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Dienstag, 14.06.2011
Der Islam im Schulbuch für deutsche Siebtklässler – Der schmale Grad zwischen allgemeiner Informationsvermittlung und unkritischer Weitergabe bestehender Klischeevorstellungen an die junge Generation
Praktische Philosophie - Nordrhein-Westfalen für 7./8. Schuljahr [Taschenbuch 272 Seiten]- Roland Wolfgang Henke, Eva-Maria Sewing und Brigitte Wiesen (Herausgeber). Verlag: Cornelsen Verlag (2008) ISBN-13: 978-3061200145
Mediale Symboldiskurse zum Gegenstand des Lehrmaterials ausgewählt Ressentiments über fremde Kulturen und Religionen sowie die Konstruktion von Feindbildern ergeben sich gewöhnlich aus lückenhafter und zumeist einseitiger Wissensvermittlung, die nicht reflektiert, sowie auf ihren Wahrheitsgehalt und ihre Aussagekraft hin überprüft wird. Ein von Bedrohungsszenarien geprägtes Islambild in der deutschen Gesellschaft ist folglich in hohem Maße auf die mangelhafte Ausgewogenheit der medialen Verbreitung über den Islam an einen Rezipientenkreis, dem das notwendige Hintergrundwissen fehlt, zurückzuführen. Das Bewusstwerden des begrenzten Einflusses auf die allgemeine mediale Berichterstattung lässt deshalb dem Umfang und den Inhalten der Wissensvermittlung über Islam an staatlichen Schulen Bedeutung und den mit der Vermittlung beauftragten Pädagogen und Erstellern des zugehörigen Lehrmaterials eine hohe Verantwortung zukommen. Aus der Erkenntnis heraus, dass die christlich geprägte Majorität der Schüler in Deutschland im Religionsunterricht vorwiegend über die Inhalte der eigenen Religion unterrichtet wird, haben einige Bundesländer ein Unterrichtsfach Philosophie eingerichtet, in dem u.a. die Grundlage der anderen Weltreligionen – einschließlich des Islam – möglichst aus neutraler distanzierter Perspektive weitergegeben werden soll.
Der Cornelsenverlag hat für die Zielgruppe der Realschüler der siebten Klasse für dieses Fach ein Lehrbuch herausbringen lassen, in welchem dem Islam ein 13 Seiten langes Kapitel gewidmet ist und auch in den übrigen Teilen immer wieder auf Sichtweisen bzw. Praktiken im Islam sowie bei Muslimen Bezug genommen wird. Verlag, Herausgeber und Autoren sind sich zweifellos bewusst, in welchen Kontexten Jugendliche in Deutschland gewöhnlich die Informationen aufnehmen, die sie zu ihrem Islambild zusammenfügen. Deshalb nehmen jene „Symbolthemen“ der allgemeinen Medienöffentlichkeit wie die Einstellungen des Islam zur Geschlechterrollenfrage – einschließlich der Debatten über Kopftücher und Ehrenmorde –, aber auch zur religiös gerechtfertigten Gewalt in diesem auf Allgemeinbildung zielenden Lehrbuch einen überproportionalen Raum ein.
Sofern damit eine Widererlegung nicht belegter und teilweise nachweislich inkorrekter Klischeevorstellungen einhergeht, mag diese Auswahl Berechtigung besitzen. Die Gefahr besteht allerdings, über jene Themenauswahl selbst zur Konstruktion jenes auf Randphänomene fokussierten deutschen Islambildes beizutragen. Der Hinweis auf die Stellungnahme des Zentralrates der Muslime in Deutschland zum Thema „Ehrenmord“, aufgetreten bei einer türkischstämmigen Familie in Berlin, mag einerseits die fehlende Akzeptanz dieser Praxis bei anerkannten Islamvertretern herausstellen, andererseits wird auf dieser Weise ohne erkennbaren kausalen Zusammenhang eine Assoziation zwischen der Tat und dem mutmaßlichen muslimischem Glauben des Täters erst hergestellt.
Vorurteilsabbau mittels Nachzeichnung bekannter Gesellschaftsklischees?
Das spezifische Islamkapitel beginnt mit einer zusammenfassenden, für nichtmuslimische Siebtklässler sogar relativ umfangreichen Darstellung des Lebenswegs des Propheten Mohammed und seiner Verkündigung. Ebenso thematisiert es den Stellenwert des Korans für die Muslime. Zwar werden die Schüler in den zugehörigen Fragestellungen zu Vergleichen mit der Bibel bzw. dem Schriftglauben von Juden und Christen herausgefordert, in jüdisch-christlichen Kreisen häufig anzutreffende Vorurteile zum Schrifttum des Islam tauchen dabei nicht auf oder stehen zumindest hinter der objektiven Vermittlung der historischen Tatsachen wie der Präsentation der allgemeinen islamischen Glaubensinhalte zurück.
