Artikel Mittwoch, 10.05.2006 |  Drucken

Widerstandsrecht und Gewalt – Eine islamische Perspektive - Von Mohammad Laabdellaoui

Widerstandsrecht und Gewalt – eine islamische Perspektive
Der Islam geht mit Krieg und Frieden, mit Gewalt und Gewaltlosigkeit sehr pragmatisch um. Weder ist Krieg heilig, noch ist es die Gewaltlosigkeit. Natürlich kennt der Islam den Wert des Friedens und seine Schützenswürdigkeit. Natürlich ist auch im Islam der Krieg etwas Unangenehmes und sollte möglichst vermieden werden. Das Leben eines Menschen und die Sicherheit der Menschen sind wertvolle Güter. Aber es gibt laut Koran Zustände, die schlimmer sind als Krieg: „Und Verfolgung ist schlimmer als Krieg (wörtlich: Töten)“ „Und was ist mit euch, dass ihr nicht kämpft für die Sache Allahs und die Sache der Unterdrückten – Männer, Frauen und Kinder – die da sprechen: Unser Herr, führe uns hinaus aus dieser Stadt der ungerechten Leute und gib uns von Dir einen Beschützer und gib uns von Dir einen Helfer.“
Frieden ist dann wertvoll und zu bewahren, wenn er nicht auf Unrecht und Unterdrückung basiert. Ansonsten ist er nur scheinbar. Es ist in diesem Fall nicht nur legitim, sondern auch Pflicht, das Unrecht zu bekämpfen. Zum Guten zu ermahnen und das Schlechte zu verwehren ist eine der höchsten Pflichten eines Muslims und der muslimischen Gemeinschaft. „Und es soll aus euch eine Gemeinschaft werden, die zum Guten aufruft, das Rechte gebietet und das Unrechte verwehrt.“

Der Islam sieht wie alle anderen Religionen im Unrecht eine der größten Sünden im Zusammenleben der Menschen. Er ist gekommen, um es zu verbieten, um die Menschen zu ermahnen, von Unrecht und Unterdrückung abzulassen. Aber nicht nur der Unterdrücker wird durch die Offenbarung angesprochen, jeder ist aufgefordert, Courage zu zeigen und das Unrecht zu verwehren: „Wer von euch Unrechtes sieht, der soll es abändern.“ Nach einer weiteren Aussage des Propheten (s) ist die vorzüglichste Form des Jihad das Wort der Gerechtigkeit (kalimatu adl) vor dem tyrannischen Herrscher.
Das Gewissen eines Jeden ist angesprochen, sich mit Unrecht niemals abzufinden. Ein Jeder ist dabei in den Grenzen seines Könnens verantwortlich. Wer Unrecht verhindern kann und es doch zulässt ist mitschuldig. Der Einzelne wird gegen „faule Ausreden“ sensibilisiert: „Es sei keiner von euch ein Mitläufer, der sagt, ich gehe mit den Leuten, wenn die Leute Gutes tun, tue ich Gutes, und wenn die Leute Schlechtes tun, tue ich Schlechtes.“ Unrecht ist zu verhindern, von wem immer es ausgehen mag. Die Verantwortung ist umso größer, je näher man dran ist, je näher einem der Übeltäter steht. Laut einer berühmten Überlieferung sagte der Prophet einmal zu seinen Gefährten: „Hilf deinem Bruder, egal ob er Unrecht tut oder ihm Unrecht geschieht.“ Da fragte ein Man verdutzt: „Ich helfe ihm, wenn ihm Unrecht geschieht, wenn er aber Unrecht tut, wie soll ich ihm da helfen?“ Der Prophet antwortete: „Ihn abhalten vom Unrecht, das ist deine Hilfe an ihn.“

Der Dualismus, der im Islam also im Vordergrund steht, ist nicht Krieg und Frieden, sondern Recht und Unrecht bzw. Gerechtigkeit und Unterdrückung, Rechtmäßigkeit und Despotie. Die kategorische Bejahung und Verneinung findet auf dieser Ebene statt, während die Ebene Krieg und Frieden, Gewalt und Gewaltlosigkeit eine pragmatische Ebene ist. Gewalt und Kriegsführung können legitim und sogar notwendig sein. Der gute Zweck allein genügt nicht. Und wenn sie einmal notwenig sein sollten, dann müssen sie sich an Regeln halten.

