Newsnational Montag, 27.11.2006 |  Drucken

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Die Leitkultur- und Patriotismusdebatte von heute und der Berliner Antisemitismusstreit von 1880

Aus der Geschichte lernen? Von Sabine Schiffer

Immer wieder mal wird behauptet, dass sich die Geschichte im Wesentlichen wiederhole. Das stimmt so nicht, denn allenfalls wiederholen sich Teile von ihr. Da diese mit anderen Ausprägungen in ihrer jeweils spezifischen Situation aber oft so verschieden aussehen, erkennen wir bestimmte Parallelen häufig nicht. Vor allem dann, wenn etwas psychisch äußerst belastend und angstbeladen ist, reagieren wir oft wenig rational und die Emotionalität bestimmt die Debatten – wie sachlich diese dann auch vordergründig erscheinen mögen.

1879 sprach man nicht von einer deutschen Leitkultur als Heinrich von Treitschke eine Diskussion über die Juden lostrat. Auch sprach sich Professor Treitschke explizit gegen Aktionen gegen Juden aus und hielt es für unmöglich, dass man ihnen den Rechtsstatus wieder aberkannte, den sie sich in Jahrzehnten der Emanzipation errungen hatten und der nun anlässlich der Ängste in wirtschaftlich unsicheren Umbruchzeiten doch wieder diskutiert wurde – die Juden hätten sich nämlich nicht integriert, würde man heute sagen. Damals sprach man von nicht erfolgter Assimilation.
Auch damals haben sich viele Zeitgenossen Treitschkes gewundert über die formulierte Zuspitzung seiner Beobachtung, dass er alle Juden als Fremdkörper empfand – Deutschsein und Judesein schloss sich seiner Meinung nach aus. Das Religiöse vor allem wurde als Verrat und verdächtig eingestuft. In einer aufgeklärten Zeit schien es keinen Platz mehr zu haben und das Jüdische galt als unvereinbar mit der Moderne sowie als Gefahr für die Werte der liberalen Gesellschaft – so nachzulesen in den Originaltexten der Debatte etwa in der Ausgabe von Walter Boehlich. Der 50 Jahre später bei den Nazis Karriere machen sollende Satz „Die Juden seien unser Unglück“ stammt aus dieser Zeit – von Treitschke. Die Markierung der Juden als „anders“ ist bis heute geblieben.

Natürlich gab es konservative Juden, die sich traditionell kleideten und somit auch in der Öffentlichkeit als solche sichtbar waren. Es gab Gemeindespaltungen in liberalere und konservativere Zweige, die die Reaktionen der jüdischen Mitbürger auf die immer wieder aufkeimenden Diskussionen um ihre Andersartigkeit und ihre angebliche Gefährlichkeit wiederspiegeln. Dennoch hat wohl kaum jemand wirklich daran geglaubt, dass passieren könnte, was viel später passiert ist – auch nicht die Juden, die sich durchaus an der öffentlichen Diskussion beteiligten und mit ihren defensiven bis agressiven Argumentationen teils glücklich teils unglücklich die Debatte weiter nährten. So fehlte ihnen als Betroffene oft der Überblick über die Gesamtsituation und sie argumentierten aus ihrem eigenen jeweiligen Erfahrungsbereich heraus. Dabei wurde Vergehen eingeräumt oder geleugnet, idealisiert und gewarnt bis hin zum Hochlob auf die eigene Abkehr vom Glauben. Alles in allem eine unwürdige und schließlich unglaubwürdige Debatte, die der Gesellschaft auf jeden Fall geschadet - weil gespalten - hat. Der Fehler lag aber im System, nicht etwa bei den Juden: die Thematisierung des Jüdischseins als Problematik, als etwas, das dem Deutschsein widerspräche – also das Abwägen von religiöser und nationaler Kategorie. Darin lag der schwere Kategorienfehler, der zu Beginn des 21. Jahrhunderts nun wieder passiert.

Parallelgesellschaften gibt es viele: Jugendliche, Chinesen, Türken, die High-Society-Ghettos in Berlin uvm. Diskutiert wird aber nun über den Islam, weil es Terroristen gibt, die ihre Taten mit dem Islam begründen. Statt sie für ihren Frevel zu verurteilen und gemeinsam gegen ungünstige Entwicklungen vorzugehen, die von der asymmetrischen Weltpolitik genährt werden, gehen wir nun verbal in Talkshows, Zeitungen, Bundestagsdebatten und schließlich auch noch auf Parteitagen einseitig auf die Muslime los und homogenisieren aktiv die sehr heterogene Gruppe. Die vergiftete Stimmung wird in Kauf genommen, das ungünstige Wechselspiel unbewusst vorangetrieben. Denn wer würde sich von einer solchen „Leitkultur“ nicht zurückziehen, wenn er noch ein bisschen Stolz im Leibe hat? Und wer verliert nicht den Mut angesichts der Glaubwürdigkeitskrise des Dialogs und seiner Protagonisten? Hoffentlich geht uns allen dabei nicht die Erkenntnis verloren, dass wir doch eigentlich ein gemeinsames Anliegen haben.

Ein Problem öffentlicher Diskurse, mit dessen Lösung wir beginnen können, wäre die Frage: Wie kann man Missstände benennen, ohne damit in die Generalisierungsfalle zu tappen? Denn weder die jüdische Kultur zeichnet sich durch Einfluss und Geld, noch die islamische durch Unterdrückung und Bin Laden noch die „christlich-abendländische“ durch Kinderpornos und Heimatschutzgesetze aus, wie uns eine krisenorientierte Berichterstattung dies immer schnell glauben machen kann. Politik und Medien tragen hier eine besondere Verantwortung – aber auch die Wissenschaft, wie das Beispiel von Treitschkes belegt.





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