsächlich zukünftige Völkermorde verhindern möchten, müssen wir mehr als Mitleid gegenüber den betroffenen Opfern aufbringen. Wir müssen die Tiefe der Psychologie des Mörders verstehen, ebenso aber auch die Handlungsunfähigkeit bzw. Apathie derjenigen, die einem Völkermord seelenruhig zusehen.

Wir müssen klar festlegen was es denn genau ist, das „normale“ Menschen dazu bringt andere Menschen zu hassen und vor allem andere Völker so sehr zu hassen, dass sie das Bedürfnis verspüren diese systematisch auszurotten. Doch auch die Menschen, die die Täter bei dem Genozid unterstützen oder stumm daneben stehen während einer verübt und Unschuldige grausam ermordet werden, müssen eines der Ziele unserer Forschung sein. Auch diese Menschen müssen wir kennenlernen.

Wir müssen uns über den Holocaust und die Genozide nicht nur als historische Gegebenheit informieren, nicht nur weil wir selbst bewusste Weltbürger werden wollen, sondern vor allem weil wir unseren Kindern verdeutlichen müssen, welche Gefahren Rassismus, Antisemitismus, Islamophobie und andere Beispiele menschlicher Intoleranz in sich bergen. Wir müssen unsere Nachkommen so erziehen, dass sie die Demokratie und die Menschenrechte lieben und sie darin bestärken alle Formen von Hass, Intoleranz und ethnischen Vorurteilen aus ihren Herzen zu beseitigen.

Wir müssen lernen, den Wert des Lebens und die Integrität des Lebens wertzuschätzen. Wir müssen lernen unseren Glauben wertzuschätzen und Differenzen religiösen Lebens zu akzeptieren. Wir müssen lernen die Freiheit zu schätzen und die Grenzen der menschlichen individuellen Freiheit zu respektieren, denn meine Freiheit endet dort wo die Freiheit eines Anderen beginnt. Wir müssen lernen den Besitz und das Eigentum Anderer zu achten. Wir müssen uns den Wert der Menschenwürde bewusst machen und die Andersartigkeit des Gegenübers respektieren.

Möge aus Rache Gerechtigkeit werden!

Bei der Vorbereitung dieser Freitagspredigt habe ich im heiligen Qur’an nach Versen gesucht, in denen man die Geschichte Srebrenicas erkennen kann. Ich fand diese im 90. Kapitel des Qur’an, der Sura „al-Balad“ – die Stadt. Allah der Erhabene sagt:

لَا أُقْسِمُ بِهَذَا الْبَلَدِ. وَأَنتَ حِلٌّ بِهَذَا الْبَلَدِ. وَوَالِدٍ وَمَا وَلَدَ. لَقَدْ خَلَقْنَا الْإِنسَانَ فِي كَبَدٍ. أَيَحْسَبُ أَن لَّن يَقْدِرَ عَلَيْهِ أَحَدٌ. يَقُولُ أَهْلَكْتُ مَالًا لُّبَدًا. أَيَحْسَبُ أَن لَّمْ يَرَهُ أَحَدٌ. أَلَمْ نَجْعَل لَّهُ عَيْنَيْنِ. وَلِسَانًا وَشَفَتَيْنِ. وَهَدَيْنَاهُ النَّجْدَيْنِ...

„Nein! Ich rufe zum Zeugen diesen Ort, von dem ich vertrieben und getötet wurde!
Und ich rufe zum Zeugen, die Eltern, die mich gezeugt haben.
Meint er, niemand hätte Macht über ihn?
"Er sagt: ""Ich habe viel Vermögen ausgegeben."
"Meint er, niemand hätte ihn gesehen?
Haben Wir ihm nicht zwei Augen gemacht
und eine Zunge und zwei Lippen?

Und ihm haben Wir die beiden Wege gezeigt,- den rechten und fehlgeleiteten“ (Koran, 90: 1-10)

Srebrenica ist die Stadt, in der der Mensch geboren wurde und in dem er seit Menschengedenken lebte.

Srebrenica ist die Stadt in dem der Mensch sich um seines Leben willens bemühte. Srebrenica ist die Stadt, in der der Mensch so lange glücklich war, bis derjenige kam, der dachte dass ihm nichts und niemand etwas anhaben könnte. Der sagte: „Das ist die Rache!“ denn er dachte, dass niemand ihn sehen würde.

Srebrenica ist die Stadt in der es erlaubt war, dass ein wehrunfähiger Mann aus seinem Haus vertrieben wurde und dass er unschuldig getötet wurde, nur weil er ein Muslim war.

