Das Grundgesetz im (Migrations)-Vordergrund - Artikel 4  Drucken



Artikel 4 [Glaubens-, Gewissens- und Bekenntnisfreiheit] aus muslimischer Sicht


1. Art. 4 des Grundgesetzes lautet wie folgt:

(1) Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich.


(2) Die ungestörte Religionsausübung wird gewährleistet.


(3) Niemand darf gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden. Das Nähere regelt ein Bundesgesetz.


Dies klingt nicht nur wie ein Manifest religiöser Toleranz im freiheitlichen Rechtsstaat, sondern ist es auch – rechtstheoretisch.

Die Rechtspraxis ist weniger attraktiv, wird doch auch sie von einer in Deutschland weitverbreiten Islamophobie mitgeprägt.

Schließlich hat der Bürger wenig, wenn überhaupt, von dem, was man nudum ius nennt: Recht in seiner ideal-abstrakten „Nacktheit“.

Wichtiger ist das Recht in der schockierenden Definition des ehemaligen Obersten Richters am amerikanischen Supreme Court, Wendell Holmes: „Law is the likelihood of what the courts will do.“ (Recht ist, was die Gerichte wahrscheinlich entscheiden werden.)

Das relativiert Justiz und Demokratie dem witzigen Satz gemäß: “Wir sind alle gleich, aber einige sind etwas gleicher“.

2. Womit gesagt sein soll, dass es für den einzelnen Staatsbürger, in diesem Falle die Muslime in Deutschland, weniger auf die rechtliche Orthodoxie als auf die alltägliche Orthopraxis ankommt: die gelebte rechtliche Wirklichkeit. Dafür eine Reihe von Beispielen:

a) Kleidung: In Deutschland kann jeder auf der Straße tragen, was er will, also auch sich fast grenzenlos ausziehen. Es sei denn, dass es sich um das Kopftuch, allerdings nur einer Muslima, handelt. Für eine Nicht-Muslima kann ein Kopftuch modisches Accessoire sein, bei einer Muslima gilt es als Zeichen von
(i) Unterdrückung durch Ehemann oder Familie, oder
(ii) geistiger Beschränktheit („die ist bekloppt!“), oder
(iii) missionarischer Militanz
(iv) Gastarbeitertum.


Daher löst es geradezu Aggressionen aus, wenn es sich herausstellt, dass eine alleinstehende deutschbürtige Akademikerin Kopftuch trägt. Das gleiche gilt im Übrigen auch für Kleidung, die den Körper bis auf die Hände und Füße bedeckt, wie es im Islam vorgesehen ist. Muslimische Frauen möchten, dass man ihnen ins Gesicht, in die Augen, schaut, nicht auf die Beine oder fast entblößte Brüste. Von Gleichbehandlung kann hier keine Rede sein.

b) Arbeitsmarkt: Muslime, die als solche an ihrer Kleidung zu erkennen sind, haben in Deutschland deutlich verringerte Chancen am Arbeitsmarkt. Meist kommt es nur formell – oder aber gar nicht – zu einem Vorstellungsgespräch. Das trifft selbst die qualifiziertesten muslimischen Lehramtsstudentinnen. Während Nonnen in Nonnentracht in deutschen Schulen katholische Religion unterrichten können, lehnt man regelmäßig bedeckte muslimische Lehrkräfte ab. Dabei könnte man doch getrost davon ausgehen, dass unsere fernsehgeschulten Kinder problemlos mit der Pluralität ihrer Umwelt umzugehen wissen. Es ist zu hoffen, dass diese Lage sich in dem Maße verbessert, in dem muslimischer Religionsunterricht von muslimischen Lehrerinnen erteilt werden wird.

