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Sonntag, 20.07.2008

"Antisemitismus in Deutschland" - Öffentliche Anhörung des Deutschen Bundestages. Bericht von Gabriele Boos-Niazy

Im Rahmen der 70. Innenausschuss-Sitzung des Deutschen Bundestages fand am 16.06.2008 eine öffentliche Anhörung zum Thema "Antisemitismus in Deutschland" statt.

10 Sachverständige waren am 16.06.2008 geladen, darunter die Präsidenten des Bundesamtes für Verfassungsschutz und des Bundeskriminalamtes, aber auch Praktiker, wie der Mitarbeiter einer Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus oder eine wissenschaftlich-pädagogische Mitarbeiterin der Gedenk- und Bildungsstätte "Haus der Wannsee-Konferenz". Nicht zuletzt natürlich Vertreter auch der Juden in Deutschland (Zentralrat der Juden) aber auch der nicht unumstrittene Publizist Henryk M. Broder.
Die einzelnen Stellungnahmen sind im Internet abrufbar

Zur aktuellen Situation
Professor Werner Bergmann gab Auskunft zur Entwicklung antisemitischer Einstellungen der bundesdeutschen Bevölkerung und konstatierte zwar "…in den letzten fünfzig Jahren einen langsamen, aber stetigen Rückgang in der Verbreitung antisemitischer Vorurteile vor allem in den jüngeren Generationen…", allerdings sei das Meinungsbild in den letzten Jahren diffuser geworden, der Abwärtstrend nicht mehr klar zu erkennen.

Über die Jahre hinweg liegt der Anteil derer, die antisemitisch eingestellt sind, im Westen höher als im Osten, ist bei Älteren höher, als bei Jüngeren. 2006 kam es erstmals dazu, dass der Anteil der Antisemiten unter den 18-29jährigen in Ostdeutschland höher lag, als in Westdeutschland. Professor Bergmann erwähnt als mögliche Ursache den schwindenden Einfluss der antifaschistischen Orientierung aus DDR-Zeiten oder Differenzen im östlichen und westlichen Bildungssystem.

Interessant ist auch, dass der Zusammenhang zwischen antisemitischer Einstellung und Bildungsabschluss in Ost- und Westdeutschland nicht gleich ist. Während man bei den Befragten mit hohem Bildungsabschluss etwa gleich hohe Werte bei antisemitischen Einstellungen misst, sind die Differenzen bei den Befragten mit Hauptschulabschluss deutlich ausgeprägt (Westen: 35,1%, Osten: 23,7).

Einfluss auf antisemitische Einstellungen hat auch, ob man angesichts der Verbrechen von Deutschen an Juden Scham empfindet oder nicht. "Wer über die Verbrechen nicht beschämt ist (15%), zeigt signifikant häufiger antisemitische Einstellungen, doch ist das Eingeständnis der Scham über den Holocaust bei einem Teil der Befragten kein Hindernis, antisemitische Einstellungen hegen, etwa den Juden eine Mitschuld an ihrer Verfolgung zuschreiben (Westdeutsche: 20%, Ostdeutsche 16%) oder zu meinen, diese „nutzen die Vergangenheit zu ihrem Vorteil aus“ (Westdeutsche 52%, Ostdeutsche: 40%). Auch die Vermutung, „Juden haben auf der Welt zuviel Einfluss“ findet bei fast einem Drittel der Deutschen Zustimmung (W:35%, O:24%)".

Alltagserfahrungen mit Juden hatten die Befragten kaum, darauf deutet ein hoher Anteil (über 20 %) derer hin, die auf die Frage nach Lebensstilunterschieden "Weiß nicht" antworteten. Die Vergleichsgruppen (Italiener, Türken, deutschstämmige Aussiedler, Asylbewerber) werden sehr viel deutlicher als mit unterschiedlichem Lebensstil wahrgenommen - insbesondere die Türken. So meinten 2/3 der befragten Deutschen, die Türken hätten einen unterschiedlichen Lebensstil. Bei Italienern und jüdischen Mitbürgern vermuten dies nur 20 %.