Berechtigung besitzt ebenso die Tatsache, dass bei der Vermittlung über den Glaubensalltag nicht nur auf die muslimische Minorität in Deutschland, sondern ebenso auf majoritär muslimische Gesellschaften wie beispielsweise in Syrien die Aufmerksamkeit gelegt wird. Unter der Überschrift „Wie gläubige Muslime ihren Alltag leben“ erscheint der Reisebericht eines deutschen Nichtmuslimen wie Ralf-Uwe Beck jedoch ungeeignet zu präsentieren. Die Darstellung aus der Sicht eines Muslimen hätte die mit dem Leben und der Religionspraxis verbundenen Wertempfindungen authentischer vermitteln können als die distanzierte Beobachtung eines dem eigenen Kulturkreis entstammenden Außenstehenden. Schließlich hätte ein muslimischer Syrer bei der Beschreibung des Lebens in einer deutschen Großstadt seinen Landsleuten zwar möglicherweise viel Information über die deutsche Kultur vermittelt, einen emotionalen Bezug zum Christentum oder gar zum Glaubensleben von Christen könnte er als Nichtchrist wohl kaum herstellen.
Angesichts der Tendenz der Massenmedien zur Pauschalisierung erfährt der Verweis auf divergente Interpretationen des Islam besondere Relevanz, womit die Frage „Gibt es den einen Islam?“ als Kapitelüberschrift hohe Erwartungen erweckt. Die Kopftuchdebatte als Exempel zur Herausstellung dieser Auslegungsdivergenzen fördert jedoch die ressentimentbeladene Assoziation des Islam mit dem Kopftuch, das zwar in der Tat ein äußerlich sichtbares Erkennungszeichen von Musliminnen darstellt, jedoch für die innermuslimische Debatte über die zeitgemäße Auslegung ihrer Religion lediglich den Status einer untergeordneten Detailfrage besitzt. Die häufig beklagte oberflächliche Assoziation von konservativen Muslimen mit Befürwortern bzw. von liberalen Muslimen mit Gegnern des Kopftuchs wird durch das präsentierte Statement der aus den Populärmedien hinlänglich bekannten Islamkritikerin Seyran Ates sogar explizit gefördert.
Zwar tritt das Lehrbuch der häufigen pauschalen Gleichsetzung von Koran und Scharia entgegen und hebt die Möglichkeit der zeitgemäßen Auslegung der Schariavorgaben hervor. Das besondere Augenmerk auf die drakonischen Körperstrafen fördert jedoch kein realistisches Schariabild, da diese Strafen zum einen in den meisten islamischen Staaten nicht praktiziert werden und zum anderen nur einen kleinen Bestandteil der alle Lebens- und Rechtsbereiche betreffenden Scharia beinhalten. Lobend hervorzuheben ist die Betonung der friedlichen Grundausrichtung des Islam, die angesichts der häufigen medialen Berichte über islamisch gerechtfertigte Selbstmordattentate in der deutschen Mehrheitsgesellschaft zu wenig gewürdigt wird. Ebenso scheint der Hinweis angebracht, das Christentum werde und wurde in gleichem Maße wie der Islam für die Rechtfertigung von Gewalt instrumentalisiert. Die Konflikte in der historischen Begegnung beider Religionen zueinander wie zum Judentum sollten zwar nicht geleugnet werden, dem hätte jedoch noch ein Beitrag gegenübergestellt werden können, der auf die produktive historische Kooperation in Wirtschaft und Wissenschaft, beispielsweise im maurischen al – Andalus, als Vorbild für die Gegenwart verweist.
Wenn die Berufung der Kreuzzugspropaganda auf eine Bibelstelle mit deren zusammenhangloser Interpretation durch die Propagandisten erläutert wird, wäre es bei einer für Gewalt herangezogenen Koranpassage ebenso notwendig zu erwähnen gewesen, dass dieser auch eine friedensfördernde Interpretation herausgezogen werden kann. Anderenfalls entsteht der Eindruck, die Bibel werde lediglich gewaltfördernd aufgefasst, der Koran sei aber in der Tat gewaltfördernd. Das an die Schüler zu vermitteln beanspruchte Bild von einem prinzipiell am friedvollen Miteinander interessierten Islam wird auf diese Weise wieder dunkel übermalt.
Allgemeine Wissensvermittlung sollte gegenüber populistischen Stellvertreterdebatten dominieren
Resümierend kann das vorgegebene Ziel des Lehrbuchs einer objektiven Vermittlung von Allgemeinwissen über Islam an deutsche nichtmuslimische Siebtklässler zur angemesseneren Einordnung mit Islam in Kontext gebrachter Medienberichte als unterstützenswürdig gewertet werden - zumal diese in den zugehörigen Aufgaben explizit zum Dialog mit Muslimen aufgefordert werden. Die häufigen Gegenüberstellungen zum Christentum erscheinen an eine westlich christlich geprägte Schülerschaft gerichtet ebenfalls naheliegend. Die breit geführte Diskussion spezifischer theologischer Streitfragen ist in einem Lehrbuch der siebenten Klasse für Realschüler nicht zweckdienlich.
Zum Abbau bestehender Ressentiments und verbreiteter Negativassoziationen über den Islam kann die schulische Erziehung jedoch nur erfolgreich beitragen, wenn sie die Sichtweise der Betreffenden, in diesem Fall der Muslime, stärker in den Beiträgen berücksichtigt und die präsentierten Debatten und Phänomene im qualitativen wie quantitativen Verhältnis präsentiert, das sie innerhalb des Islam bzw. bei gegenwärtigen Muslimen tatsächlich einnehmen.
Autor: Dr. Mohammed Khallouk ist Politologe, Islamwissenschaftler und habilitiert in München. Er berät den Zentralrat mit seinen wissenschaftlichen Expertisen