Newsinternational Montag, 18.12.2017 |  Drucken

"Unsere Toleranz geht gleich Null"

Die große Mehrheit von Israelis akzeptiert keinerlei Kritik an Israel oder seiner Politik - Wo ist die Grenze zwsichen legitimer Kritik und Antisemitismus?

Jerusalem (KNA) Anti-israelische Demonstrationen in verschiedenen deutschen Städten haben zu scharfen Verurteilungen aus der deutschen Politik geführt. Wie aber nehmen jüdische Israelis Kritik an Israel und seiner Politik wahr und wo verläuft für sie die Grenze zwischen legitimer Kritik und Antisemitismus?

Die Katholische Nachrichten-Agentur (KNA) hat beim ehemaligen Botschafter Israels in Deutschland, Avi Primor (82), sowie dem ehemaligen Sprecher des israelischen Parlaments, Avraham Burg (62), nachgefragt. Legitime Kritik an Israel, sagen beide, gibt es in den Augen der Mehrheit der jüdischen Israelis nicht.

"Die offizielle Haltung der israelischen Regierung wertet fast jede Kritik als Antisemitismus", sagt Avi Primor, heute Leiter der Europäischen Studien an der Universität Tel Aviv, und macht dafür zwei Gründe aus. Zum einen sei dies der leichtere Weg, "weil man sich dann nicht mit dem Thema der Kritik auseinandersetzen muss". Zum anderen komme dies bei "einem bestimmten Publikum in Israel immer gut an".

Rund Dreiviertel der jüdisch-israelischen Bevölkerung, schätzt Primor, teilen die Haltung der israelischen Regierung und reagieren sehr empfindlich auf Kritik aus dem Ausland. "Der großen Mehrheit kann man leicht einreden, dass die Kritik antisemitisch ist."Diese Einschätzung teilt auch der frühere Sprecher des israelischen Parlaments, Avraham Burg, der sich in seinem 2007 erschienenen Buch "Hitler besiegen" gegen die "All- und Übergegenwärtigkeit des Holocaust als israelische Nationalstrategie" wandte. "Leider ist die Antwort ebenso einfach wie beschämend: Unsere Toleranz gegenüber Kritik geht gleich Null", sagt Burg. Dass die große Mehrheit von Israelis, "Politikern ebenso wie Menschen auf der Straße", keinerlei Kritik an Israel, seinen Handlungen oder seiner Politik akzeptiert, liegt für den ehemaligen Politiker "an der Selbstgerechtigkeit, durch die wir uns als die Guten sehen und jeden, der uns kritisiert als den Bösen".

Im Kontrast dazu werde jeder, "der etwas gegen uns sagt, als ultimativer Feind unserer ganzen Geschichte" gezeichnet. Zwischen diesen beiden Polen, so Burg, bleibe "kein Raum für Kritik". Hinzu kommt für Avraham Burg ein weiterer wesentlicher Aspekt: "Medien, Politik, Bildung, Institutionen: Alle funktionieren in den Parametern dieser Arbeitshypothese, so dass nur sehr wenig alternative Informationen ihren Weg an die Oberfläche finden." Der Einzelne, der dennoch eine andere Position vertrete, brauche "sehr viel Mut", weil er "sofort beschimpft und ausgeschlossen" werde.

"Ich halte dies für falsch", sagt Avi Primor über die Regierungstendenz, jedwede Kritik als antisemitisch zurückzuweisen. Die Mehrheit der Westeuropäer sei "eher pro-israelisch", ihre Kritik richte sich nicht gegen Israel, sondern gegen die israelische Besatzung der Palästinensergebiete. Avi Primor zieht eine Parallele zur Kritik Europas an Frankreichs früherer Algerienpolitik: Die habe sich "nicht gegen die Franzosen gerichtet, sondern gegen den Kolonialismus. Die Kritik verschwand, als Frankreich Algerien geräumt hat.

"Bei den israelischen Medienberichten über die Demonstrationen in Deutschland standen die deutlichen Worte deutscher Politiker im Zentrum. Die klare Positionierung von Kanzlerin Angela Merkel, Außenminister Sigmar Gabriel und Justizminister Heiko Maas gegen antisemitische Parolen und gegen das Verbrennen israelischer Fahnen fanden ihren Weg in fast alle israelischen Zeitungen. Die Berichterstattung sei aber "allenfalls ein Hintergrundgeräusch und nicht mal auf Platz drei oder vier der nachrichtlichen Prioritätenliste", bewertet Avraham Burg die Wahrnehmung der Ereignisse in der israelischen Öffentlichkeit.

Avi Primor sagt hingegen: "Die Ereignisse in Deutschland werden wahrgenommen." Die israelischen Korrespondenten in Deutschland betonten aber, dass es sich um Demonstrationen von Muslimen handele. Es heiße nicht "Die Berliner demonstrieren gegen Israel", sondern "In Berlin demonstrieren Muslime und Araber gegen Israel", so Primor. Dass es auch deutsche Kritik an Israel gebe, wisse man, aber die muslimische Kritik an Israel werde anders wahrgenommen - im Kontext der arabischen Kritik und des Nahostkonflikts. Ausländische Kritik an Israel bleibt in Israel ein sensibles Thema.



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