Newsnational Donnerstag, 25.08.2016 |  Drucken


Zum Tod von Altbundespräsident und Minister a.D. Walter Scheel

Hier nochmal sein unvergessliches Essay "Deutschland und die Welt auf der Basis des Grundgesetzes" im Rahmen des Projektes "Grundgesetz im Migrationsvordergrund"

Er war der Bundespräsident in einer der bewegtesten Phasen der Bonner Republik. Jetzt ist der FDP-Politiker im Alter von 97 Jahren gestorben. Scheel war von 1974 bis 1979 Bundespräsident und damit viertes Staatsoberhaupt der Bundesrepublik.
Das Bundespräsidialamt und ein FDP-Sprecher bestätigten am Mittwoch den Tod Altbundespräsidenten, der seit vielen Jahren in einem Pflegeheim in Bad Krozingen bei Freiburg gelebt hatte.

Deutschland und die Welt auf der Basis des Grundgesetzes
Zum ersten Mal stand ich als junger 30-jähriger im Lincoln-Memorial in Washington vor dem überlebensgroßen Denkmal des in einem Sessel sitzenden bedeutenden Präsidenten der Vereinigten Staaten, Abraham Lincoln. Ich las einige Sätze über seine demokratischen und freiheitlichen Grundsätze aus seiner berühmten „Gettysburg Address“. Ich war beeindruckt von der Einfachheit der Sprache und der Wirkung, die von seiner klaren Gedankenbildung ausging.

Dadurch musste ich auch an die schöne Sprache unseres Grundgesetzes, das wir ja damals gerade erst bekommen hatten, denken. Noch heute bewundere ich die Frauen und Männer des parlamentarischen Rates, die uns diese Verfassung 1949 gegeben haben. Die Präambel und die Artikel über die Grundrechte sind in einem so schlichten Pathos formuliert, der ganz unaufgeregt, ja natürlich wirkt und deswegen den Leser ergreift.

Damals habe ich nicht geahnt, welche Bedeutung einer der Sätze der Präambel in der wichtigsten Phase meines politischen Lebens einmal für mich haben würde: „Das gesamte deutsche Volk bleibt aufgefordert, in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit zu vollenden.“

Ein wesentlicher Beweggrund für mich, die FDP in den späteren Jahren in eine Koalition mit der SPD zu führen, war, durch sie die Voraussetzungen zur Wiedererlangung der Deutschen Einheit zu schaffen. Denn die Wiedervereinigung wirklich auf den Weg zu bringen war die bedeutendste politische Aufgabe, der es sich damals zu stellen galt. Es musste nach der Integration der Bundesrepublik Deutschland in den Westen unter Konrad Adenauer endlich der Versuch unternommen werden, eine Normalisierung unseres Verhältnisses zu den östlichen Nachbarn zu finden. Das war die Voraussetzung überhaupt, um etwas in Richtung Wiedervereinigung zu bewegen. Mit dem Westen allein war das nicht möglich, denn Europa war geteilt. So wurde durch die Koalition der FDP mit der SPD 1969 im Bundestag eine Mehrheit geschaffen, die neue Wege in der Ostpolitik beschreiten wollte.

Die Regierungserklärung von Willy Brandt, auf die sich FDP und SPD einigten, trägt den Titel „Mehr Demokratie wagen“. Damit wollten wir zum Ausdruck bringen, wie die Bundesrepublik in Zukunft neue Wege öffnen wollte.

Und das haben wir dann auch getan: durch die Ostverträge. Moskauer Vertrag, Warschauer Vertrag, Grundlagenvertrag und der Vertrag mit der Tschechoslowakei sind die Namen für die neue Politik und für eine Normalisierung des Miteinanders in Europa.

Im Nachhinein liest sich der „Brief zur Deutschen Einheit“ wie das Drehbuch des Wiedervereinigungsvorgangs, wie er sich dann zwischen 1970 und 1989 in der Wirklichkeit abspielte.


Der Text, der im Zusammenhang mit den Moskauer Verträgen an Minister Gromyko am 12. August 1970 übersendet wurde, lautet:

„Sehr geehrter Herr Minister,
im Zusammenhang mit der heutigen Unterzeichnung des Vertrages zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken beehrt sich die Regierung der Bundesrepublik Deutschland festzustellen, dass dieser Vertrag nicht im Widerspruch zu dem politischen Ziel der Bundesrepublik Deutschland steht, auf einen Zustand des Friedens in Europa hinzuwirken, in dem das deutsche Volk in freier Selbstbestimmung seine Einheit wiedererlangt.
Genehmigen Sie, Herr Minister, die Versicherung meiner ausgezeichnetsten Hochachtung.
Walter Scheel“

Und noch heute empfinde ich einen fast literarischen Genuss, wenn ich die Artikel unseres Grundgesetzes durchlese. Eine eigene Mischung aus Nationalstolz, Bewunderung der Verfasser und Respekt vor dem damals gebildeten Staatswesen. Ich bin dann sehr glücklich und erfreut, wenn ich über meine eigenen Ämter, die ich ausüben durfte, nachdenke und in welchen unterschiedlichen Variationen ich mit dem Grundgesetz verknüpft war.

