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Leben - Elementarster Wert des Grundgesetzes

Wenn man sich Artikel 2 Absatz 2 durchliest, wird man seinen Inhalt zunächst als eine Selbstverständlichkeit betrachten:
  1. Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Die Freiheit der Person ist unverletzlich. In diese Rechte darf nur auf Grund eines Gesetzes eingegriffen werden.

Allerdings war das, was so selbstverständlich klingt, eine Neuschöpfung in der deutschen Verfassungsgeschichte und Reaktion auf die Verbrechen des nationalsozialistischen Staates. Die Erhaltung und der Schutz des Lebens sind demnach der elementarste Wert des Grundgesetzes und Vorbedingung für Artikel 1 Absatz 1, indem der Staat verpflichtet wird, die Würde des Menschen zu schützen und zu achten. Träger dieses Grundrechts ist jeder Inländer, deshalb ist es deutschen Behörden auch untersagt, einen Ausländer in ein Land abzuschieben, wenn dort sein Leben oder seine körperliche Unversehrtheit bedroht ist. Auch hat der deutsche Staat nicht das Recht die Todesstrafe auszusprechen, hierzu Artikel 102: Die Todesstrafe ist abgeschafft. Die Aktualität von Artikel 2 Absatz 2 zeigt sich aber auch hinsichtlich der Atomkatastrophe in Japan, da er die Frage aufwirft, ob die Abkehr von der Kernenergie nicht eine Frage des ob, sondern des wann ist. Ebenso ist Folter in unserem Land untersagt, daher heißt es in Artikel 104 Absatz 1:
  1. Die Freiheit der Person kann nur auf Grund eines förmlichen Gesetzes und nur unter Beachtung der darin vorgeschriebenen Formen beschränkt werden. Festgehaltene Personen dürfen weder seelisch noch körperlich misshandelt werden.

Gerade in der gegenwärtigen Zeit, die geprägt ist durch den Kampf gegen den Terror wird wiederholt die Frage in den Raum gestellt, ob die Anwendung von Folter – etwa durch Androhung und Zufügung von Schmerzen oder dem Einflößen von Wahrheitsdrogen – im Zuge der Gefahrenabwehr nicht erlaubt sein müsse, ob der Zweck nicht die Mittel heilige. Doch Artikel 1 Absatz 1 stellt die Fundamentalnorm des Grundgesetzes dar, die nicht zur Diskussion stehen darf – auch nicht im Einzelfall –, andernfalls muss man polemisch formulieren: Die Würde des Menschen war unantastbar. Wer ernsthaft eine Abwägbarkeit und Abstufung der Menschenwürde und damit dem Recht auf körperliche Unversehrtheit in Betracht zieht, sollte sich im Klaren sein, worüber er spricht. Sicherlich stellt die ständige in der Luft schwebende und jederzeit über uns hereinbrechende Bedrohung von Terrorismus eine Extremsituation dar, allerdings dürfen wir als deutsche Staatsbürger auch nicht vergessen, wer wir sind, woher wir kommen und was unsere Werte sind, andernfalls drohen wir uns selber zu verlieren. Es muss einen signifikanten Unterschied geben, an dem wir festhalten und der uns ausmacht – auch wenn wir dafür hohe Opfer erbringen müssen –: Folter ist ein Bruch mit der Zivilisation. Wenn wir uns darauf einlassen, wird bald schon aus Einzelfällen eine Kaskade von Extremsituationen, wird aus ein bisschen Folter eine Wissenschaft zum Erzwingen von Geständnissen. Dann ist niemand vor dem Staat mehr sicher und unsere Demokratie, die ein funktionales Staatsverständnis besitzt, verkommt zu einem totalitären Staat. Vielleicht sollten wir uns an dieser Stelle die Funktion des Staates ins Gedächtnis rufen. Hier kann auf die Argumentationsfigur des Gesellschaftsvertrages zurückgegriffen werden, da er sich dazu eignet politische Herrschaft zu erklären und zu legitimieren. Herrschaft ist nichts anderes als ein Vertrag, den die Menschen in einem vorstaatlichen Zustand miteinander geschlossen haben. Im vorstaatlichen Zustand sind alle Menschen mit der natürlichen Knappheit der meisten Güter konfrontiert. Jedoch bringen die Knappheit der Güter und das daraus folgende Sicherheitsdilemma den Menschen dazu, sich selbst der Nächste zu sein, sich selbst ausreichend mit essentiellen Gütern auszustatten und sich selbst vor möglichen Überfällen durch andere Menschen zu schützen. Da das dominierende Lebensgefühl Angst ist, wird der Mensch nicht darauf warten, dass er angegriffen wird, sondern versuchen, den anderen Menschen zuvorzukommen und so viele wie nur möglich zu unterwerfen. Das Sicherheitsdilemma kann er nur überwinden, wenn er sich die ganze Erde und alle, die auf ihr Leben, Untertan macht. Da der Grund und Boden den Menschen von Gott zur Verfügung gestellt wurde, ist er Gemeineigentum aller Menschen. Indem ein Mensch ein Teil dieses Bodens für sich beansprucht und ihn bearbeitet, wird dieser Boden zum Privateigentum dieses Menschen. Die daraus folgende ungleiche Verteilung des Grundbesitzes erhöht dabei noch das Konfliktpotential im vorstaatlichen Zustand. Das bisher beschriebene Verhalten des Menschen ist nicht zu verurteilen, da es im Einklang mit dem Selbsterhaltungstrieb steht. Der Philosoph Thomas Hobbes (gest. 1679) sah in der Verteidigung, der Mitbewerbung auf die Herrschaft und den damit einhergehenden Ruhm den Hauptgrund, dass die Menschen sich untereinander bekämpfen. Solange die Macht des Menschen nicht eingeschränkt werde, gelte das Primat des Stärkeren. Hobbes beschreibt diese Situation treffend als Krieg aller gegen alle. Solange dieser Zustand andauert und jeder Mensch mit Verteidigung und Töten beschäftigt ist, bleibt die Entwicklung des Menschen statisch, da kein „Ackerbau, keine Schifffahrt, keine bequemen Wohnungen, keine Werkzeuge höherer Art, keine Länderkenntnis, keine Zeitrechnung, keine Künste, keine gesellschaftlichen Verbindungen“, so Hobbes, stattfinden. Die einzige Verbindung, die der Mensch zulässt, ist die zum anderen Geschlecht, um dadurch seinen biologischen und seinen Selbsterhaltungstrieb zu stillen. Die Frau wird dann auch zum strategischen Mittel, um den Kriegszustand zu überwinden. Nur durch das Herstellen verwandtschaftlicher Beziehungen zu anderen Menschen lassen sich Gemeinschaften bilden. Hieraus erklärt sich auch die strikte Kontrolle und Festlegung der weiblichen Sexualität, die es in nahezu allen Kulturen gab. Das Gemeinschaftsleben gibt dem Menschen eine erste Erfahrung, was die Abwesenheit von Krieg, d.h. Frieden bedeutet. Dies führt zu ersten diplomatischen Gespräche mit anderen Gemeinschaften, die ebenfalls zum Frieden geneigt sind. Die Vergesellschaftung erfordert jedoch von allen, dass sie von ihrem natürlichen Recht, nämlich der Freiheit alles zu tun, was der eigenen Selbsterhaltung dient, in einem gewissen Maße abzurücken. Indem alle Beteiligten wechselseitig auf dieses Recht verzichten und es einem Souverän übertragen, können wir von einem Gesellschaftsvertrag sprechen. Der sich nun gebildete Staat hat die Aufgabe, die Gesellschaft vor äußeren Gefahren zu beschützen und darauf zu achten, dass alle seine Mitglieder im Inneren sich an den Vertrag halten. Vornehmlichste Funktion des Staates ist es also den Frieden zu sichern. Der Staat ist nach dem bisher gesagten nichts weiteres als eine künstliche Person, die durch den Gesellschaftsvertrag autorisiert wurde.
Wenden wir uns nun dem ersten Absatz von Artikel 2 zu. Thematisch unterscheidet er sich vom zweiten Absatz, behandelt aber ebenso einen elementaren Aspekt menschlicher Existenz: Die allgemeinen Handlungsfreiheit:
  1. Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.