Menschen haben seit jeher Frieden bejaht und Krieg abgelehnt, aber ebenso war seit jeher das Recht ein übergeordnetes Gut. Wenn aber Krieg zur Entfesselung der Gewalt führte, wenn er sich zu einer entsetzlichen nihilistischen Kraft entwickelte, dann wurde das Gut des Friedens höher gewertet. Krieg wurde dann kategorisch in Frage gestellt: kann er überhaupt sinnvoll sein? Sind sein Schrecken nicht so entsetzlich und seine Vernichtungskraft nicht so monströs, dass er kategorisch abgelehnt werden muss?

Europa hat viele entsetzliche Kriege zur Eroberung der Welt geführt. Aber es sind die Kriege, die auf heimischem Boden stattfanden und die Zivilbevölkerung vollständig involvierten, die sich wie Traumata in das kollektive Gedächtnis eingegraben haben: der Dreißigjährige Krieg, der Erste Weltkrieg und schließlich und endgültig der Zweite Weltkrieg. Seither sprechen für Pazifismus unabwendbare Argumente. Vor allem die blinde Vernichtungskraft der modernen Waffen, die Fähigkeit des Menschen, den gesamten Planeten quasi auf Knopfdruck vielfach zu vernichten, führen jede Suche nach einem vernünftigen Zweck des Krieges ad absurdum. Eine heutige islamische Theorie zu Krieg und Frieden muss sich auch mit dieser Frage auseinandersetzen. Doch hierzu weiter unten mehr.

Verteidigung, Vergeltung und Vergebung
Wenn nun der Islam nicht kompromisslos für Frieden und gegen Krieg ist, wie steht er dann zu diesen beiden Phänomenen, ist es doch eine grundlegende menschliche Erfahrung, dass Frieden schön ist und Krieg hässlich? Welche grundlegende emotionale und geistige Haltung zu Krieg und Frieden vermittelt er? Wenn er zur Abwehr bis hin zum Kampf gegen das Unrechts ermahnt, wenn er dem Opfer unter Umständen sogar ein Recht auf Vergeltung verbrieft, wie steht er zu Vergebung? Es ist wichtig, diesen Punkt zu untersuchen, da viele Missverständnisse zwischen Muslimen und Nichtmuslimen und unter den Muslimen selbst nicht auf die Ebene der formalen Regelung der entsprechenden Sachverhalte, des „Buchstaben des Gesetzes“ zurückgehen, sondern auf die Ebene der Emotionen, Gesinnungen und Beweggründe in Bezug auf Krieg und Gewalt.

Dem Unterdrückten selbst wird wie gesehen das Recht gegeben, sich zu wehren. Er wird dazu sogar ermutigt. Unrecht ist hässlich, und jeder, auch der Unterdrückte selbst, ist aufgerufen, es zu verhindern. An einer der Stellen des Korans, an denen das Bild des frommen Gläubigen durch Aufzählungen ihrer Charakterzüge und Eigenschaften gezeichnet wird, heiß es: „Und die, wenn sie unterdrückt werden, sich zur wehr setzen.“ Ein frommer Muslim schützt seine ihm von Gott gegebene Menschenwürde. Er ist Knecht nur des Einen und wehrt sich, wenn ein anderer ihn knechten oder unterdrücken will.

Doch untersuchen wir einmal genauer, wie der Koran und die Sunna zu Abwehr, Vergeltung und Vergebung stehen. Wir finden im Koran und in den Hadithen des Propheten nämlich unterschiedliche Aussagen hierzu, die auf den ersten Blick sogar widersprüchlich erscheinen können. Da ist der zitierte Vers, in dem der Fromme beschrieben wird als jemand, der sich wehrt, wenn ihm Unrecht geschieht. In diesem Sinne finden wir auch Aussagen im Koran, die den Unterdrückten ermutigen, sich zu wehren, in denen ihm der Beistand Gottes und sein Lohn versprochen werden. Zu den Märtyrern gehört zum Beispiel auch jener, der in der Verteidigung seiner Familie und seines Eigentums umgebracht wird.

