Artikel Donnerstag, 27.09.2012 |  Drucken

Gegen alle Verschwörungen Ein gutes Buch zur Stärkung des Zusammenlebens von „Muslimen und Deutschen“ - Von Rupert Neudeck

Endlich eine Darstellung, die etwas erreicht, was dringend geboten ist in unserem Mitteleuropa nach 2001: Die Angst vor den Muslimen ist nicht nur irrational, sie gefährdet auch unsere Demokratie. Der große Lehrmeister der Antisemitismusforschung W. Benz  hat sich nicht abschrecken lassen von Kleingeistern und politisch Korrekten. Die Islamophobie ist ein größeres und eindeutigeres Phänomen, als wir es bisher uns klarmachen sollten. Und, da ist der Autor sich ganz sicher und hat keinen Moment Zögern: sie bringt unsere Demokratie in Gefahr.

Der Autor führt uns in die Abgründe der pathologischen, ganz Europa und die Christenheit besoffen machenden Kreuzzüge, der Türkenangriffe auf Wien, des doppelten und dreifachen und dann doch immer noch in letzter Minute abgewehrten Untergänge des Abendlandes. Am 27. November 1095 bricht der erste Kreuzzug los, ein rhetorisch begabter Papst Urban II setzt die Emotionen der damals noch allein katholischen Christenheit in Wallung und diese Wallung hat noch kein Ende, als nach dem 11. September 2001 der US-amerikanische Präsident absichtlich und unvorsichtig dass Wort Kreuzzug wieder benutzt. Im fünften Kapitel bietet Benz die bisher ausführlichste Beschreibung (fast?) aller organisierter Islamfeinde und Feindschaftsagenturen, die es bisher gibt. Man fasst sich als Leser an den Kopf, was da als Sinnstiftung mit wissenschaftlichem Anspruch und als Verortung des Islam als totalitäres System alles so herumspukt in Deutschland und Europa!! Wie manche Zeitgenossen die Islamfeindschaft als eigene Erweckung erleben, wie z.B. der Redakteur der FAZ von 1986 bis 2003, Udo Ulfkotte. Er ist irgendwann umgekippt in eine Verschwörungsgestalt und eine selbstgegründete Agentur, die sich „Pax Europa“ , das Buch, das er schreibt, heisst  „SOS Abendland“. Ulfkottes Prosa, schreibt Benz, gehört zur „Textsorte der erregten Suada, die Gefahren heraufbeschwört, um aufzuwiegeln, um Unruhe zu stiften. Sie lebt von sendungsbewusster Empörung, Polemik und Inkriminierung“. Auf was solch ein Verschwörungsopfer wie Ulfkotte kommen kann, zeigen Quizfragen, wie z.B. diese Frage 17: „In welchem europäischen Land hat im Dezember 2006 zum ersten Mal eine vollverschleierte Muslima in einem bekannten Privatsender eine alternative islamische Weihnachtsansprache an die Bevölkerung verlesen dürfen; eine Frau, die Christen als ‚Ratten’ bezeichnete, die Umwandlung von Gaststätten in Moscheen fordert?“

Dabei kann der Leser eines der vier Länder Italien, Frankreich, Großbritannien, Schweden anklicken. Es sind abstruse Vorstellungen darunter, die dem lieben Leser Enthüllungen und Forderungen anbieten, die oft nicht verfassungskonform sind, „Nur Menschen, die sich der Werte unseres westlichen Kulturkreises bewusst sind, können diesen gegen den Tsunami der Islamisierung verteidigen?“

Benz porträtiert neben Ulfkotte den „Islamfeind mit wissenschaftlichen Anspruch“ Hans-Peter Raddatz, der 1967 für Banken und Konzerne in Nahost und den USA tätig war, ehe er sich als Unternehmer in der Softwarebranche selbständig machte. Er hat tatsächlich auch Orientalistik studiert. Benz: Es handele sich bei seinen Schriften nicht um wissenschaftlich fundierte Aufklärung, sondern um Agitation. Es gelang ihm, einen dumm-frommen Brief als Mordaufruf zu platzieren und dafür sogar die Gunst des staatlich-polizeilichen Personenschutzes einzuheimsen. Prominente Politiker waren mit dabei um das zu stützen. „Wenn Herr Raddatz ein Hassprediger ist, dann möge ihn der allmächtige Schöpfer für seine Verbrechen bestrafen…“ – das war der fromm-dumme Brief eines Verrückten und subjektiv Tiefgläubigen.

