islam.de - Druckdokument - Druckdatum: Montag, 07.10.24
https://www.islam.de/11252.php


islam.de - Alle Rechte vorbehalten

Sonntag, 07.12.2008

Dr. Mohammed Khallouk: Die deutsche Islamwissenschaft der Gegenwart zwischen historisch-kritischem Anspruch und Drang nach öffentlicher Aufmerksamkeit – Stellungnahme zum Wissenschaftsverständnis des Münsteraner Islamologen Muhammad Kalisch

Da in populitischer Manier z.Z. Mohammad Kalischs Thesen wissenschaftlich in den hiesigen Medien kaum hinterfragt werden, wollen wir mit dieser Veröffentlichung des Deutsch-Marokkaner Dr. Mohammed Khallouk, der z.Z. Bundeswehruniversität München habilitiert, ein wenig Licht ins Dunkle bringen:

Moderne Erkenntnisgewinnung oder Bestätigungsinstrument ressentimentgeleiteter Mutmaßungen?
Mit seiner Aufsehen erregenden These von der angeblichen Nicht-Existenz des Propheten Mohammed hat der Münsteraner Islamologe Muhammad Kalisch nicht nur islamische Verbände und große Teile der deutschen Öffentlichkeit gegen sich aufgebracht, sondern zugleich eine Diskussion um das Selbstverständnis der deutschen Islamwissenschaft insgesamt entfacht. Dabei beansprucht Kalisch für sich, die historisch-kritische Wissenschaftsmethode, die in der deutschsprachigen christlichen Theologie mit so bedeutenden Namen wie Karl Barth und Rudolf Bultmann verbunden und heutzutage aus dem theologischen Diskurs kaum noch wegzudenken ist, für die Islamwissenschaft neu zu etablieren. Worin liegt das Innovative jener historisch-kritischen Methodik, mit der sie sich von der reinen Textexegese abhebt. Kalisch konstatiert, die Erklärung wesentlicher biblisch erwähnter Charaktere und Begebenheiten, die historisch nicht einwandfrei belegt seien, zu „Mythen“, stelle das Revolutionäre hierbei dar. Verwiesen wird auf die Repräsentanten des sogenannten „Biblical Minimalism“ und dazu angemerkt: „Die Zeit der Patriarchen, Moses, der Exodus, die Zeit der Richter, David und Salomon, ja selbst das Babylonische Exil werden als Mythen verstanden.“ Mit der Bewertung jener Extrempositionen der „Biblical Minimalism“ innerhalb der christlichen Theologie als repräsentativ für die historisch-kritische Wissenschaft verkennt Kalisch jedoch das Hauptziel der historisch-kritisch arbeitenden Theologen, die als „christliche“ Theologen durchaus um eine Rechtfertigung und Erläuterung zentraler Glaubensinhalte ihrer Religion, die nicht zuletzt durch die Heilige Schrift vorgegeben sind, bemüht sind. Ihre Nachforschung zu biblisch beschriebenen Ereignissen beschränkt sich nicht auf eine Erläuterung aus dem Schrifttum, sondern bezieht außerbiblische, ja vielmehr explizit nicht religiöse Quellen möglichst aus der zu untersuchenden Zeitepoche ein. Diese Quellen können in der Tat eine Abweichung der historischen Realität vom biblischen Bericht ergeben, wie sie allerdings auch umgekehrt eine Bestätigung in der Heiligen Schrift erwähnter Ereignisse als historisch nachweisbar bereits ermöglicht haben. Im Falle von Divergenzen zwischen der biblischen Darstellung und den Beschreibungen anderer Zeitzeugen, zielt man auf eine Aufklärung des hinter der Erwähnung stehenden Zweckes der biblischen Autoren mittels außerbiblischer Quellenanalyse und archäologischer Erkenntnisgewinnung ab, eine berechtigte wissenschaftliche Absicht, die durchaus ebenso auf den Koran und die Schriften der Sunna angewandt werden könnte.