Wir finden andererseits auch viele Stellen, in denen zur Vergebung ermutigt wird, in denen Vergebung und Nachsicht als fromme Tugenden und gute Taten gepriesen werden: „die in guten und schlechten Tagen spenden, ihren Groll unterdrücken und die den Menschen verzeihen ...“ Ein Hadith beschreibt charakterliche Haltungen, „mit denen Allah das Bauwerk veredelt und die Rangstufen erhöht: Geduld zu üben gegen den, der dir mit Torheit begegnet, dem zu vergeben, der dir Unrecht getan hat, dem zu geben, der dir vorenthalten hat und die Beziehung zu dem zu pflegen, der dir den Rücken gekehrt hat.“

Einmal saß der Prophet mit seinen Gefährten in der Moschee und kündigte ihnen an, dass gleich ein Mann zur Tür hereinkommen würde, der zu den Leuten des Paradieses gehört. Als dann ein ansonsten unauffälliger Mann herein trat, wollte einer der Zuhörer wissen, was dieser denn tue, dass ihm das Paradies sicher war. Er fand eine Ausrede, bei ihm für drei Tage als Gast einzukehren, und beobachtete ihn Tag und Nacht. Als er feststellte, dass er weder besonders viel betete, noch besonders viel fastete und auch sonst nicht mit eifriger Gebetsfrömmigkeit auffiel, erklärte er ihm schließlich den wahren Grund seiner Bitte um Gastfreundschaft und fragte ihn, was er denn Besonderes täte. Der Mann konnte es sich auch nicht erklären außer vielleicht damit, dass er, wenn er sich abends zu Bett legte, keinem Menschen irgendetwas nachtrug. Diese unter Muslimen bekannte, weil oft erwähnte Begebenheit zeigt, lehrt, dass Vergebung eine schöne und von Gott geliebte Herzenssache ist.

Ob in der Ehe, im Geschäft oder im Vergeltungsrecht: Das Opfer wird nicht daran gehindert, sein legitimes Recht einzufordern. Stattdessen wird an sein Gewissen und seine Frömmigkeit appelliert, Vergebung zu üben: „Sag denen, die glauben, sie sollen denen vergeben, die nicht erwarten, die Tage Gottes zu erleben.“ Die Gläubigen werden im Koran als die beschrieben, die „die schweren Sünden und die schändlichen Taten meiden, und wenn sie in Zorn geraten, vergeben.“ „Wenn ihr verzeiht, nachsichtig seid und vergebt, so ist Gott voller Vergebung und barmherzig.“ „Sie sollen verzeihen und Nachsicht üben. Liebt ihr es denn nicht, wenn Gott euch vergibt?“

Wie ist zwischen diesen verschiedenen Aussagen zu vereinbaren? Soll der Gläubige nun vergeben oder zur Rechenschaft ziehen und sich wehren, wenn er fromm sein will? Ich glaube, dass es den verschiedenen Aussagen im Wesentlichen um zwei Dinge geht: Erstens soll unmissverständlich klargemacht werden, dass der, dem Unrecht angetan wurde, ein verbrieftes Recht auf Gerechtigkeit hat: von Wiedergutmachung bis hin zu Notwehr und Vergeltung, auch wenn dem Opfer nobler Edelmut empfohlen wird.

Zweitens geht es darum, Unrecht zu verhindern. Bevor es geschieht, soll es verhindert werden, während es geschieht soll es eingedämmt und abgewendet werden. Vergebung soll also danach stattfinden, wenn es nicht mehr verhindert werden kann, weil es schon geschehen ist. Oder wenn das Unrecht erfolgreich eingedämmt worden ist: Es soll dann vergeben werden, wenn man zur Vergeltung in der Lage ist: „al’afwu `inda lmaqdira“ ist die hierzu passende Bezeichnung, die sich im Arabischen als Redewendung eingebürgert hat: „Vergebung bei Fähigkeit“, also der Fähigkeit, sich sein Recht zu nehmen. Denn umgekehrt ist Vergebung des Unrechts in dem Augenblick, in dem es geschieht, eine Selbsttäuschung. Es ist die Kapitulation vor dem Aggressor, aber auch vor der eigenen Schwäche und Ohnmacht. Sprichwörtlich ist daher auch die Aussage „naghfiru lidhalim ua la naghifiru dhulm.“: „dem Übeltäter vergeben, jedoch nicht dem Übel.“ Es geht also im Kern darum, das Unrecht zu bekämpfen, nicht die Ungerechten.
Wenn dann echte Vergebung geübt werden kann, dann ist sie eine noble Geste und eine fromme Herzenstugend.