Als ein Wesen, das mit der Vernunft ausgestattet ist, muss der Mensch von seiner Handlungsfreiheit Gebrauch machen dürfen, damit er lernt, sich entwickelt und entfaltet. Wie sonst soll der Mensch ein selbstbestimmtes Leben führen, Verantwortung tragen, die Welt gestalten und zwischen Gut und Böse, Richtig und Falsch unterscheiden? Zugleich ist der Mensch ein Gemeinschaftswesen und besitzt damit eine soziale Verantwortung. Seine Handlungsfreiheit findet also dort ihre Grenze, wo die Rechte anderer verletzt werden, gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstoßen wird (Schrankentrias). Bereits Karl Marx kritisierte die Freiheitsdefinition nach der das Individuum das Recht besitzt, alles zu tun, was keinem anderen schadet. Nach Marx fördert dieser Freiheitsbegriff eine Absonderung des Menschen vom Menschen, der aber ein Gesellschaftswesen sei. Das Recht auf Entfaltung der eigenen Persönlichkeit beinhaltet auch das Recht auf Privatsphäre. Also das Recht auf Selbstfindung im Alleinsein oder mit ausgewählten Vertrauten, dass Recht auf einen nicht-öffentlichen Raum, wo der Einzelne unbeobachtet ist und wo er sich entspannen und auch gehen lassen kann – worunter auch die Sphäre der Sexualität fällt – ohne Furcht, dass Dritte davon Kenntnis erlangen.

Der Islam- und Politikwissenschaftler Muhammad Sameer Murtaza wird das Projekt "Das Grundgesetz im (Migrations)-Vordergrund" mit wöchentlich erscheinenden Aufsätzen redaktionell begleiten und dazu beitragen, das im Internet eine hoffentlich rege Diskussion entsteht. Dadurch soll Muslimen, insbesondere Jugendlichen in den Moscheen, unser republikanisch-demokratisches Staatswesen näher gebracht werden.