Die pauschale, bereits im Vorhinein getroffene Abqualifizierung der gesamten, im Heiligen Schrifttum beschriebenen Begebenheiten als „Mythen“ wird jener wissenschaftlichen Untersuchungsmethode in keinem Fall gerecht, vielmehr würde sich damit jede weitere wissenschaftliche Analyse sowohl als Textexegese als auch als historisch-kritischer Quellenabgleich erübrigen. Besonders problematisch erscheint die historisch-kritische Quellenanalyse dort, wo – wie von Kalisch für die ersten zwei islamischen Jahrhunderte bewusst hervorgehoben wird - kaum Quellenmaterial außer dem eigentlichen religiösen Offenbarungstext vorhanden ist. Jegliche Aussage bekommt dadurch spekulativen Charakter – sowohl die unreflektierte Übernahme des bestehenden Textes, die Kalisch zu Recht den Fundamentalisten vorhält, als auch die von ihm vertretende Ansicht, jene Ereignisse entbehrten jeglicher historischer Grundlage. Letztere belegt darüber hinaus, dass die als Charakteristikum historisch-kritischer Analyse anzusehende Zweckeergründung des Autors überhaupt nicht ernsthaft vorgenommen wurde. Weshalb sollte jemand ohne erkennbares Motiv sich Mythen ausdenken und jene als „islamische Offenbarung“ in die Öffentlichkeit tragen?


Eigenständige Offenbarungsreligion oder Kopie jüdisch-christlicher Mythen?
Kalisch hebt auf vorhandene mutazilitische Quellen ab, die im Laufe der islamischen Historie verschwunden seien, was er sich aus darin mit den verbreiteten Grundansichten späterer Gelehrter nicht vereinbarten Inhalten erklärt. Unterstellt, die dogmatische Einstellung der Rechtschulen habe tatsächlich jene Quellen aus machtpolitischer Absicht aus dem Verkehr ziehen lassen, ändert dies nichts an der Tatsache, dass jene Texte in der Gegenwart unbekannt sind und folglich hieraus weder Schlussfolgerungen in der einen noch in der anderen Richtung getroffen werden können. Von der späteren Lehrmeinung abweichende, darin beschriebene Sachverhalte dürfen zudem in keiner Weise als Beleg für Realitätsferne der vorliegenden Quellen herhalten. Denkbar und gar nicht mal unwahrscheinlich ist doch auch, dass jenen von Kalisch als „dogmatisch“ gebranntmarkten späteren Gelehrten, die über die religiösen Glaubensinhalte bereits aus der mündlichen Überlieferung informiert waren, jene schriftlichen Quellen, die offenbar davon erkennbar abwichen, als wenig plausibel erschienen sind und sie die Nachwelt vor Irrglauben zu bewahren trachteten. Für die ebenfalls erst zweihundert Jahre nach Christi vorgenommene Kanonisierung des Neuen Testaments kann diese These sogar als ziemlich sicher gelten, weil hier nicht wenige der nicht kanonisierten Schriften als sogenannte „Pseudoepigraphen“ noch vorliegen. So sind die Beschreibungen der vier kanonischen Evangelisten zum Leben Jesu - bei allen Divergenzen - zueinander weit ähnlicher als alle vier gegenüber dem pseudoepigraphischen Thomasevangelium, wo Jesus bereits in seiner Kindheit in der Werkstatt seines als Zimmermann arbeitenden Vaters Joseph Wunder zugeschrieben werden, die auf die eigentliche Heilsverkündung (weitgehend in den letzten drei Jahren seines Lebens) keinerlei unmittelbaren Bezug aufweisen. Diese Berichte erkannten die Kanonisierer - offenbar zu Recht - als Legenden und schrieben ihnen einen geringen religiösen heilsgeschichtlichen Stellenwert zu. Für die frühen islamischen Gelehrten sollte eine vergleichbare Wertschätzung angenommen werden, zumal