Ist der Kampf einmal unabdingbar, um das Recht wiederherzustellen, dann finden wir im Koran und in der Sunna seine unmissverständliche Bejahung und wiederholte Ermutigungen und Ermahnungen zu Standhaftigkeit und Kampfeseifer. Der Kampf darf dabei jedoch keineswegs zum Selbstzweck werden, er bleibt Mittel und notwendiges Übel: „Wünscht euch nicht die Begegnung mit dem Feind, wenn ihr dann aber auf ihn trefft, dann seid standhaft und bittet Allah um Unversehrtheit und wisset, dass das Paradies sich im Schatten der Schwerter befindet.“

Wie soll das Unrecht abgewehrt werden?
Auf die Frage, wie das Unrecht abgewehrt werden soll, finden wir in den Offenbarungstexten keine dogmatischen Aussagen. Der Islam ist in diesem Punkt meines Erachtens eher pragmatisch: Das Mittel ist das Beste, welches die beste Wirkung zeigt.

Der Prophet nennt die „Mittel“ in klarer Abstufung: „Wer von euch ein Unrecht (munkar: wörtl. am ehesten: Unerhörtes, Abscheuliches) sieht, der soll es mit seiner Hand abändern, wenn er nicht kann, dann mit seinem Mund (wörtl. Zunge), wenn er nicht kann, dann mit seinem Herzen, und das ist die schwächste Gläubigkeit (das Mindeste, was der Glaube erfordert).“ Hier wird Zivilcourage als Erfordernis des Glaubens deklariert: Wer an Gott glaubt, dem kann Unrecht nicht gleichgültig sein. Er wird es wenigstens verabscheuen. Wenn er es verändern kann und es dennoch nicht tut, dann verabscheut er es nicht wirklich. Zivilcourage ist also eine selbstverständliche Implikation des Glaubens.
Doch muss die Abwehr des Unrechts nicht immer im Kampf geschehen. Manchmal ist es gerade die freundliche Geste gegenüber dem Übeltäter, die sein Herz gewinnt und ihn nachhaltig zur Umkehr bewegt. Gerade der Prophet wird hierzu im Koran ermutigt, hat er doch als Gottes Gesandter in erster Linie das Anliegen, die Herzen der Menschen zu gewinnen. „Wehre die schlechte Tat mit einer ab, die besser ist“ Oder: „Wehre mit der besseren Tat das Böse ab, und schon wird der, zwischen dem und dir Feindschaft war, als wäre er ein glühender Freund.“ Diese Ermutigung ist an den Propheten gerichtet und an ihn auch stellvertretend für alle Gläubigen. Hassan al Banna, dem Gründer der Muslimbruderschaft, wird folgende Aussage zugeschrieben: „Seid zu den Menschen wie ein Baum: Sie bewerfen ihn mit Steinen und er gibt ihnen Früchte.“ Im Koran ist dies jedoch nicht als Dogma formuliert. Es ist situationsbezogen abzuwägen, ob die vergebende Geste die richtige Reaktion ist. Manchmal kann sie dem Täter Schwäche signalisieren und ihn geradezu ermutigen, sein Unrecht zu wiederholen und zu verstärken.

Die noble und liebevolle Geste zeugt also von frommer Größe und kann ein wirkungsvolles Mittel sein, das Herz des Täters zu gewinnen und damit Unrecht nachhaltig zu bekämpfen. Sie darf jedoch nicht als Ausrede für Unterwürfigkeit und Duckmäusertum dienen. Deshalb drängt der Koran das Opfer auch nicht zur Vergebung, sondern appelliert lediglich und verbrieft ihm gleichzeitig sein Recht, um ihm das Vergeben aus der Position der moralischen Stärke heraus zu ermöglichen: „Wird jemand ungerechterweise getötet, so geben Wir seinem nächsten Verwandten Vollmacht (ihn zu rächen), so soll er nicht maßlos im Töten sein; siehe, er wird Beistand finden.“ Das Unrecht soll also „an der Wurzel“ bekämpft werden, indem die Herzen gewonnen werden durch erhabene Gesten oder Vergebung, oder durch Wiedergutmachung ungeschehen gemacht oder gelindert werden, oder schließlich durch Strafe oder Vergeltung bekämpft und gesühnt werden. Auch Groll, Hass und Ohnmacht können Ursachen für maßlose Gewalt oder Unrecht sein, nämlich des Opfers. Diese Gefühle sollen nicht unterdrückt oder verdrängt werden. Der Koran erkennt sie an und will ihre Folgen dadurch verhindern oder kontrollieren, dass dem Opfer angemessene Macht gegeben wird, nämlich das legitime Recht auf Wiedergutmachung oder Vergeltung.