Es kommen noch die geradezu irrwitzigen Verhedderungen des Historikers Ernst Nolte dazu, der dem Islam die totalitäre Komponente andichtet. Thilo Sarrazin hat mit diesem Buch von Wolfgang Benz  zum ersten Mal eine Entgegnung bekommen, die das Buch auf die richtige Ebene zurückstuft, nämlich auf eine Provokation in egozentrischer Manier. Sarrazin hat sein ganz großes und erschreckenderweise aufnahmebereites bürgerliches Publikum gewonnen: Besitzendes, gebildetes Bürgertum hört ihm gläubig zu, nicht die an den Reibeflächen der Integration lebenden Bewohner sozial prekärer Wohngegenden. Sarrazin genoss alle Vorteile des Demagogen gegenüber dem Experten. Das Buch porträtiert den schrecklichen Vereinfacher Geert Wilders, der sich bar jeder Kenntnisse einfach auf die Grundlage dieser Islamophobie stellt wie seinerzeit in Deutschland die große Masse des Bürgertums gegen die Juden waren. Das Buch hält noch mal fest, wie diese Islamfeinde Stereotypen bedienen und das Bedürfnis nach einem Feind im Innern, den man entweder vertreiben oder eingrenzen oder gar unschädlich machen müsse. Juden mussten jahrhundertlang diese Rolle spielen als Brunnenvergifter, Ritualmörder, Frevler am Christentum, als Wucherer, als Inkarnation des Kapitalismus und als Erfinder des Kommunismus. Zu definieren ist jetzt das Nachfolge Phänomen der Islamfeindschaft als Ressentiment gegen in unserer Gesellschaft lebende Menschen, die mit religiösen kulturellen und politischen Argumenten diskriminiert und ausgegrenzt werden.

Das Buch hat sehr klug vier Interviews zwischen die Kapitel gestellt, die das Ganze noch verlebendigen. Das erste Interview führt Wolfgang Benz mit Lydia Nofal, die 2002 einen ersten Verein gegen Rassismus und für Menschenrechte mit dem schönen Titel INSSAN gegründet hat (Inssan ist arabisch und bedeutet Mensch). Der Verein macht aktive Antidiskriminierungsarbeit. Auch und gerade in Moscheen, in denen man den Frauen erklärt: In Deutschland ist Diskriminierung verboten. Gefragt, ob die Arbeit der deutschen Frauenbewegung von Alice Schwarzer für sie hilfreich sei, sagt Lydia Nofal: „Na, herzlichen Dank. Das schadet uns als muslimischen Frauen massiv“. Die muslimischen Frauen werden, wenn sie für ihre Rechte eintreten, von der Frauenbewegung nicht ernst genommen. „Wenn man gleichzeitig religiös ist, dann ist man automatisch unterdrückt, oder man ist eine Islamistin. Dass man religiös ist und für die eigenen Rechte eintritt“, geht irgendwie nicht.

Der damalige Berliner Innensenator Ehrhart Körting gibt Auskunft über viele gute Initiativen, die zumindest die offizielle Politik schmücken. Er beschreibt die zwei Konflikt-Moschee- Bauten, die aber mit seiner tatkräftigen Hilfe durchgestanden wurden.

Dann gibt es noch das Interview mit Bekir Alboga, Dialogbeauftragter der türkischen DITIB und einfühlsames  Gespräch mit dem Vorsitzenden des Zentralrats der Muslime, Aiman Mazyek. Mazyek ist der erste offizielle Repräsentant der islamischen Kommunität, der in der Lage ist, gewinnend auf die Mehrheitsgesellschaft zuzugehen, mit allen so zu sprechen, dass man sich verstehen kann. Er hat immer auch eine Gabe Gottes anzubieten: den Witz. In seiner letzten Antwort schimmert das durch, mit der das Buch abschließt. Er, Aiman Mazyek, möchte gern eines Tages seinen Glauben selbstverständlich leben, so wie er seinen rasen mähen will, „ohne dass gesagt wird, das ist ein muslimische Mann, der den Rasenmäher schiebt, sondern ein Bürger nebenan, in Nachbar, den wir gut kennen. Ich wünsche mir Normalität und Selbstverständlichkeit und auch, dass wir nicht bloß als Bürger wahrgenommen werden, sondern als MITBürger, die ihren Beitrag und ihre Leistung hier erbringen“.





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