die mündlichen Überlieferungen in jener Zeit erst als „Wahrheit“ angesehen werden durften, wenn zwei Zeitzeugen unabhängig voneinander die selbe Begebenheit bestätigen konnten. Vor diesem Hintergrund war es im Islam sogar - anders als im Juden- und Christentum - überhaupt nicht notwendig, mehre Heilsquellen oder „Evangelien“ nebeneinander zu besitzen. Hierin liegt offenbar eine der Ursachen für die von Kalisch als „sonderbar“ anmutende Quellenarmut in der islamischen Frühgeschichte. Als „sonderbar“ ist in diesem Zusammenhang wohl eher die These Kalischs zu werten, der Islam stehe in der Tradition des Alten und Neuen Testamentes. Wieso sollte der Koran in der Bibel bereits eingehend beschriebene Begebenheiten wie den Exodus unter Moses nun in muslimischer Deutung wiederholen, wenn sie als „jüdisch-christliche Quellen“ der angesprochenen Gesellschaft bereits zugänglich gewesen wären. So stellt Kalisch fest: „Kein Prophet wird so oft im Qu`ran erwähnt wie Moses und die muslimische Tradition hat immer die Ähnlichkeit zwischen Moses und Muhammad betont.“ Hierzu merkt er weiter an: „Schon dem Propheten selbst ist dieser Vergleich in den Mund gelegt worden. Das zentrale Ereignis im Leben Moses ist der Exodus der unterdrückten Kinder Israels aus Ägypten und das zentrale Ereignis im Leben Muhammads ist der Exodus seiner unterdrückten Gemeinde von Mekka nach Medina.“
Das Neue Testament wiederholt auch nicht in abgewandelter Form die alttestamentlichen Berichte, wenngleich es mehrfach darauf Bezug nimmt. Schließlich erwarteten die Evangelisten und Apostel geradezu, dass ihre Adressaten die alttestamentlichen Originaltexte bei religiösen Unklarheiten zu Rate ziehen würden, um mit ihrer Hilfe, ergänzt durch die christlich-neutestamentlichen Interpretationen, die für ihre Gegenwart geeigneten Schlussfolgerungen daraus zu ziehen. Für Kalisch erscheinen Argumente dieser Art wenig überzeugend, denn er zweifelt nicht nur ebenso wie den Propheten Mohammed die Existenz der früheren, dem Juden- und Christentum entstammenden Glaubensväter wie Jesus, Moses und Josua an, sondern stellt die neutestamentlichen Schreiber ebenso wie die islamischen Urquellen in Zusammenhang mit heidnisch antikem Gedankengut wie dem römischen Mithraskult und der Gnosis, Strömungen die nicht nur nachweislich in Konkurrenz zum Monotheismus hebräisch-palästinischer Herkunft standen, sondern denen bereits vom Judentum frühzeitig entgegengetreten worden ist. Als unbestreitbar gilt hingegen, dass das Christentum sich in einer jüdischen Tradition sieht, als „Erfüllung alttestamentlicher Prophezeiungen“, die demnach lediglich von den Juden selbst nicht angemessen erkannt und gedeutet wurden. Der Islam billigt ebenfalls Juden wie Christen zu, Wahrheiten bereits erkannt zu haben, die den mekkanischen Heiden bisher nicht zugänglich gewesen sind. Er richtete sich jedoch anfangs nicht nur in erster Linie an zuvor mehrheitlich heidnische Gesellschaften, sondern hat weder dem Alten noch dem Neuen Testament für die existenziellen islamischen Glaubensaussagen einen besonderen Stellenwert beigemessen, da die göttliche Offenbarung erst Prophet Mohammed in reiner, unverfälschter und vollständiger Form geoffenbart worden sein soll. Dieser neuen Offenbarung hätte es nicht mehr bedurft, wenn die jüdisch-christlichen Propheten sie bereits vollständig verkündet hätten.


Quellenarmut als Beweis für Unhistorizität?