Auch die Flucht oder Auswanderung kann eine Möglichkeit sein, die schlimmsten Auswüchse des Unrechts zu verhindern: „Und die, die für Allah ihr Land verlassen haben, nachdem ihnen Unrecht getan wurde, werden wir gewiss im Diesseits in einen schönen Stand einweisen. Und der Lohn des Jenseits ist gewiss größer, wenn sie es nur wüssten.“ Der Mensch, dem die Freiheit genommen wurde, sich Gott allein zu ergeben, kann dies vor Gott nicht als Ausrede verwenden, wenn er die Möglichkeit hatte, in die weite Welt zu fliehen: „War denn die Erde Gottes nicht weit, so dass ihr darin hättet auswandern können?“

Andere Mittel können tätliche Eingriffe und klare Worte sein. Der Islam verurteilt solche Mittel nicht von vorneherein. Im Gegenteil, sie werden zur Pflicht, wenn sie angezeigt sind, wenn sie die beste Wirkung versprechen und man dazu in der Lage ist.
Was wir im Koran in diesem Zusammenhang jedoch immer wieder lesen ist eine nachdrückliche Ermahnung zur Verhältnismäßigkeit: Verteidigen ja, Übertreten auf gar keinen Fall. Wenn man im Zuge der Selbstverteidigung die Grenzen des Zulässigen, meist also des Notwendigen und Verhältnismäßigen, überschreitet, wird man selbst zum Übeltäter, zum dhalim, der die Grenze zum Unrecht, die Grenze zur Sünde übertritt: „Und bekämpft auf Gottes Weg die, die euch bekämpfen, und übertretet nicht. Siehe, Gott liebt nicht die Übertreter.“ Vor allem darf der Hass, den das Unrecht im Herzen der Opfer hervorruft, nicht dazu führen, dass er zur treibenden Kraft im Kampf gegen das Unrecht wird und ihn dadurch blind macht: „Und der Hass gegen Leute, weil sie euch von der Heiligen Moschee abgewiesen haben, soll euch nicht dazu verleiten, Übertretungen zu begehen.“ Oder „O ihr, die ihr glaubt, steht für Gott auf und legt Zeugnis für die Gerechtigkeit ab. Und der Hass gegen (bestimmte) Leute soll euch nicht dazu verleiten, ungerecht zu sein. Seid gerecht! Das entspricht eher der Gottesfurcht. Und fürchtet Gott, denn Gott kennt euer Tun.“

Die Mittel zur Abwehr von Unrecht, die wir im Koran und in der Sunna finden, reichen also von Liebe und Vergebung über Wort und Tat bis hin zu Gewalt. Die Prinzipien, die dabei den Rahmen abstecken, sind Gottesfürchtigkeit, Verhältnismäßigkeit und Klugheit.