Ein Blick nach England und in die Vereinigten Staaten sollte deutsche Behörden beschämen, haben doch muslimische Frauen in der angelsächsischen Kultur keine ähnlichen Schwierigkeiten. Auch als Soldatinnen in den amerikanischen Streitkräften können sie ohne weiteres Kopftuch zur Uniform tragen. Auch beschäftigt das Pentagon muslimische Geistliche, in deren combat kit sich von Amts wegen Qur`an und Gebetsteppich finden.

c) Moscheebau: Man sollte annehmen, dass das deutsche Baurecht für alle Gebäude in Deutschland gilt. Weit gefehlt! Wer versucht, eine Moschee nicht hinter den Bahngeleisen (neben dem Schlachthof), sondern in der Innenstadt (unweit der katholischen und evangelischen Ortskirche) zu bauen, wird wahre Wunder an brillanter Rechtsmanipulation erleben. Die Bauordnung scheint plötzlich keine Rolle mehr zu spielen, selbst wenn Parkplätze vorhanden sind. Vielmehr hat man über sein Bauvorhaben so zu verhandeln als handele es sich um einen Atomreaktor.

d) Minarett: Besonders delikat wird es, wenn ein Minarett zu genehmigen ist. Dabei wird man erleben, dass man die Höhe des Minaretts in krasser Verletzung des Baurechts beschränken will, so als sei dort zu lesen, dass ein Minarett nicht höher als ein Kirchturm sein dürfe. Ja, man legt den Muslimen nahe, ohne Minarett zu bauen, da man schließlich auch ohne Minarett die Moschee finden und dort beten könne. Dass dies auch für kirchtumslose Kirchen gelten würde, bleibt außer Ansatz.

Absurderweise werden Minarette in Deutschland meist nur mit dem Verbot genehmigt, sie auch als Minarett zu nutzen. Sie dienen also nur „an sich“ dem Gebetsruf des Muezzins (al-muadhin). In Wirklichkeit lassen baurechtlicher Auflagen nur den zweiten Gebetsruf (al-iqama) im Inneren der Moschee zu.

Dies wird lustigerweise damit begründet, dass der Gebetsruf den Straßenverkehr gefährden könnte, als würden Leute am Steuer – ständig viel Lärm ausgesetzt – beim Ruf des Muezzins prompt die Kontrolle über ihr Fahrzeug verlieren.

Daher geht man gegen den Gebetsruf mit einem weiteren, einem Hilfsargument, vor: Während das Glockengeläute keinen Text verbreite, fordere der adhan sprachlich zu Eingottglauben und Anerkennung Muhammads als Prophet auf. Dem ist entgegenzuhalten, dass der Gebetsruf, auch wenn er verstärkt wird, meist (selbst von Muslimen) kaum zu verstehen ist. Ferner, dass Kirchenglocken sehr wohl und für jedermann erkenntlich zu einem bestimmten Verhalten auffordern.

Es wäre ehrlicher und daher für die Gesellschaft gesünder, sich weniger verlogener Argumente zu bedienen. Wenn der deutsche Bundespräsident feststellt, dass der Islam inzwischen zu Deutschland gehört, sollten auch die Baubehörden, selbst in Bayern, sich dies gesagt sein lassen.

e) Religionsunterricht: Die Religionsartikel der Weimarer Verfassung (vor allem Art. 135-137) sind gem. Art. 140 GG im wesentlichen in die heute gültige deutsche Verfassung übernommen worden. Danach ist den islamischen Verbänden in Deutschland grundsätzlich der Status einer Religionsgemeinschaft des öffentlichen Rechts einzuräumen, sofern sie nach ihren Statuten, ihrer Mitgliederzahl und ihrer Gewähr auf Dauer dem entsprechen.

(i) Nach ihrer Zahl (rund vier Millionen) sollten die Muslime dem geforderten Umfang entsprechen, zumal es wesentlich kleinere christliche Kirchen gibt, die anerkannt worden sind. Allerdings sind die Mehrzahl der Muslime nicht als Mitglied einer Moschee oder gar des „Islam“ irgendwo registriert. Doch wäre es kontraproduktiv für den inneren Frieden in Deutschland, den Muslimen als Vorbedingung der Anerkennung eine Kirchenstruktur aufzwingen zu wollen.

(ii) Lange Zeit verschloss man in Deutschland die Augen vor der offensichtlichen Tatsache, dass die meisten der eingewanderten Muslime aus politischen wie aus wirtschaftlichen Gründen hier bleiben würden. Inzwischen ist fraglos von einer „Gewähr von Dauer“ auszugehen.