Kalisch stellt fest, dass die wenigen, erhalten gebliebenen frühislamischen Quellen nur sehr selten auf den Propheten unmittelbar Bezug nehmen und folgert daraus, dass dieser erst im 3. Jahrhundert der Hedschra für den Islam Bedeutung erlangt habe. So merkt er an: „Der Begriff „sunna“ war ursprünglich nicht allein für den Propheten reserviert. Er stellt sich unter anderem auch als Begriff für einen allgemeinen oder lokalen Konsens dar.“ Kalisch verkennt die eigentlich trivial erscheinende Tatsache, dass die Zeitgenossen sich der Bedeutung Mohammeds bereits aus eigenem Erleben heraus bewusst gewesen sein müssen und zur Absicherung ihrer Positionen des expliziten Verweises aus den Propheten nicht bedurften. Diese war erst notwendig, in dem Maße, wie man befürchten musste, dass sein Stellenwert für den Islam und Vorbildcharakter für jeden Muslim angesichts der zeitlichen Entfernung von seinem irdischen Leben in Vergessenheit geraten würde. Erstmalig ist dies bereits mit der Niederschrift des von ihm mündlich der Menschheit überlieferten Korans zehn Jahre nach seinem Tod geschehen, der das wichtigste Zeugnis des Propheten und darüber hinaus des Islam insgesamt darstellt. Diesem folgte nun die Sunna, in der die Ansichten des Propheten zu wesentlichen gesellschaftlichen Problemstellungen fixiert sind, deren Bezug zum Propheten von vorn herein feststand und daher nicht permanent wiederholt zu werden benötigte. Erst in dem Maße, wie dieser Bezug für die Zeitgenossen nicht mehr aus eigenem Erleben nachempfindbar war, bedurfte es einer „islamischen Kanonisierung“, wo die bedeutendsten und für den Alltagsmuslimen relevanten Aussagen des Propheten direkt auf ihn sich beziehender Gelehrter zusammengetragen und in komprimierter Form als Hadithe niedergeschrieben wurden. Der permanente Verweis auf Prophet Mohammed als Urheber war nun ebenso vonnöten wie die Entfernung unbedeutender, als legender und mythisch verklärt erkannter Ausschmückungen von Nachgeborenen. Wenn der Begriff „historisch-kritische“ Wissenschaft etwas weiter gefasst wird als bei Kalisch, können jene islamischen Gelehrten des 3. und 4. Jahrhunderts, denen er die vermeintliche „Erhebung Mohammeds auf religionsstiftenden Rang“ attestiert, als die ersten „historisch-kritischen Islamwissenschaftler“ angesehen werden. Sie zielten nur gerade nicht auf die Widerlegung der prophetischen Existenz, sondern im Gegenteil auf seine Hervorhebung und historisch-literarische Rechtfertigung ab. Historisch-Kritische Quellenanalyse ist im Islam kaum weniger bekannt als in der christlichen Theologie und als Methode in keiner Weise ein neuzeitliches Phänomen, wenngleich neuzeitlichen Wissenschaftlern mit der modernen Archäologie andere Wege der Quellenanalyse offen stehen, welche sich erst in der jüngsten Vergangenheit zu einer eigenständigen Disziplin entwickeln konnte. In Bezug auf den Islam besteht historisch- kritische Wissenschaft sowohl von Seiten der islamischen Gelehrten selbst als auch von außerislamischen Orientalisten, die vor allem im deutschsprachigen Raum zu ähnlich bedeutender Pionierleistung in der Lage waren wie Bultmann innerhalb der christlich-protestantischen Theologie. Ihr Ziel bestand nur in keiner Weise darin, die zentralen islamischen Glaubensaussagen zu revidieren oder gar zu Mythen herabzustufen, sondern ein zeitgemäßes Verständnis für die islamischen Normvorstellungen zu entwickeln.