Widerstand gegen eine Übermacht
Was ist jedoch, wenn ein Kampf nicht gewonnen werden kann? Wenn der Übeltäter objektiv zu stark ist? Wenn Widerstand materiell sinnlos ist? Hierzu hatten wir oben bereits die Anmahnung, auszuwandern, statt sich vom Bekenntnis zu dem einen Gott abbringen zu lassen.
Weiterhin finden wir hierzu in der Geschichte des Propheten ein Gespräch zwischen ihm und Khabbab, einem Gefährten der ersten Stunde. Khabbab kam zu ihm, als die Unterdrückung der Gläubigen in Mekka erdrückend geworden war. Er bat ihn, doch Gott um die Hilfe im Kampf, die Hilfe zum Sieg zu bitten. Dies implizierte offenbar auch die Bitte um die Erlaubnis zum bewaffneten Kampf, der den Muslimen damals bekanntermaßen religiös verboten war. Der Prophet antwortete ihm, es habe vor ihnen schon Leute gegeben, die wegen ihres Glaubens an Gott aufs Brutalste gefoltert worden seien. Und dies habe sie nicht von ihrer Religion abgewendet. Er schwor ihm, „Gott wird diese Sache vollenden bis der Reiter von Sanaa bis Hadramaut reisen wird und dabei niemanden fürchten muss, außer Gott und den Wolf um seine Schafe. Aber ihr seid ungeduldige Leute.“
Diese Antwort des Propheten kann man oberflächlich reduzieren auf die Anmahnung von Standhaftigkeit und Geduld. Liest man sie genauer, stellt man darin zwei weitere implizite und sehr wichtige Aussagen fest: im ersten Teil erinnert er an frühere Gläubige, die brutal gefoltert wurden, die sich dadurch jedoch nicht von ihrem Glauben haben abwenden ließen. Man versetze sich nun in die Situation von Khabbab, als er dies vom Propheten vernahm. Warum sagt ihm der Prophet diesen letzten Satz: „Dies konnte ihn nicht von seinem Glauben abwenden“? Ist seine Forderung nach Bürgerkrieg, und nichts anderes wäre ja der bewaffnete Kampf angesichts der gegebenen Situation gewesen, ein Abwenden von der Religion? Der Prophet sprach auch von din, Religion, und nicht iman, Glaube. Din hat im Wortursprung mit dem Lebensinhalt, mit den Handlungsimplikationen der Religion zu tun, während iman mehr den spirituellen Aspekt der Religion impliziert. Als wäre aussichtsloses und sinnloses Blutvergießen ein Abwenden von der Religion. Es ist in der Tat oft die Verzweiflung, die die Unterdrückten und Gedemütigten in den aussichtslosen Kampf stürzt, in Verzweiflungstaten eben. Und davon, dass Verzweiflung mit dem Glauben nicht vereinbar ist, lesen wir im Koran des Öfteren: „Und verzweifelt nicht an Allahs Erbarmen, denn an Allahs Erbarmen verzweifeln nur die Ungläubigen.“
Liest man die Aussage des Propheten weiter, erkennt man auch, was damit genau gemeint ist: „... bis der Reiter von Sanaa bis Hadramaut reist und keinen anderen fürchten muss außer Gott und den Wolf um seine Schafe.“ Die Lebenswirklichkeit, auf die der Islam aus ist, ist die, in der der Mensch befreit ist von Furcht außer vor Gott, in der der Mensch sich in Sicherheit und Frieden seinem Schöpfer allein ergeben kann. Der din des Islam, der sich hier herausliest, hat also sehr viel mit Frieden und Sicherheit zu tun. Bürgerkrieg ist das Gegenteil davon, und deshalb ist eine Anzettelung von Bürgerkrieg, die Heraufbeschwörung eines sinnlosen Krieges genau das Gegenteil dieses din. Es wäre nicht Glaube und Vertrauen auf Gott, es wäre nicht innerer Friede und Hingabe an Ihn, sondern das Gegenteil: sinnloses Treiben, großes Unheil, Verzweiflung, Nihilismus.
Den Muslimen war in Mekka der bewaffnete Kampf untersagt, offenbar weil der Kampf sinnlos gewesen wäre. Es war während der Auswanderung nach Medina, dass er ihnen erlaubt wurde: „Es ist die Erlaubnis (zum Kampf) denjenigen erteilt worden, die bekämpft werden, weil ihnen Unrecht getan wurde - und Gott ist wahrlich in der Lage, ihnen zum Sieg zu verhelfen - (Ihnen), die zu Unrecht aus ihren Häusern vertrieben wurden, nur weil sie sagen: Unser Gott ist Allah.“ Dabei ist das Unrecht, das ihnen geschehen war und immer noch geschah, die im Koranvers angegebene ratio legis. Jetzt wäre es kein sinnloses Treiben mehr gewesen, für die Widerherstellung von Gerechtigkeit zur Waffe zu greifen. Angesichts der berechtigten Annahme, dass die Mekkaner die neue Religion und die „Abtrünnigen“ weiter bekämpfen würden, war der Kampf sogar notwendig, um Unrecht und Bedrohung abzuwehren. Durch Offenbarung dieses Verses ist der Zustand der Bedrohung, Unterdrückung und Verfolgung als ein Kriegszustand eingestuft worden.

Das war ein Wechsel im Hinblick auf die als wirkungsvoll erachteten Mittel. Es war jedoch kein Bruch mit Prinzipien. Denn auch in der mekkanischen Zeit war nie Pazifismus als Wert an sich gepredigt worden. Auch damals galt die Klugheit in den angewandten Mitteln zur Abwehr von Unrecht und Verfolgung. Das Prinzip war von Anfang an dasselbe: Kein Verneigen außer vor dem Einen. Wer in der mekkanischen Zeit schon die Stärke hatte, sich zu wehren, der konnte es tun, solange die Abwehr von Unrecht nicht zu Fehden und Unheil führen würden. Auch aus der mekkanischen Zeit wird von einem Kampf bei der Kaaba berichtet, den der Prophet nicht beanstandete. Als der ungestüme und gewalttätige Omar kurz bevor er den Islam annahm, mit erhobenem Schwert wütend auf den geheimen Versammlungsort der Muslime zugedonnert kam, sagte Hamza in Anwesenheit des Propheten: „Öffnet ihm die Tür. Wenn er gekommen ist, Gutes zu suchen, wollen wir es ihm geben. Wenn er gekommen ist, Böses zu tun, dann töten wir ihn mit seinem eigenen Schwert.“ Die historische Richtigkeit dieser Begebenheiten ist nicht bis ins Detail gesichert, wir dürfen ihnen jedoch entnehmen, dass die Muslime nicht im Bewusstsein lebten, von Gewalt schlechthin absehen zu müssen.

