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Die Anfänge des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland


Wer eine Ausgabe des Grundgesetzes in die Hand nimmt und seine Bezeichnung ‚Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland‘ liest, mag sich vielleicht wundern, warum es nicht ‚Verfassung der Bundesrepublik Deutschland‘ heißt. Aber beginnen wir doch mit der historischen Grundkonstellation, die nicht nur das Grundgesetz prägte, sondern zugleich die Identität der Bundesrepublik Deutschland und seiner Bürgerinnen und Bürger ist, gleich ob es sich dabei um die autochthone Bevölkerung oder um Zugewanderte handelt. Ausgangspunkt des Grundgesetzes war die totalitäre Hybris, die staatlich organisierte Mordmaschinerie und die gewaltsame Expansion der Nationalsozialisten. Der Zweite Weltkrieg endete am 7./8. Mai 1945 mit der totalen Niederlage Deutschlands. Die Nationalsozialisten hatten ein Deutschland in Ruinen hinterlassen. Es gab keine Regierung und keine Behörden mehr, die administrative Struktur des Landes war zerstört. Deutschland drohte der Rückfall in eine primitive Wirtschafts- und Lebensform. Durch den Holocaust waren 6 000 000 Menschen jüdischen Glaubens ermordet worden. Durch die Aktion T4 ermordeten die Nazis 219 600 Roma und unzählige Angehörige der Religionsgemeinschaft „Zeugen Jehovas“, sowie Homosexuelle, psychisch Kranke, körperlich missgebildete und schwerbehinderte Menschen. 20 000 Sozialdemokraten und Kommunisten, die Widerstand leisteten, starben in den Konzentrationslagern.


Eines von vielen Massengräbern um das Konzentrationslager Buchenwald. Die Aufnahme wurde während der Befreiung Buchenwalds am 16. April 1945 von Jules Rouard, Belgien, Kriegsfreiwilliger in der 1. US-Army, 16. Infanterie-Bataillon.

Zweimal war von deutschem Boden ein Krieg ausgegangen, der die gesamte Welt erschütterte. Die Besatzungsmächte – die USA, die Sowjetunion, Großbritannien und Frankreich – hatten ein großes Interesse daran, einen weiteren Weltkrieg, der vom deutschen Volk ausgeht, zu verhindern. Deutschland, das zur Selbstverwaltung unfähig war, wurde in vier Besatzungszonen und Berlin in vier Sektoren aufgeteilt. Ein Viermächte-Kontrollrat übernahm die Verwaltung des Landes. Kurzzeitig überlegte man ernsthaft, das Land zu zerstückeln und es in einen vorindustriellen Zustand zu versetzen. Aber es kam anders. Wohl auch deshalb, da im Viermächte-Kontrollrat die Differenzen zwischen den USA und der Sowjetunion unüberbrückbar wurden. Am 20. März 1948 vertagte sich der Kontrollrat auf unbestimmte Zeit, was den weiteren Erhalt der Einheit Deutschlands fragwürdig erscheinen ließ. Seit 1946 vollzog sich in den verschiedenen Besatzungszonen, wenn auch in unterschiedlichen Maße, der Wiederaufbau der deutschen Verwaltung. Ziel war eine weitgehende Dezentralisierung und lokale Selbstverwaltung, um so eine neue deutsche Staatsgewalt von unten nach oben aufzubauen. So begann man auf kommunaler Ebene Amtsträger einzusetzen, Bürgermeister, Oberbürgermeister, Landräte und Ministerpräsidenten, die zunächst Hilfsorgane der Militärregierungen waren. Zugleich war dieses schrittweise Vorgehen auch eine Einübung in die demokratische Praxis. Doch die Haltung der Sowjetunion machte eine gemeinsame Deutschlandpolitik unmöglich. In den Westzonen wurde zunehmend über einen wirtschaftlichen Zusammenschluss der Zonen als nächsten Schritt nachgedacht. Schließlich kam es am 1. Januar 1947 zur Bildung der Bizone, der Vereinigung des britischen und amerikanischen Besatzungsgebiets. Frankreich sträubte sich noch gegen eine solche Maßnahme. Mit Gründung der Bank deutscher Länder als Notenbank begann mit dem 20. Juni 1948 die Währungsreform (Umstellungsverhältnis von 10 Reichsmark auf eine 1 Deutsche Mark) als erste Voraussetzungen einer wirtschaftlichen Erholung des Landes. Die Sowjets reagierten mit einer eigenen Währungsreform am 23. Juni und unterstrichen damit ihren Alleinvertretungsanspruch für Berlin, sowie ihrem Anspruch auf die Kontrolle ganz Deutschlands. Doch die Berliner Bevölkerung wies diese Ambition zurück. Am 24. Juni desselben Jahres verhängten die Sowjets daher eine nahezu einjährige Blockade (Juni 1948 – Mai 1949) der westlichen Land- und Wasserwege nach Berlin. Damit drohte der Bevölkerung Berlins von der Zufuhr an Nahrungsmittel und Rohstoffen abgeschnitten zu werden. Dank den Amerikanern und den Briten, die eine Luftbrücke einrichteten, konnte die Lebensfreiheit Berlins verteidigt werden. Diese gemeinsame Frontstellung gegen die Sowjetunion erklärt auch die spätere Westintegration Deutschlands. Deutschland war durch die Sowjetunion direkt bedroht und vom militärischen Standpunkt aus ein höchst verletzliches Land. Die Westbindung stillte das Sicherheitsbedürfnis der jungen Bundesrepublik.


