Newsnational Mittwoch, 05.10.2011 |  Drucken

Ein Land ohne Staat: Bosnien und Herzegowina und der faule Frieden von Dayton - Von Rupert Neudeck

Über die anbahndende Katastrophe im Herzen Europas, weil Europa die Bosnier wieder vergessen hat

Bosnien und Herzegowina müsste froh sein, den Krieg beendet zu haben. Aber es gibt Angst vor einem neuen Krieg. Der in der Stadt berühmte Franziskaner Mirko Majdandzic sagt in seinem gebrochenen Deutsch, das viele Menschen in Sarajevo sprechen: „Der Krieg war für Bosnien besser. Im Krieg war es besser, wir hatten Hoffnung im Krieg und es gab viel Solidarität. Jetzt ist jegliche Hoffnung verschwunden.“ Das drückt sich in der Stimmung zumal der Jugendlichen aus: Sie wollen alle weg, nach Europa, nach Kanada, USA...

Fra Mirko ist auch darin der richtige Bosnier, weil er auch dann noch einen realen Witz auf Lager hat. Ein kroatisch-bosnischer Bewohner von Bugojno hatte seine Tochter nach Kanada emigrieren lassen, auch, weil er die Muslime nicht ausstehen konnte. Kaum war die kroatisch-bosnische Tochter dort angekommen, hat sie sich in einen muslimischen Mann aus Bosnien verknallt, der wenigstens schon mal englisch konnte. Deshalb meint Fra Mirko: Man solle Bosnien einfach – Kanada nennen, dann bekommt man keine Probleme.

Das Land ist kein Land. Es ist wie Somalia ein gescheiterter Staat. Es hat also eine afrikanische Gegenwart. Es ist zusammengesetzt aus zwei Staaten, die auch kräftig gegeneinander arbeiten und sich nicht als Nachbarn ergänzen möchten. Da ist die in Dayton (Oktober 1995) sogenannte Republika Srpska und die muslimisch-kroatische Föderation. Das war der grösste Unfug, den die internationale Staatengemeinschaft sich in Dayton ausdenken konnte. Der Verursacher der Vertreibungen, der Demütigungen der Muslime und manchmal auch der Kroaten, die serbische Seite, die auf Großserbien setzte, bekam als Belohnung für die Gräuel des Krieges und der Vertreibungen auch noch den Teil des Landes, der sich dann offiziell „Republika Srspka“ nennen durfte. En heller Wahnsinn.

Gleichzeitig wurde bestimmt, dass alle, auch Muslime und Kroaten wieder in ihre Heimatdörfer, zumindest in ihre eigenen Häuser zurückkehren dürften. Wahnsinn.
Der Krieg hatte eine taktische Volte gehabt, die Amerikaner hatten die Kroaten und die Muslime oder die Bosanski zusammen in die Föderation gesteckt, aber das war eben nur eine taktische Volte.

Denn die Kroaten standen zu Beginn des Bosnienkrieges den Muslimen ähnlich feindlich gegebenüber wie die Serben. Jetzt mosern auch die Kroaten gegen die Föderation und meinen, die Amerikaner würden die Serben sehen, die irgendwie ihren Staat machen sollten und die Muslime. Die 12 Prozent der Kroaten in BiH seien im Wortsinn politisch eine vernachlässigbare Größe. Und deshalb sollten sie entweder nach Kroatien oder auswandern oder dorthin gehen, wo der Pfeffer wächst. Der kroatisch-bosnische Schriftsteller Zeliko Ivankovic hält dafür, dass man die Kroaten vergessen hat. ??? Die internationale Gemeinschaft muss von außen Druck machen und darf nicht die beiden großen Staaten Kroatien und Serbien belohnen, bevor die Dinge in Bosnien und Herzegowina nicht in Ordnung gebracht sind.

Was wird denn die Europäische Union machen?

Der Schriftsteller Zeliko Ivankovic und sein muslimischer Kollege Dzevad Karahasan sind sehr skeptisch. Die EU ist ein zahnloser Tiger, der zu gar nichts außer seiner eigenen Finanzkrise in der Lage sein kann. Das Fussballspiel zwischen den beiden großen Clubs Zeljeznicar Sarajevo und BORAC Banja Luka am 24. September in Banja Luka (der heimlichen zweiten Hauptstadt des Landes, und der ersten der Republika Srpska) spricht Bände. Das Spiel musste nach 28 Minuten abgebrochen werden, weil nach dem ersten Tor, das ein Sarajever Spieler (Eldar Adilovic) geschossen hatte, Fans auf das Spielfeld jagten, bengalische Feuer in den Gästeblöock warfen. Das Fussball Publikum in Banja Luka ist bekannt für seine den Genozid in Srebrenica leugnenden Transparente: NOZ ZICA SREBRENICA. Das muss man erklären: „Messer, Draht und Srebrenica“, das soll lobend affirmativ sagen: Die Muslime sind mit Messer und Draht zu Recht umgebracht worden in Srebrenica. Das bleibt dann unwidersprochen uind unentschuldigt. Niemand verurteilt jemanden in Banjka Luka für diese Genozid Leugnung.
Die sog. Aussenministerin der Europäischen Union, Catherine Ashton, hat sich in den letzten Monaten schon zwei Mal mit Milorad Dodik, dem verbrecherischen Chef der Regierung der Republika Srpska getroffen. Niemand weiss, was sie da besprochen hat.

