Artikel Samstag, 16.05.2015 |  Drucken

Die Codes der Toleranz - Ein Konzept für eine Globalisierung der Mitmenschlichkeit

Mohammed Khallouk bespricht das bemerkenswerte Buch von Hubertus Hoffmann

Die Welt war wirtschaftlich und medial noch nie so eng miteinander verflochten, wie in der Gegenwart. In Bruchteilen von Sekunden können Menschen unterschiedlicher Erdteile miteinander kommunizieren und Ereignisse in Australien zeigen unmittelbar in Afrika oder Europa ihre Auswirkungen. Diesen Fortschritt haben wir unserer menschlichen Vernunft zu verdanken, die es uns sogar ermöglicht hat, ferne Galaxien im Weltraum zu erkunden. Wie wir unser menschliches Zusammenleben auf Erden mit den mannigfaltigen Kulturen und Religionen friedlich und im Dienste aller gestalten, hat uns unsere Vernunft jedoch offenbar noch nicht beigebracht. Besonders aus dem Vorderen Orient erscheinen in den letzten Jahren immer wieder Medienberichte von einer Brutalität im menschlichen Umgang miteinander, die den Eindruck erwecken, wir befänden uns noch im Mittelalter und die Aufklärung habe es nicht gegeben. Der ehemalige Staatssekretär im Verteidigungsministerium und einstige Medienunternehmer Hubertus Hoffmann hat mit seinen Codes der Toleranz jedoch ein Konzept aufgezeigt, mit dem unser Fortschritt nicht auf technische Errungenschaften beschränkt bleiben muss und ebenso zu einer friedlicheren und humaneren Welt führen kann.

In seinem 463 Seiten umfassenden Buch, das auch die geistige Grundlage der von ihm ins Leben gerufenen internationalen Initiative „Codes of Tolerance“ darstellt, präsentiert Hoffmann eine Anleitung, wie Funktionsträger in Schulen, Politik oder religiöse Institutionen weltweit in ihren jeweiligen Verantwortungsbereichen einen Beitrag leisten können, Konflikte durch Versöhnung zu überwinden und mehr Mitmenschlichkeit im Alltag zur Geltung zu bringen.

Der Autor hat Interviews mit bedeutenden politischen und religiösen Führern aus allen Zivilisationen geführt, darunter den letzten drei Päpsten, dem jordanischen Königspaar und dem Dalai Lama. Ihre Statements lassen erkennen, dass Versöhnung und friedliche Konfliktbewältigung in der Ethik aller Weltreligionen angelegt ist. Uns alle als sogenannte „schweigende Mehrheit“ fordert Hoffmann auf, gegen die wenigen Radikalen in unseren jeweiligen Zivilisationen öffentlich die Stimme zu erheben, und herauszustellen, dass diese mit ihren auf Gewalt setzenden Strategien nicht auf der eigentlichen Grundlage unserer Religion und Kultur stehen.

Angesichts der Tatsache, dass in den medial gestützten westlichen Diskursen gegenwärtig besonders dem Islam Intoleranz und Gewalthaftigkeit nachgesagt wird, setzt sich der Katholik Hoffmann recht ausführlich mit dem Islam auseinander und zeigt auf, dass der Islam in seinem Kern eine ebenso auf Friedfertigkeit, Versöhnung und Barmherzigkeit ausgerichtete Botschaft enthält wie Juden- und Christentum.

Den humanen Charakter des Islam stellt er nicht nur anhand von ausgewählten Koranzitaten und Verweisen auf das Verhalten des Propheten Mohammed heraus, sondern nennt darüber hinaus 10 sogenannte Goldene Körner, welche die Humanität des Islam zum Ausdruck bringen. Diese sind Hoffmann zufolge:
•    die in jeder Koransure zu Beginn betonte Gnade und Barmherzigkeit Gottes;
•    die islamischen Grußworte „Friede sei mit Dir/Ihnen“;
•    das prophetische Ziel einer auf Harmonie mit Gott, Menschen und Tieren basierenden Gesellschaft (hilm);
•    die göttliche Strafe wird erst am Jüngsten Tag und nicht bereits auf Erden verhängt;
•    die als Maßstab für eine islamische Ordnung geltende Prophetenherrschaft in Medina, die keine zwangsweise auferlegte Theokratie beinhaltete, sondern traditionelle politische Strukturen bestehen ließ;
•    die zahlreichen Koranverse, in denen die Wertschätzung für Juden und Christen sowie für deren als „Muslime“ und sogar „Propheten“ gewürdigten Glaubensväter betont werden;
•    mindestens 27 Verse im Koran, in denen Muslime zu Toleranz aufgerufen werden, darunter sechs Verse, in denen Toleranz die Kernforderung darstellt;
•    die Einschränkung der erlaubten Gewaltanwendung für Muslime auf Selbstverteidigung;
•    die 14 ewiggültigen Verträge mit Christen und das respektvolle Verhalten des Propheten wie der ersten Kalifen ihnen gegenüber;
•    die Tradition der religiösen Toleranz, dokumentiert durch die Freundschaft der ersten Muslime mit Christen im abessinischen Exil und im sogenannten „Goldenen Islamischen Zeitalter“ im neunten Jahrhundert nach Christi, aber auch ausgedrückt in Surah 17:34, die es erlaube, der UN Charta in Islamischen Staaten Gesetzeskraft zu verleihen.

Diese zehn sogenannten „Goldkörner“ sind für Hoffmann letztlich der eindeutige Beleg, dass das gewaltbeladene Bild, welches westliche Medien, aber auch einige radikale Bewegungen wie IS oder Boko Haram vom Islam gegenwärtig nach außen tragen, in keiner Weise der Realität entspreche. Vor diesem Hintergrund fordert er die Muslime auf, gegen die radikale Minderheit unter ihnen, die einige wenige Passagen aus den Heiligen Texten herausgreife, um ihr verzerrtes Islambild zur Geltung bringen zu lassen, öffentlich aufzustehen und offensiv für eine tolerante weltoffene Gesellschaft einzutreten.

Gleiches fordert er aber auch von westlichen Autoritäten, die den Versöhnungsauftrag des Christentums ernster nehmen sollten. Er kritisiert beispielsweise, dass westliche wie außerwestliche Staaten heutzutage lediglich 0,01 % ihrer Ausgaben für Verteidigung und innere Sicherheit speziellen auf Versöhnung ausgerichteten Projekten zukommen ließen. Wenn wir im Westen diesbezüglich nicht mit gutem Beispiel voranschritten, könnten wir auch nicht erwarten, dass Länder der Dritten Welt und Staaten anderer Zivilisationen sich aktiver als bisher für Frieden und globale Gerechtigkeit einsetzten.

Neben diesen Ermahnungen an die Gesellschaft enthält das Buch die insgesamt hoffnungsvolle Botschaft, dass Miteinander und Mitmenschlichkeit nicht nur heutzutage möglich sind, sondern bereits in allen bedeutenden Religionen und Kulturen des Globusses eine Basisforderung darstellen. Nehmen wir uns die unzähligen, von Hoffmann aufgezeigten Beispiele als Vorbilder und belassen wir es nicht bei wohlklingenden Worten, sondern setzen uns aktiv für eine friedvollere und humanere Welt ein.

Hubertus Hoffmann Codes der Toleranz- Eine Anleitung für Weltverbesserer und Pessimisten, streng Gläubige und freie Geister
Herder Verlag, Freiburg 2014 ISBN: 978-3-451-33373-6



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