Wann darf nun ein Krieg oder ein bewaffneter Kampf geführt werden? Aus den bisherigen Ausführungen lässt sich die zusammenfassende Antwort hierauf vielleicht folgendermaßen formulieren: Zur Abwehr von Unrecht und unter der Voraussetzung, dass der Kampf Aussicht auf Erfolg hat und nicht in schlimmeres Unheil mündet. Es darf kein Kampf um des Kampfes willen sein, kein sinnloses Blutvergießen. Es muss absehbar sein, dass der Kampf so geführt werden kann, dass die Grenzen zu Sünde und Unrecht nicht überschritten werden müssen.

Kampfethik
Die einzuhaltenden Grenzen zur Sünde regelt die islamische Kriegsethik. Und die ist von Anfang an klar umrissen gewesen: Keine sinnlosen Gemetzel, keine Schändungen, humane Behandlung der Gefangenen, keine Gewalt gegen Unbeteiligte und Zivilisten, keine sinnlose Zerstörung. Die Kriegsethik, die wir in Teilen an verschiedenen Stellen im Koran nachlesen können und die der Prophet mehrmals eindrucksvoll präzisiert hat, ist auch von den Kalifen ihren entsandten Heeren immer wieder nachdrücklich eingeprägt worden. Der Islam formulierte seine kriegsethischen Regeln nicht erst im Rahmen internationaler Abkommen, sondern unabhängig von der damals üblichen Praxis der anderen Mächte. Religiöse Kriegethik ist ein Gebot der Menschlichkeit und der Gottesfürchtigkeit und kann nicht auf die Einsicht von Feinen warten.

Natürlich wird es auch den gottesfürchtigsten Gläubigen nie gelingen, die kriegsethischen Ermahnungen des Propheten und seiner Nachfolger vollständig einzuhalten. Und natürlich wird die schwierige Abwägung von Nutzen und Risiken im Einzelfall auch die muslimischen Gelehrten immer wieder vor unlösbare Probleme stellen. Es sind ja meist keine eindeutigen Situationen, die es zu beurteilen gilt. Meist geht es ja nicht darum, Leben zu bewahren oder zu vernichten, sondern das eine oder das andere Leben zu bewahren bzw. zu vernichten, wie die aktuelle Diskussion in Deutschland um die Zulässigkeit des Abschusses von Flugzeugen, die möglicherweise als fliegende Sprengkörper missbraucht werden, zeigt.

Aus heutiger Sicht ergibt sich jedoch eine viel grundlegendere kriegsethische Frage. Moderne Kriegsführung trifft vor allem Zivilisten. Ein Soldat läuft viel weniger Gefahr, im Krieg getötet zu werden als ein Zivilist. Die Wirkung der modernen Waffen ist breit angelegt. Nicht einzelne Soldaten sollen mit einer Kugel getroffen werden, sondern ganze Stadtviertel und die Infrastruktur. Nicht einzelne Heeresteile sollen eingekesselt und vom Nachschub abgeschnitten werden, sondern ganze Völker sollen durch Embargos unter Druck gesetzt werden, damit sie gegen ihre Regime revoltieren. Die Demagogie der modernen Supermächte ist voll von Freiheits- und Menschenrechtsrhetorik, ihre Kriegsführung fühlt sich oftmals jedoch weder dem Völkerrecht noch sonstiger Kriegsethik verpflichtet. Sie ist vielmehr systematisch auf die Verletzung kriegsethischer Prinzipien angelegt. Der Tod von Zivilisten, die Zerstörung ihrer Lebensgrundlagen, die Verseuchung ihrer Umwelt – zu diesen Zwecken werden moderne Waffen entwickelt, verkauft und eingesetzt.

Vor diesem Hintergrund lassen sich heutige Widerstandskämpfer allzu leicht dazu verleiten, es den Aggressoren gleich zu machen und ebenfalls die Kriegsethik über Bord zu werfen. Dabei müssen sie keine Flächenkriege führen, wie es Besatzungsmächte tun, die mit Kriegen geopolitische Ziele verfolgen.

Widerstandskampf heute
Bei der Übertragung des Gesagten auf unsere heutige Zeit sind zusammenfassend mehrere Dinge zu beachten.