Es wurde aber vergessen, dass der Mensch zwei Augen hat, mit denen er zu sehen vermag. Es wurde vergessen, dass er eine Zunge hat und zwei Lippen und dass er sprechen kann. Er hat zwei Wege zur Auswahl. Es steht im frei einen von diesen Wegen zu wählen – den Weg des Guten oder den Weg des Bösen.

Das heißt also, dass der Mensch die Wahl hat zwischen Gut und Böse. Darin manifestiert sich auch sein Wert als Mensch. Darin verdeutlicht sich auch sein moralischer Wert. Denn hätte er keine Wahl, dann müsste man nach seiner moralischen Verantwortung nicht suchen.

Man kann nicht von einem Menschen sagen, dass er gut sei, wenn er nicht von dem Bösen ablässt, dass er hätte begehen können und dass er nicht begangen hat. Moralisch gut zu sein bedeutet frei den Weg des Guten zu wählen im Verhältnis zu dem was Böse ist. Der Mensch erntet keinerlei moralischen Verdienst, wenn das was er tut unfreiwillig geschieht – selbst wenn seine Taten gut sind. Nur einen freien Menschen kann man einem moralischen Gericht unterwerfen. Einen Unfreien kann man moralisch nicht zur Rechenschaft ziehen.

Heute ist nirgendwo auf der Welt das Bild dieses Menschen, der die Wahl zwischen Gut und Böse hat so deutlich wie in Srebrenica. Das Bild des Menschen, der die Wahl hat zwischen Menschenliebe und Menschenhass. Dieser Mensch hat leider das Böse anstatt das Gute gewählt. Er hat den Menschenhass, der Menschenliebe vorgezogen.

Er dachte, dass seine Macht über jeder anderen Macht stünde. Er dachte, dass Srebrenica keine moralischen Fragen aufwerfen würde.

Seit dem 11. Juli 1995 bedeutet Srebrenica mehr als die Stadt Srebrenica und der Name selbst. Srebrenica ist der Ort der Prüfung des Bewusstseins all Dieser, die ein grausames Verbrechen verhindern hätten können und es nicht getan haben. Srebrenica ist ein Name, der um die Welt geht um das Bewusstsein und Gewissen der Menschen zu wecken und diese dazu zu bringen sich mit sich selbst auseinanderzusetzen und ihn dazu bringen sich bei der Frage nach Gut und Böse, für das Gute zu entscheiden. Denn es gibt keinen anderen Weg für die Menschheit, wenn es ihr Bestreben ist in den Früchten ihrer Güte zu schwelgen.

Ich weiß nicht wie bewusst wir uns der Herausforderung dieser Stadt sind, in der wir heute die Wahl zwischen Gut und Böse haben. Unsere Wahl ist der Weg des Guten. Unsere Auswahl muss der Weg der Rückkehr dorthin sein, wo unser Land und unsere Häuser stehen. Unser Weg muss der Weg des Glaubens und der Moral sein. Unsere Wahl muss der Weg der Weisheit und des Mutes sein, der Weg der gegenseitigen Unterstützung dabei, Srebrenica zu einer Stadt zu machen, die an eine glücklichere Zukunft erinnert und nicht eine Stadt sein zu lassen, die an eine unglückliche Vergangenheit erinnert.

Das ist der richtige Ort und der richtige Zeitpunkt dafür bei Gott und dieser Stadt zu schwören, und bei den Eltern und demjenigen, den sie zur Welt gebracht haben, dass wir uns auf dem Weg des Guten bemühen werden und dem Weg der Rückkehr nach Srebrenica, wo wir das Heilmittel für unsere verwundeten Seelen finden können.

Oh Gott, ermögliche es uns zwischen zwei Wegen den Weg des Guten zu wählen.

Oh Gott, lehre uns, uns mit moralischen Werten zu stärken, welche uns deiner Zufriedenheit annähern.
Oh Gott, veredle unsere Seelen mit Deiner Schönheit und Deiner Güte, damit all das was wir sagen oder tun eine Freude für die Anderen ist!

Oh Gott, Lehre uns, dass Toleranz der höchste Grad von Stärke, und das Bedürfnis nach Rache das erste Zeichen von Schwäche ist!

Oh Gott, Wenn wir gegen Menschen sündigen, dann gebe uns die Kraft zur Entschuldigung! Und wenn Menschen gegen uns sündigen, dann gebe uns die Kraft zu verzeihen!
Oh Gott, Möge aus Trauer Hoffnung werden!
Möge aus Rache Gerechtigkeit werden!
Mögen aus den Tränen der Mütter Gebete werden!
Dass Srebrenica nie mehr geschieht! Niemandem, nirgendwo!
Amin!

ÜbersetzerIn: Selveta Bibic. München, 08.07.2011