Eines war mir seit Beginn der Bundesrepublik Deutschland 1949 immer ganz besonders wichtig. Dass Deutschland nämlich eingebettet ist in ein starkes Europa und in die Weltgemeinschaft. Schon am Anfang meiner politischen Karriere stand das weltoffene Bild Deutschlands und ich habe Personen, die unser Land als „Insel der Glückseligkeit“ empfanden, nie gemocht. Erst im Zusammenspiel mit unseren Nachbarn, in einer friedlichen Welt, kann unser Land erblühen. Und obgleich meiner Generation auch Verständnis entgegengebracht werden sollte, wenn sie skeptisch ist, dass sich Migrationsverschiebungen heute als vollkommen normal erweisen, darf ich für mich selbst sprechen, dass ich es immer positiv fand, andere Nationalitäten in unserem Land, aber auch in anderen Ländern zu begegnen.

Eine der schlimmsten Erfahrungen waren die ausländerfeindlich motivierten Brandanschläge 1993 auf türkisch-stämmige Mitbewohner in meiner Heimatstadt Solingen. Ausgerechnet in der von mir so verehrten Heimatgemeinde, passierte so eine schamlose und einfältige Tat!
Wie konträr stand doch eine solche Tat zu unseren Verfassungswerten. Nicht Freiheit, Verantwortung und Toleranz wurde dabei gelebt, sondern Ignoranz und Rohheit.

Als Ehrenvorsitzender der FDP in Deutschland und als Liberaler ganz persönlich ist es mir ein Bedürfnis, die Freiheitswerte in unserer Verfassung besonders hervorzuheben. Dabei ist Freiheit keine Einbahnstraße in unserem Grundgesetz. Freiheit setzt in unserer Verfassung auf Verantwortung. Und so haben Staat und Bürger eine gegenseitige Pflicht, Freiheit zur Verantwortung zu ermöglichen. Das lässt sich einfach schreiben für mich. Dazu ein Grundgerüst zu erschaffen, wie es im Grundgesetz insbesondere in den Artikeln 20 und 20a formuliert wurde, schon viel schwieriger. Am Schwierigsten wird es aber, wenn man diese Grundlage in der täglichen Politik umsetzen muss. Bei aller berechtigten Kritik an Prozessen in unserem Staat ist das Ergebnis ein positives. Natürlich gab es im Verlauf der letzten 63 Jahre auch Pannen und falsche Entwicklungen. Aber unser Grundgesetz hat eben die Verankerung für eine freiheitliche Staatsentwicklung gefunden, die der Republik Erfolg und Zufriedenheit in freier Selbstbestimmung ermöglicht hat. Darauf können wir Deutschen, aber auch die Nachbarn in Europa und der Welt stolz sein. Denn unsere Freunde leben gerne in Deutschland. Das galt für die türkischen Gastarbeiter der ersten Stunde, wie heute für viele Nationalitäten, die aus der ganzen Welt in Deutschland ein Zuhause gefunden haben.

Mein Leben neigt sich altersbedingt dem Ende entgegen. Doch weiß ich voller Zuversicht und Hoffnung, dass die Väter unserer Verfassung mit großer Zufriedenheit auf unser Land blicken können und ich weiß, dass auch in Zukunft unser Land in der Weltgemeinschaft sich wird behaupten können und wir noch weiter mit der internationalen Völkergemeinschaft verbunden sein werden.

Ich habe das bei einem der für mich sensibelsten Reden für die Bundesrepublik Deutschland formuliert.

Zwei deutsche Staaten wurden in die Vereinten Nationen aufgenommen. Es war ein ganz unglaubliches Gefühl, damals zu akzeptieren, dass die DDR ebenfalls aufgenommen wurde. Aber die historische Entwicklung hat der neuen Ostpolitik von damals eben Recht gegeben. Wir Deutschen können darüber sehr glücklich sein und wir Liberalen haben einen entscheidenden Anteil an der Entwicklung hin zu einem vereinten Europa.

Am Schluss meiner Rede vom 19. September 1973 habe ich wie folgt formuliert:

„Sie werden die Bundesrepublik Deutschland immer dort finden, wo es um die internationale Zusammenarbeit geht, um die Bewahrung des Friedens und um die Rechte des Menschen. Wenn wir etwas aus eigener bitterer Erfahrung gelernt haben, so ist es dies: Der Mensch ist das Maß aller Dinge.“
Das gilt heute wie morgen und ich bin sehr glücklich darüber.




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