So weist Bosnien und Herzegowina alle Zeichen eines gescheiterten Staates auf und bereitet sich darauf vor, nach der Katastrophe von Somalia nunmehr die Schlagzeilen der internationalen Medien wieder zu belasten und zu bevölkern.

Wie, so möchte man den gegenwärtig amtierenden Zeliko Komsic fragen, fühlt man sich als Präsident eines Nicht-Staates?

Der europäische Islam schon in BiH

Dabei hat das Land Europa etwas zu bieten: Den europäischen Islam in einer Gestalt, wie man ihn für und mit Migranten außerhalb Bosniens erst erfinden muss. Der Grand Mufti, der Reiz-ul Ulema Mustafa Ceric hat es immer wieder gesagt: Das bosnische Element dieses Islam ist der „Dar ul Sul“, der Vertrag, den die muslimische Gesellschaft mit dem Staat eingeht. Der „Contrat Social“, der Gesellschaftsvertrag in der Prägung von Jean-Jacques Rousseau. Von Sarajevo, der Stadt, in der sich die drei großen abrahamistischen Religionen getroffen haben, wie bisher nur in Jerusalem, könnte eine religiös-europäische Renaissance ausgehen. Denn der Islam und das Judentum und das Christentum haben hier bis auf die letzte Neuzeit ohne Kreuzzüge und Gewalt gelebt. Sie haben sich ergänzt in den verschiedenen Stadtteilen.
Und das Land hat so viel Witz und Verstand, dass es sich als Musterland für eine ökologische Entwicklung eignen würde. Es hat einen Handwerker und einen Beruf, der auf die Zeit der Ressourcenschonung und des Sparens mit den Gütern dieser Erde geeicht ist. Er heißt bosnisch: der Dundjer“: Ein Dundjer ist ein Meister, der kein bestimmtes Handwerk gelernt hat, aber mit allen irgendwie zurechtkommt.

Dzevad Karahasan hat das Loblied dieses ersten ökologischen Berufes gesungen: „Einen Dundjer rufen Sie, wenn Ihre Waschmaschine oder die Herdklappe defekt ist, wenn eine Wand feucht oder etwas von dem Schrank abgebrochen ist, wenn sie die Südwand Ihres Hauses mit Blech abdichten oder sich wegen der Heizung, eines Garagenbaus an der Westwand Ihres Hauses beraten wollten.“ Hingegen sollte man ihn niemals rufen, „wenn etwas neu gemacht werden muss. Für solche Arbeiten engagiert man Handwerker, die einseitig und oberflächlich genug sind, um es zu wagen, die Schöpfung ex nihilo nachzuahmen“.

Dieser Staat, der nicht weiß, ob er aus zwei oder drei gegeneinander arbeitenden Teilen zusammengesetzt ist, der eine Eisenbahn hat, die ihr sämtliches Personal, vom Lokführer angefangen bis zum letzten Fahrkartenkontrolleur und dem Reinigungspersonal an den Grenzen zwischen der Föderation und der Republika Srpska auswechselt, weil man dann ja in ein anderes Land, pardon, eine andere Entität fährt, dieses Land ist noch keines. Alle in der Nachfolge Jugoslawiens sind es recht und schlecht geworden. Bosnien und Herzegowina (noch) nicht. Es ist stehengeblieben bei den Ergebnissen des faulen Friedens von Dayton, das man auch immer Dayton I nennt, weil es gebieterisch auf Dayton II verweist, dass eine Konferenz bezeichnet, in der man alle Laster und Hindernisse für den Staat Bosnien Herzegowina ausräumen sollte. Aber es gibt immer noch kein Datum und keinen Ort für diese Dayton II Konferenz.

Ich hatte immer geglaubt, Kenia sei das Land mit weltweit den meisten höchstbezahlten (2.300 US-Dollar) Ministern: 74 Minister und Vizeminister. In BiH hat man aus Peinlichkeit noch nicht zu zählen angefangen, denn jeder Kanton hat eine Regierung mit Ministern, dazu kommt die Ebene der beiden Föderalregierungen: Die der Föderation in Sarajevo und die der Republika Srpska in Banja Luka. Dann kommen drei Präsidenten, die für vier Jahre gewählt werden und von denen jeweils einer im Turnus für acht Monate Präsident dieses gescheiterten Staates wird. Wie, so möchte man den gegenwärtig amtierenden Zeliko Komsic fragen, fühlt man sich als Präsident eines Nicht-Staates?




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