Besorgniserregend sind die Ergebnisse bezüglich der Frage nach gleichen Rechten für Italiener, Türken, deutschstämmige Aussiedler, Asylbewerber und jüdische Mitbürger.
Im Falle von Asylbewerbern lehnen dieses Ansinnen 60 % der Befragten ab, bezüglich der in Deutschland lebenden Türken 43 %, aber auch deutschen Mitbürgern jüdischen Glaubens wollen 25 % keine gleichen Rechte zubilligen, den deutschstämmigen Aussiedlern wollen das gar 29 % verwehren.
Es lässt sich in dieser Frage zwar ein signifikanter Zusammenhang mit antisemitischen Einstellungen feststellen, aber auch viele Befragte ohne nachweisbare antisemitische Einstellungen lehnen eine rechtliche Gleichbehandlung ab.

Ursachen
Antisemitische und rassistische Einstellungen sind nicht monokausal erklärbar. Gründe liegen einerseits in der Adaption bestimmter Ideologien und Wertorientierungen (politisch rechtsstehend, Nationalstolz, Autoritätsgläubigkeit) und der Weitervermittlung von konservativen Werten sowie der Tradierung von Vorurteilen.
Schutz vor der Anfälligkeit gegenüber rassistischen Ideen bietet die Identifikation "mit den Leistungen der Demokratie, innergesellschaftlicher Vielfalt und mit den sozialen Sicherungssystemen".
"Eine gewisse Rolle spielt bei den Westdeutschen die Haltung gegenüber der Demokratie. Werden liberale Werte abgelehnt und ist man mit dem Funktionieren der Demokratie unzufrieden (Politik- oder Systemverdrossenheit), so korreliert dies positiv mit einer Ablehnung von Juden..…Für die Ostdeutschen besteht dieser Zusammenhang nicht. Großes Gewicht besitzt bei den Ostdeutschen der Faktor Nationalstolz: da sie sich sehr häufig als Bürger 2. Klasse fühlen, bietet eine Überbewertung der Eigengruppe verbunden mit der Abwertung der „nichtzugehörigen“ Ausländer hier einen gewisse Kompensation."

Wirtschaftliche und politische Einflüsse
Positive oder negative Einstellungen zu Minderheiten entwickeln sich nicht im luftleeren Raum, politische und wirtschaftliche Entwicklungen haben einen deutlichen Einfluss darauf. Dabei gibt es Diskussionen, die die Einstellung zu Minderheiten generell negativ beeinflussen, aber auch Entwicklungen, die dies besonders im Hinblick auf die jüdische Bevölkerung tun.
Die Auswirkungen der Globalisierung (hohe Arbeitslosigkeit, Bildungsdiskussion) mit den daraus folgenden Diskussionen über den Ab- und Umbau des Sozialstaates und über die Notwendigkeit schmerzhafter Reformen, hat zur Verunsicherung weiter Bevölkerungskreise beigetragen.
"Diese Verunsicherung durch den spürbaren Wandlungsdruck (Anomie) begünstigt die Übernahme antisemitischer Einstellungen. In die gleiche Richtung wirkt die Verunsicherung durch den islamistischen Terrorismus und den Irak-Krieg, der in den westlichen Ländern die Bereitschaft, an Verschwörungstheorien zu glauben, deutlich erhöht hat."

Auch die Politik Israels beeinflusst die Popularität und Verbreitung antisemitischer Einstellungen. So gibt es die Tendenz "mit Hinweis auf Menschenrechtsverletzungen, Besatzungspolitik und Rassismus den Opferstatus der europäischen Juden zu relativieren. Entsprechend wird die Bezugnahme auf den Holocaust seitens der Juden zunehmend weniger akzeptiert. In Deutschland stimmten 2002 58% dem Statements zu: Die Juden sprechen immer noch zu viel über das, was ihnen im Holocaust geschehen ist. Fast 70% der Befragten gaben 2003 sogar an, sich darüber zu ärgern, „dass den Deutschen auch heute noch die Verbrechen an den Juden vorgehalten werden“. Hier deutet sich an, dass die deutsche Bevölkerung weit über den rechten Rand hinaus eine „Dauerrepräsentation unserer Schande“ ablehnt."
Diese Haltungen haben Einfluss darauf, dass das Thema Antisemitismus nicht in gleichem Maße wie bisher üblich tabuisiert wird und diese Einstellungen immer offener - und nicht nur von rechtsextrem gesinnten Personen - gezeigt werden können.

Aktuell aufflammende Kämpfe im Nahen Osten schlagen sich allerdings nur kurzfristig in einem Anstieg antisemitischer Einstellungen nieder und führen nach bisherigen Studien nicht zu einer dauerhaft negativeren Einstellung.

