Newsinternational Montag, 26.02.2018 |  Drucken

Der Koalitionsvertrag aus muslimischer Sicht

Der Koalitionsvertrag zwischen Union und SPD steht. Zurzeit sind die Mitglieder der Sozialdemokraten aufgerufen, darüber abzustimmen. Aber wie sehen andere gesellschaftliche Gruppen die Vereinbarungen der möglichen Großen Koalition? Aus Sicht der deutschen Muslime gibt es einiges zu kritisieren, meint der Vorsitzende des Zentralrats der Muslime in Deutschland, Aiman Mazykey. Erstveröffentlichung am 23.02.2018 auf NDR Kultur.

Schwenken wir den Blick zunächst auf das Positive: Zur Stärkung der Zivilgesellschaft wird von den Koalitionspartnern die wichtige Rolle der Kirchen-, Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften bei der Identitätsstiftung sowie bei der Vermittlung von Werten anerkannt. Diese leisten einen wichtigen Beitrag zum Zusammenhalt unserer Gesellschaft und sind darüberhinaus eine wichtige Stütze im Bildungs- und Sozialwesen, in Krankenhäusern und in Pflegeeinrichtungen. Die Zusammenarbeit soll demnach mit dem Staat weiter verstärkt werden, insbesondere mit Blick auf die Muslime.

Keine nachhaltige Islampolitik

Die Anfälligkeit dieses Versprechens wird mit Blick auf die Vergangenheit deutlich. Der Religionsunterricht scheitert in Teilen in vielen Bundesländern an der umfänglichen und rechtsstaatlichen Umsetzung. Die Anerkennung muslimischer Vereinigungen als Religionsgemeinschaften bleibt erfolglos. Islamische Seelsorge fehlt weiterhin in vielen Bereichen: ob bei der Bundeswehr, in Gefängnissen oder in weiteren wichtigen Einrichtungen wie Krankenhäusern.

Wenn die Koalitionäre die Zusammenarbeit mit den Muslimen fördern wollen, um dadurch die Muslime zu integrieren, stellt sich die Frage, wie das funktionieren soll, wenn in der Vergangenheit bei einem Schritt in die richtige Richtung anschließend wieder mehrere Schritte rückwärts gemacht wurden. Politik funktioniert nur dann, wenn sie Berechenbarkeit und Verlässlichkeit aufweist. Eine nachhaltige Islampolitik vermisst man infolgedessen im Vertrag der Großen Koalition.

Was ist "radikaler Islam"?

Viele erfüllt es zudem mit Sorge, dass einige Politiker in der Integrationspolitik härtere Töne anschlagen und damit nach rechts rücken. Das einseitige Anklagen ohne jegliche Anerkennung für geleistete Integrationserfolge wirft uns zurück. Wichtig ist, Bürger, Muslime, die hier geboren sind oder die auch lange in unserem Land leben, mitzunehmen. Nicht zuletzt vor dem Hintergrund der neuen Regierungsbildung mit einem voraussichtlich neuen CSU Innen- und Heimatminister wünschen wir uns die notwendige Sensibilität und Fortsetzung sowie Gelingen eines begonnenen Partizipationsprozesses unserer muslimischen Verbände und etablierten Organisationen.

Ernüchternd ist im Vertrag, dass die Konnotation Extremismus, Terrorismus weitestgehend im Zusammenhang mit dem Islam beschrieben wird. Die absolute Mehrheit sind friedlebende Muslime; das gilt gleichlautend auch für die Moscheegemeinden. Wir müssen und werden sie weiter als Partner brauchen im Kampf gegen Extremismus. "Wir werden den radikalen Islam in Deutschland zurückdrängen", titeln die Koalitionäre. Was "radikaler Islam" sein soll, wird nicht erklärt.

Zudem wirkt es surreal, Deutschpflicht für Imame zu fordern. Gilt das auch für die über 2.000 Priester und Pfarrer aus dem Ausland in Deutschland, die ebenfalls größtenteils in anderen Sprachen predigen?

Islamfeindlichkeit muss bekämpft werden

Ein Wermutstropfen: Wenn die Koalitionäre die Bekämpfung "antimuslimischer Stimmung" beschließen. Das genügt nicht, schon lange nicht mehr, um Islamfeindlichkeit in unserem Land nachhaltig zu bekämpfen. Muslime sind täglich verbalen und körperlichen Angriffen ausgesetzt, sie erleiden Diskriminierungen in Bildung und auf der Arbeit. Ihre Gebetsstätten werden mittlerweile beinahe täglich geschändet. All das wird von den Sicherheitsbehörden bestätigt.

Im gesamten Jahr 2017 wurden über 1.000 islamfeindliche Straftaten gezählt. Die Aggression gegenüber Muslimen ist im Internet allgegenwärtig und sie verlagert sich immer häufiger auf die reale Welt, weil dem zuvor nichts Ausreichendes entgegengestellt wurde.



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