Gleichsetzung zeitgeschichtlicher Interpretationen mit „dem Islam“
Unabhängig davon hat man sich dem Christentum wie dem Islam auch von gnostischer Weltanschauung her genähert. Hieraus zu schließen, dass die bedeutendendsten religiösen Botschafter gnostisch verklärte Projektionen seien, erscheint jedoch sehr gewagt. Ebenso ist die These, dass Jesus ein Abbild Moses und Josuas darstelle sowie Mohammed infolge dessen eine arabische Umdeutung der „Figur“ Jesus oder Fatimas der „Figur“ Marias sei, kaum haltbar, da – worauf Kalisch selbst hinweist - die historisch später angesiedelten „Figuren“ auf die älteren als „frühere Propheten“ immer wieder Bezug nehmen. Dies wäre nicht notwendig, wenn sie deren Stellung selbst verkörperten. Dass sich um Religionsstifter nicht selten Mythen gesellen, - so eben auch die von Kalisch genannte Deutung des Propheten und der ersten Kalifen als „kosmische Kräfte“ - ist nicht neu, wurde jedoch von den wesentlichen Repräsentanten der Religionen - in erster Linie der Religionsstifter selbst – stets zurückgewiesen. Man denke nur an die Vorstellung des Jüngers Petrus, der in Jesus nach neutestamentlichem Bericht einen revolutionären Aufrührer gegen die römische Fremdherrschaft zu sehen glaubte und ihn im „Kampf gegen die Häscher“ zu unterstützen beanspruchte, woraufhin er von Jesus scharf zurückgewiesen wurde. Die Pseudoepigraphen waren offenbar von ähnlichen magischen Vorstellungen geleitet, nur besaßen die neutestamentlichen Evangelisten und Apostel die Kenntnis von der jeglicher Magie überlegenen heilsgeschichtlichen Bedeutung ihres Meisters, so dass sie jenen Legenden keine Aussagekraft beimaßen. Ähnliches wird auf die frühislamischen Gelehrten zugetroffen sein, weshalb das gnostische Religionsverständnis zwar in die islamische Kultur Eingang fand, jedoch nie die dominierende Sichtweise darstellte, weil man die originen Offenbarungsquellen besaß und es keiner mythischen Verklärung bedurfte.
Kalisch streitet der islamischen Überlieferung jegliche Historizität ab. In der Tat wollen Koran und Sunna ebenso wie das Alte und Neue Testament in erster Linie eine Richtschnur für das Glaubensleben geben, die buchstabengerechte Wiedergabe geschichtlicher Ereignisse erschien hierfür untergeordnet. Davon unabhängig sollte nicht in Abrede gestellt werden, dass sowohl in der Bibel als auch im Koran durchaus Begebenheiten beschrieben werden, die sich auf erlebte Realität beziehen. Wer dies bestreitet, kann gerade nicht die historisch-kritische Forschungsmethode für sich in Anspruch nehmen, da nicht der eigenen Religion zugehörige Quellen wesentliche Details ebenfalls erwähnen, wenngleich sie hieraus andere, zumeist profane Schlussfolgerungen ziehen. Sollten diese anderen Quellen ebenfalls nur als mythische Erzählungen zu verstehen sein, benötigt man keine Quellenanalyse mehr, denn die Inhalte jeglicher Schriften aus historischer Zeit – ob fabelhafte Reiseberichte oder dramatische Gesellschaftsbeschreibungen - können als „historisch nicht belegt“ abqualifiziert werden. Die Anzahl der vorgefundenen Quellen würde damit ebenfalls unerheblich. Dass Menschen ihre gesellschaftlichen und politischen Ideale gerne in ihre religiösen Vorbilder hineinprojizieren, lässt weder deren historische Existenz noch ihre Vorbildhaftigkeit in Zweifel ziehen, geschweige denn wird der Text, auf den jene Ideologen sich zu beziehen glauben, dadurch unbedeutend. Wissenschaftler sind ebenso wenig frei von Ideologien und Wertungen, weshalb Kalischs Anspruch einer „wertfreien Theologie“ illusionär und Selbstbetrug darstellt - schließlich ist kaum einer in so hohem Maße von im vorhinein getroffenen Wertungen geleitet wie er, wobei seine Wertungen wissentliche Abwertungen der islamischen Tradition beinhalten.