Professor Bergman weist in seiner Stellungnahme darauf hin, dass antisemitische Einstellungen in der Regel nicht isoliert auftreten, sondern Teil einer Weltsicht sind, die auch andere Gruppen (Migranten, Homosexuelle, Behinderte, Angehörige sozial schwacher Gruppen) als minderwertig einstuft. Häufig vertreten ist diese "gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit" bei Personen aus dem rechtsextremistischen Milieu, wird aber auch bei Menschen anderer politischer Einstellungen angetroffen.


Antisemitismus bei Muslimen/muslimischen Jugendlichen
Dazu wurden von verschiedenen Sachverständigen folgende Aspekte genannt:

Jörg Ziercke, Präsident des BKA:
"Antisemitische/antiisraelische Straftaten werden nicht nur von rechtsextremistischen deutschen Straftätern, sondern auch von Ausländern begangen (u. a. aus dem Palästinakonflikt resultierend). Den erfassten Straftaten im Jahr 2007 kommt rein statistisch gesehen zwar keine besondere Bedeutung zu.

Gleichwohl sind sie neben den Erkenntnissen und Hinweisen aus dem internationalen insbesondere islamistischen Extremismus/Terrorismus in die Bewertung der Sicherheit jüdischer/israelischer Einrichtungen in Deutschland mit einzubeziehen. Für das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland ist nach Einschätzung der Bundessicherheitsbehörden von einer hohen, besonderen Gefährdung israelischer/jüdischer Einrichtungen und Interessen auszugehen."

Heinz Fromm, Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz:
"Die jüdische Einwanderung in Palästina, die Gründung des Staates Israel und der ungelöste Nahost-Konflikt waren Auslöser eines islamistischen Antizionismus, der sich seit den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts zu einem eliminatorischen Antizionismus mit einer ausgeprägten antisemitischen Unterfütterung entwickelt hat. In Verlautbarungen und Programmen islamistischer Organisationen verschwimmen die Begriffe „Zionist“, „Israeli“ und „Jude“. Dieser islamistische Antizionismus war und ist stark antijüdisch gefärbt, insofern auch auf eine prinzipielle, nach Auffassung von Islamisten im Koran
belegte und durch die islamistische Geschichtsauffassung gestützte ewige Feindschaft „der Juden“ gegenüber den Muslimen/dem Islam Bezug genommen wird. Obgleich der islamistische Antisemitismus nicht rassistisch geprägt ist, werden den Juden kollektiv negative soziale, kulturelle, religiöse und politische Eigenschaften gleichsam biologischer Qualität zugeschrieben, die ihre Ablehnung, Bekämpfung oder gar Vernichtung als Volk rechtfertigen sollen.
….einer Kooperation von Rechtsextremisten und Islamisten (steht) auch der Absolutheitsanspruch der jeweiligen Extremismen entgegen, der in dem konkreten Fall ergänzt wird um die rassistisch begründete Fremdenfeindlichkeit der Rechtsextremisten,
die ihrerseits versuchen, ethnische, soziale und kulturelle Konflikte durch das „Feindbild Islam“ zu schüren.
Es bleibt festzuhalten, dass trotz gewisser Übereinstimmungen keine Hinweise auf eine längerfristige gezielte Zusammenarbeit zwischen Rechtsextremisten und Islamisten vorliegen.

Thomas Krüger, Bundeszentrale für politische Bildung:
"Empirische Studien und alltägliche Beobachtungen in Deutschland zeigen, dass Antisemitismus nicht nur feste Komponente extremistischer Ideologien ist, sondern neuerdings auch als Bindeglied zwischen Rechtsextremisten und Islamisten dient."