Berliner beobachten die Landung eines „Rosinenbombers“ 1948.

Die westlichen Militärgouverneure beauftragten mit Übergabe der sogenannten Frankfurter Dokumente die Landtage der ursprünglichen westlichen Bundesländer: Baden, Bayern, Bremen, Hamburg, Hessen, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Schleswig-Holstein, Württemberg-Baden und Württemberg-Hohenzollern mit der Einberufung einer verfassungsgebenden Versammlung, die die Grundlage eines demokratischen und föderalen Staates schaffen sollte. So traten 65 Mitglieder der westlichen Landtage, sowie fünf Berliner Vertreter mit beratener Stimme unter Vorsitz von Konrad Adenauer in Bonn vom 1. September 1948 bis zum 8. Mai 1949 zusammen. Es heißt in Artikel 145 Absatz 1:
  1. Der Parlamentarische Rat stellt in öffentlicher Sitzung unter Mitwirkung der Abgeordneten Groß-Berlins die Annahme dieses Grundgesetzes fest, fertigt es aus und verkündet es.


Im Zentrum der Überlegungen des Parlamentarischen Rates stand die Einsicht, dass eine Wiederholung der Geschehnisse seit 1933 nie wieder geschehen dürfe. Das Ergebnis war das uns heute vorliegende Grundgesetz. Am 8. Mai 1949 stimmte der Parlamentarische Rat über das Grundgesetz ab, das mit 53 zu 12 Stimmen angenommen wurde. Am 12. Mai 1949 erhielt es die Genehmigung der Besatzungsmächte und schließlich wurde es durch die Volksvertreter der Länder bejaht, mit alleiniger Ausnahme des Bayrischen Landtages, der das Grundgesetz ablehnte. So heißt es in Artikel 144 zur Annahme des Grundgesetzes:
  1. Dieses Grundgesetz bedarf der Annahme durch die Volksvertretungen in zwei Dritteln der deutschen Länder, in denen es zunächst gelten soll.

In Folge der Abstimmung musste gemäß diesem Artikel auch Bayern das Grundgesetz akzeptieren.


Konrad Adenauer, Präsident des Parlamentarischen Rates, unterzeichnet das Grundgesetz am 23. Mai 1949 in Bonn

Am 23. Mai 1949 trat das Grundgesetz in Kraft (Artikel 145 Absatz 2 u. 3) und die Bundesrepublik Deutschland war gegründet. Zeitgleich wurde in der sowjetischen Zone die Deutsche Demokratische Republik ausgerufen. Deutschland war zweigeteilt. Das Grundgesetz konnte also gar nicht Verfassung heißen, da es nicht ganz Deutschland umfasste und war daher zunächst als Übergangsordnung gedacht. Bereits auf der Koblenzer Konferenz (8.-10. Juli 1948) erklärten die Ministerpräsidenten eine deutsche Verfassung vorerst zurückzustellen. So heißt es auch in Artikel 146:
Dieses Grundgesetz, das nach Vollendung der Einheit und Freiheit Deutschlands für das gesamte deutsche Volk gilt, verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist.
Doch seit der Wiedervereinigung hat es diesen provisorischen Charakter verloren. Gegenstand der in Artikel 146 erwähnten Volksabstimmung ist nicht das Grundgesetz, sondern eine vom Grundgesetz abweichende Verfassung. Zumal Artikel 146 erst dann anwendbar wäre, wenn Artikel 145 um ein Verfahren zur Ausarbeitung einer neuen Verfassung ergänzt werden würde. Allerdings beinhaltet Artikel 146 auch keinen Auftrag zur Ausarbeitung einer neuen Verfassung und selbst wenn es dazu käme, wäre jede nachfolgende Verfassung an Artikel 79 Absatz 3 gebunden:
  1. Eine Änderung dieses Grundgesetzes, durch welche die Gliederung des Bundes in Länder, die grundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung oder die in den Artikeln 1 und 20 niedergelegten Grundsätze berührt werden, ist unzulässig.