Natürlich kommt ein Wissenschaftler gelegentlich zu dem Ergebnis, die eigenen Eingangshypothesen falsifizieren zu müssen, diese sollten aber bereits eine gewisse Plausibilität beinhalten und das Ergebnis muss aus in sich schlüssigen wissenschaftlichen Beweisen hervorgehen, was im Falle von Kalischs Mutmaßungen zur Existenz vs. Nicht-Existenz des Propheten ebenso wenig zu erkennen ist wie in dessen vermeintlichen „negativen Seiten“, wobei hinzufügen wäre, dass im Falle einer Nicht-Existenz auch jene „negativen Seiten“ nicht existiert hätten. Kalisch postuliert: „Alle psychologische Wahrscheinlichkeit spricht dafür, dass negative Nachrichten über eine Person, überliefert von den eigenen Anhängern, wohl der Wahrheit entsprechen, denn die eigene Anhängerschaft tendiert gewöhnlich eher zu einer Idealisierung.“ Hierzu sollte er zum einen darlegen, welche Verhaltensweisen er als „die negativen Seiten“ charakterisiert, da der Begriff „negativ“ auf einen Charakter bezogen bereits Subjektivität beinhaltet und zum anderen den bei ihm sonst für so bedeutsam erachteten Kontext dieser Charakterisierung nicht aus dem Auge verlieren. Wenn Kalisch darauf abhebt, dass von manchen islamischen Theologen tatsächliche oder vermeintliche Negativberichte für frei erfunden interpretiert würden, um ihr „Wunschbild vom Propheten“ aufrecht zu erhalten, sollte er sich entgegen halten lassen, dass er gerade auf jene nicht erläuterten „Negativberichte“ Bezug nimmt, um die prophetische Existenz in Abrede zu stellen. Bei der Unterstellung an die Majorität der Muslime, den Charakter des Propheten für die Aufrechterhaltung ihres Weltbildes zu beschönigen und zurechtzubiegen, muss er sich im Gegenzug vorhalten lassen, nicht untersucht zu haben, ob eventuelle „Positivberichte“ von Nichtmuslimen seine Existenz und die ihm vom Islam zugeschriebenen Charaktereigenschaften nicht doch bestätigen.


Sinngebung durch Transzendenz oder mystische Philosophie?
Letztlich bedeutet die Erklärung jeglicher Prophetie und darüber hinaus des Begriffes „Gott“ zum „Mythos“ und Religion zur „mystischen Philosophie“ die Entleerung jeglicher Funktion theologischer und religionswissenschaftlicher Forschung. Die Selbstbezeichnung „Theologe oder Religionswissenschaftler – zumal islamischer Wissenschaftler“ - müsste er folgerichtig ablegen und sich stattdessen den Titel „mystischer Philosoph“ zulegen. Indem er am Anspruch islamwissenschaftlicher Forschung festhält, belegt er, dass seine tatsächliche Absicht nicht in der Begründung einer neuen Wissenschaftsmethode liegt, sondern in der Erregung von öffentlicher Aufmerksamkeit durch die bewusste Provokation von Millionen Muslimen und die Abqualifizierung anderer, unauffällig forschender Religionswissenschaftler und Orientalisten als „Fundamentalisten“. Er verhält sich sozusagen wie ein Zauberlehrling, der revolutionäre wissenschaftliche Maßstäbe zu setzen beansprucht, dabei aber übersieht, nun selbst ebenfalls an diesen Maßstäben gemessen zu werden, wobei offensichtlich wird, dass sie ihm zu groß geraten sind. Kalisch geht es gerade nicht um eine „offene Wissenschaft“ und ein „zeitgemäßeres Verständnis von Religion“, auch nicht um die „Einbeziehung der Vernunftelemente“ in den theologischen Diskurs, sondern um die Denunzierung des Islam, seiner traditionellen Gelehrsamkeit wie seiner zentralen Aussagen, die notwendigerweise mit dem Propheten im Zusammenhang zu sehen sind, als unzeitgemäß und irrelevant. Er übersieht, dass es in Historie wie Gegenwart zwischen der buchstabengerechten Übertragung kontextgebundener Schriftaussagen auf den erlebten Alltag und der von Atheisten generellen Zurückweisung religiöser Glaubensinhalte im Islam wie im Juden- und Christentum stets einen Mittelweg gegeben hat.