Dipl. Pol. Elke Gryglewski, wissenschaftlich-pädagogische Mitarbeiterin der Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz:
"Generell ist zu sagen, dass wir im Haus der Wannsee-Konferenz seit der
Eröffnung 1992, wenn überhaupt, eher schlechte Erfahrungen mit antisemitischen Äußerungen älterer Erwachsener machen als mit Bemerkungen Jugendlicher.... Diese Erwachsenen haben keine Fragen an uns und sind nicht an einer inhaltlichen Auseinandersetzung interessiert.
Ganz anders verhält es sich in der Regel mit Jugendlichen. Aufgrund der
Erfahrungen aus unserer Arbeit halte ich es für sehr wichtig, sich sehr genau anzusehen, ob problematische Äußerungen von Jugendlichen nicht ganz andere Ursachen als eine tatsächliche Identifikation mit antisemitischem Gedankengut haben....
Problematische Äußerungen von Jugendlichen nichtdeutscher Herkunft, aber auch bildungsbenachteiligter Jugendlicher deutscher Herkunft, sind häufig eine Reaktion auf das Gefühl des Nichtakzeptiertseins durch die Mehrheitsgesellschaft."


Aycan Demirel, Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus:
"Antisemitismus ist weder ein neues Problem noch ein Problem der Einwanderungsgesellschaft."

Deidre Berger, Direktorin des American Jewish Committee Berlin: "Die Verbreitung von Antisemitismus in der muslimischen Welt beeinflusst auch in
Deutschland lebende Muslime. Auf einer jährlich in Berlin-Kreuzberg stattfindenden türkischsprachigen Buchmesse wurde offen antisemitisches Material ausgestellt. Auf
Webseiten, beispielsweise „Muslim-Markt“, werden laut Bericht des Verfassungsschutz 2007 direkt und indirekt anti-zionistische und anti-israelische Inhalte verbreitet."

Prof. Dr. Julius H. Schoeps, Moses Mendelssohn Zentrum, Universität Potsdam: "Antisemitismus und Judenfeindschaft sind auch nicht an eine bestimmte religiöse,
politische, soziale oder anderweitig definierte Bevölkerungsgruppe gebunden, wie man vielleicht vermuten möchte, wenn man den jüngeren Diskussionen folgt.
Judenfeindschaft ist vielmehr ein Querschnittsthema, das die gesamte deutsche Gesellschaft durchdringt und auch vor ihren Grenzen nicht halt macht. Es ist ein gesamteuropäisches, ja internationales Phänomen, wie Sie etwa den Analysen in dem jüngsten, frisch erschienenen Sammelband des Moses
Mendelssohn Zentrums „Feindbild Judentum“ entnehmen können….Judenfeindschaft ist tief in die Geschichte des europäischen, christlichen Abendlandes eingewurzelt, und sie ist darüber hinaus auch der muslimischen Welt weder fremd noch neu."

Fazit:
In der Stellungnahme von Professor Werner Bergmann bzgl. der Entwicklung des Antisemitismus in Deutschland wurde erwähnt, dass die Tendenz dazu besteht, die Juden als „Störenfriede der Erinnerung“ zu betrachten, weil sie das Grauen immer wieder in Erinnerung rufen. Damit wird ein alter Mechanismus betätigt: das Opfer hat Schuld an seinem eigenen Unglück. Wenn das Opfer endlich einmal aufhören wollte zu klagen und darin einwilligen würde, endlich einen Schlussstrich zu ziehen und auf die Erinnerung verzichtete, dann, ja dann könnte man auch seine negativen Einstellungen ihm gegenüber aufgeben.

Sich auf diesen Handel einzulassen, wäre ein fataler Fehler, der uns der Chance berauben würde die Mechanismen rassistischen Denkens (Gruppendruck, Ausgrenzung anderer aufgrund fehlender eigener Gruppenwerte/geringen Selbstwertgefühls, Abgeben der Verantwortung - ich habe nur meine Pflicht getan und wenn ich es nicht gemacht hätte, hätten es andere getan usw.) offenzulegen. Wie sollen unsere Kinder dann lernen, dass Menschen zu allen Zeiten und in allen Kulturen und Gesellschaftensschichten immer wieder den Ideen der Ausgrenzung zum Opfer gefallen sind - als Opfer und als Täter. Wir dürfen nicht vergessen, wir müssen immer wachsam bleiben und uns erinnern, dass das einzige, was Menschen tatsächlich vor eigenen rassistischen Handlungsweisen schützt, das Bewusstsein ist, dass sie - und nur sie selbst - eines Tages, am Ende der Zeit, für ihre Taten werden geradestehen müssen.

Quellen:
http://www.bundestag.de/ausschuesse/a04/anhoerungen/Anhoerung14/TO_70.pdf
http://www.bundestag.de/ausschuesse/a04/anhoerungen/Anhoerung14/Stellungnahmen_SV/index.html