Erstens: Gilt es, den Einsatz von Gewalt im Widerstandskampf zu beurteilen, ist immer die Frage zu stellen, ob ein Kampf Aussicht auf Erfolg hat. Ist er aussichtslos, dann ist alles Blutvergießen umsonst und daher verwerflich. Allerdings ist es selbstsprechend, dass es nicht Sache des Aggressors oder seiner Verbündeten ist, zu definieren, wann der Widerstandskampf gegen ihn sinnlos oder verwerflich ist. Jemand, der an die göttliche Gerechtigkeit glaubt und auf Seine Hilfe hofft, wird die Erfolgsaussichten anders beurteilen, als jemand, der nur die materiellen Machtverhältnisse in seine Gleichung einbezieht.

Zweitens: Aus islamischer Sicht gelten die kriegsethischen Regeln auch, wenn der Aggressor sie ignoriert. Aus politischer Sicht ist heute auch zu berücksichtigen, dass Verstöße gegen diese Regeln meist als spektakuläre Ereignisse der Demagogie der Aggressoren willkommene Dienste erweisen. Sie sind vor allem aber deshalb verwerflich, weil sich diejenigen, die einen prinzipiell legitimen Kampf führen, damit selbst zu den Ungerechten gesellen. Dass Aggressoren sich nicht rechtschaffen verhalten, ist nicht neu. Es wäre auch nicht neu, wenn sie den materiellen Sieg davontrügen. Es wäre jedoch die endgültige, weil eben auch moralische Kapitulation, wenn diejenigen, die für die Abwehr des Unrechts ihr Leben zu opfern bereit sind, die Verbrecher zu ihren Lehrmeistern machten, indem sie ihr Unrecht nachamten.

Drittens: Es ist immer wieder aufs Neue zu überdenken, ob sich der Widerstand gegen Besatzung und Unterdrückung im bewaffneten Kampf erschöpfen muss, ob der bewaffnete Kampf der beste und effizienteste Weg zur Wiederherstellung von Recht und Gerechtigkeit ist. Dies ist umso wichtiger, wenn der bewaffnete Kampf mit Waffen und Methoden geführt werden muss, die Zivilisten und ethische Werte in Mitleidenschaft ziehen.

Abschließend sei noch die Frage nach der Rolle der Unbeteiligten gestellt, die von Fernem die Geschehnisse beobachten. Wer ein Unrecht sieht, der soll es entsprechend der prophetischen Weisung mit der Tat abändern, wenn er nicht kann, dann mit dem Wort, wenn er nicht kann, dann mit dem Herzen, und das ist, so der Prophet, das Mindeste, was Gläubigkeit erfordert. Wenn wir beurteilen und verurteilen, müssen wir immer wissen, wem wir dadurch dienen. Wir dürfen uns weder für das Unrecht der Staaten und Supermächte, noch für jenes der Widerstands- und Freiheitskämpfer instrumentalisieren lassen. Uns muss es stets um eines gehen: Um die Abwehr von Unrecht und um die Bewahrung der Rechtschaffenheit.

Der Aggressor bleibt Aggressor, auch wenn der Widerstandskampf, den er heraufbeschworen hat, verwerfliche Praktiken zeitigt. Wenn er dann „haltet den Dieb“ ruft, besteht die Gefahr, dass er damit auch die instrumentalisiert, die seine Aggression verschmähen, indem sie mit ihm mit ihm rufen. Das Grundübel bleibt seine Aggression. Umgekehrt bleibt bestehen, dass die Ermordung eines Unschuldigen nach dem Koran dem Mord an der gesamten Menschheit gleichkommt. Die Legitimität des Befreiungskampfes ist hierfür keine Entschuldigung. Auch wenn die Besatzungsmacht am Tod der Unschuldigen mitschuldig ist, so schmälert dies nicht die Schuld derer, die die Unschuldigen mit eigener Hand töten.

Dem Muslim kann es in erster Linie auch nicht darum gehen, den Schuldigen zu identifizieren. Die wirkliche Frage orientiert sich daran, wie das Unrecht beseitigt und gelindert werden kann. Diese Frage stellt sich auf politischer ebenso wie auf geistiger und kultureller Ebene. Sie stellt sich über Landesgrenzen hinweg.

(Der Deutsch-Marokkaner Mohamed Laabdallaoui ist Wirtschaftsingenieur und Islamwissenschaftler. Er ist seit knapp 10 Jahre Dozent für theologische Fragen beim Zentralrat der Muslimen in Deutschland)




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