Unbestreitbar ist unsere Gesellschaft pluralistischer geworden. Eine Gesellschaft droht in Teilgesellschaften zu zerbrechen, wenn es nicht eine verbindende Klammer gibt –verbindliche Werte und Normen –, über die Konsens herrscht. Dies kann keine jüdisch-christliche Leitkultur sein und dies kann auch nicht der Islam sein. Wohl aber kann es die Leitkultur des Grundgesetzes sein. Wir erleben zurzeit den Versuch, die Verfassung zu sakralisieren und zu taufen. Doch Ausgangspunkt unseres Grundgesetzes war die traumatische Erfahrung unseres Landes mit dem Nationalsozialismus. Der Parlamentarische Rat, dessen Aufgabe es war, dass Grundgesetz zu formulieren, war bestrebt eine Verfassung niederzuschreiben, die eine Wiederholung dieser Gräuel nie wieder möglich macht. Unter ihnen waren Christen, Agnostiker und Atheisten, Christdemokraten, Sozialdemokraten, Liberale und Kommunisten. Das Grundgesetz setzt sich aus verschiedenen Weltanschauungen zusammen, die sich in dem angestrebten Ziel vereinigen: Nie wieder 1933! Das Grundgesetz als Folge der jüdisch-christlichen Leitkultur zu proklamieren, würde bedeuten, dass es seine Existenz quasi deterministisch einzig und allein dem Christentum verdankt und die historische Erfahrung mit dem Nationalsozialismus ausgeblendet wird. Doch worauf fußt diese Leitkultur? Für unsere jüdischen Mitbürger bedeutete sie Vertreibung, Pogrome, brennende Synagogen, den Judenstern und die Massenvernichtung. Der Anstand gebietet es, dass wir unsere Geschichte nicht verklären, sondern uns wahrhaft erinnern. Der Name Ausschwitz begleitet uns für alle Zeiten und fordert von uns, wie Richard von Weizsäcker es sagte, ein Mahnmal des Denkens und des Fühlens in unserem eigenen Inneren zu errichten. Die jüdisch-christliche Leitkultur ist eine vor allem nach 1945 geprägte Wendung, die Ausdruck einer politischen Korrektheit ist. Auch 72 Jahre nach der Reichspogromnacht muss gesagt werden, dass die jüdisch-christliche Leitkultur ein rhetorisches Konstrukt ist. Die Beziehung zwischen Christen und Juden in diesem Land war allzu oft eine Beziehung zwischen Tätern und Opfern. Durch die Überbetonung einer jüdisch-christlichen Leitkultur als Identität des deutschen Staates, droht das Grundgesetz zunehmend in den Hintergrund zu geraten. Jeder, der jenseits des Jüdisch-Christlichen steht, ist der Andere. Nicht mehr das Grundgesetz, sondern die Religionszugehörigkeit entscheidet dann, wer zur Leitkulturgemeinschaft dazugehört. Denkt man diesen Gedanken konsequent zu Ende, so können die muslimischen Mitbürger nie dazu gehören, es sei denn, sie konvertieren zum Christentum. Indem die jüdisch-christliche Leitkultur als Identitätsmerkmal beschworen und das Grundgesetz religiös aufgeladen wird, signalisiert man den muslimischen Mitbürgern, dass sie dem falschen Glauben angehören und eigentlich und genau genommen keinen gleichwertigen Platz in diesem Land haben, gleich ob sie nun die deutsche Staatsbürgerschaft besitzen oder nicht. Diese Rhetorik macht aus Muslimen Bürger zweiter Klasse, drängt sie an den gesellschaftlichen Rand, grenzt sie aus, aber wie sollen sie dann noch eine positive Identifikation mit dem deutschen Staat herstellen können?


Der Islam- und Politikwissenschaftler Muhammad Sameer Murtaza wird das Projekt "Das Grundgesetz im (Migrations)-Vordergrund" mit wöchentlich erscheinenden Aufsätzen redaktionell begleiten und dazu beitragen, das im Internet eine hoffentlich rege Diskussion entsteht. Dadurch soll Muslimen, insbesondere Jugendlichen in den Moscheen, unser republikanisch-demokratisches Staatswesen näher gebracht werden.