Ökonomisch motivierte Publicity hat Vorrang vor wissenschaftlichem Interesse
Die Tatsache, dass gerade in der europäischen und speziell deutschen Orient- und Islamwissenschaft Vertreter mit ressentimentgeleiteten Statements zum Islam und zum dortigen Wahrheitsverständnis wie Kalisch das gegenwärtige Öffentlichkeitsbild beherrschen, kann als Armutszeugnis für einen über Jahrhunderte hinweg über das Land hinaus als vorbildhaft bewunderten Wissenschaftszweig gewertet werden. Indem Universitäten und Massenmedien jenen unreflektierten Randpositionierungen regelmäßig das Forum zugestehen, lassen sie erkennen, dass bei ihnen ebenfalls ein Zerrbild vom Islam herrscht, dass sie „wissenschaftlich“ bestätigt zu sehen beanspruchen. Möglicherweise besteht zudem die unterschwellige Hoffnung, mit abwertenden Aussagen zum Islam – zumal von sich selbst als „Islamologen“ bezeichnenden Repräsentanten – angestrebte Einschaltquoten oder Auflagen zu erreichen. Dem vorgegebenen Auftrag, zum Miteinander der Kulturen im demokratischen multikulturellen deutschen Gemeinwesen beizutragen, werden sie auf diese Weise unzweifelhaft nicht gerecht. Die zugebilligte öffentliche Aufmerksamkeit des Falles Kalisch zeigt vielmehr, dass Medien wie universitäre Lehranstalten sich noch keinen notwendigen Verhaltenskodex zugelegt haben, in dem sie sich darauf einigen, wie das Miteinander verschiedener Kulturen und Religionen verbunden mit ihrer freien Bezeugung und Ausübung erleichtert und gefördert werden kann. Auf diese Weise ermutigen sie Protagonisten mit unbelegten, unrepräsentativen und zugleich die Grundlagen des Islam in Frage stellenden Randpositionen wie Kalisch geradezu, sich an die Öffentlichkeit zu wenden, die ihnen auf konventionellem wissenschaftlichen Wege verschlossen bleibt. Die plakative Vorankündigung von Kalischs noch nicht erschienenem Buch zeugt geradezu von einer krampfhaften Suche nach Publizität, die in keinem Verhältnis zu den darin mutmaßlich ausformuliert wiederholten, bereits bekannten Thesen steht. Angesichts der bisher von Kalisch vorgetragenen Argumente ist hier wohl kaum ein populärwissenschaftlicher Klassiker zu erwarten. Sollte dieses Werk dennoch die Bestsellerlisten erreichen, ist darin erst recht die Bestätigung zu sehen, dass einigen Verlagen die Qualität ihrer Ware hinter dem in diesem Fall erst erzeugten Bekanntheitsgrad ihrer Autoren in der Prioritätenliste zurücksteht. Wenn die nach wie vor mit modernen, nicht zuletzt historisch-kritischen Wissenschaftsmethoden erreichten bedeutenden Ergebnisse deutscher Orientalistik in gleicher Auflage erscheinen könnten wie die Rechtfertigungsschriften von Kalisch, wäre der Unkenntnis vieler Deutscher über den Islam und seine kulturhistorischen Hintergründe ein bedeutender Schritt entgegengetreten und manches hieraus entstandene Ressentiment gegenüber Muslimen längst überwunden.