(iii) Umso wichtiger ist es für islamophobe Kräfte geworden, Muslimen die Demokratiefähigkeit abzusprechen. Wie fragwürdig dies – unter Verweis auf die Situation in der muslimischen Welt ist – geht schon daraus hervor, dass es doch nicht um sie, sondern um die Demokratiefähigkeit der in Deutschland wirkenden Muslime geht. Ihnen kann man Demokratiefähigkeit jedenfalls nicht mit Verweis auf Zustände irgendwo in der sonstigen Welt absprechen. Derzeit schreien viele Muslime in Nordafrika und dem Jemen laut und deutlich nach Demokratie, vor allem in Tunesien, Ägypten, Libyen und Jordanien. So muss man davon ausgehen, dass auch muslimische Völkern demokratiefähig sind, selbst wenn sie lieber von schura (gegenseitige Beratung) i. S. von Qur`an 3: 159 und 42: 38 sprechen. Dort sind Muslime als Leute beschrieben, die „sich zu Rate ziehen“ bzw. deren „Angelegenheiten zur gegenseitigen Beratung stehen“. Dies weiterhin zu leugnen, liefe auf essentialistische Betrachtung hinaus.
Im Übrigen sollten insbesondere Deutsche nicht verdrängen, dass sie bis vor relativ kurzer Zeit ebenfalls kein Muster an Demokratie und Rechtstaatlichkeit waren und deshalb nicht als Lehrmeister auftreten sollten.
Damit soll nicht geleugnet sein, dass es – auch in Deutschland – einige Muslime gibt, welche noch immer Islam und Demokratie für unvereinbar halten. Doch dabei handelt es sich um intellektuell und ihrer Bildung nach eher unauffällige Randgruppen. Scheich Yusuf al-Qaradawi ist der Meinung, dass solche Leute „weder von Islam noch von Demokratie etwas verstehen“.

f) Bestattung: Nach islamischem Recht werden Muslime nicht in Särgen, sondern in zwei weiße Tücher eingehüllt begraben. Die Gräber sind so ausgerichtet, dass der Bestattete auf seiner rechten Seite liegend Mekka in Blickrichtung hat. Deshalb wirken muslimische Friedhöfe so, als seien alle Gräber durch einen Magneten ausgerichtet worden. Natürlich ist es für das Seelenheil eines Verstorbenen unerheblich, wie und wo er begraben worden ist. Die Hinterbliebenen in Deutschland verstorbener Türken legen gleichwohl großen Wert darauf, dass sie „ordentlich“, auch mit Totengebet, bestattet werden. Daher schicken sie ihre Toten – vorschriftsgemäß in verzinkten Särgen – zur Bestattung in ihre frühere Heimat zurück. Als Deutscher kann man das als kostspielige Folklore abtun.

Doch was hindert deutsche Behörden daran, ein Auge zuzudrücken und islamische Beerdigung in einem dafür bestimmten Friedhofswinkel zuzulassen?

3. Es hat sehr lange gedauert, bevor sich Katholiken und Protestanten bzw. Evangelische in Deutschland „grün“ wurden. Daher verwundert es auch nicht, dass Juden (bis vor kurzem) und derzeit Muslime so vielen Vorurteilen in Deutschland ausgesetzt sind. Daraus ist aber auch zu folgern, dass die Anerkennung des Islam hierzulande letztlich eine Frage von Geduld ist.

Geduld (as-sabr) ist eine herausragende muslimische Tugend, sagt doch die 103. Sure des Qur`an (al-Asr) in ihrem 2. und 3 Vers:

Der Mensch kommt bestimmt ins Verderben,
außer denen, welche glauben und Gutes tun
und sich gegenseitig zur Wahrheit anhalten
und sich gegenseitig anhalten zur Geduld.“


Murad Wilfried Hofmann, geboren 1931, promovierter Jurist, arbeitete 33 Jahre im diplomatischen Dienst, u.a. als Informationsdirektor bei der NATO in Brüssel und zuletzt als deutscher Botschafter in Algerien und Marokko. Heute bereist er als vielgefragter Vortragender vor allem Westeuropa, die USA und muslimische Staaten. Dr.Hofmann konvertierte 1980 zum Islam und veröffentlichte seither zahlreiche Aufsätze und Bücher über interkulturelle und -religiöse Themen. Er ist Ehrenmitglied des Zentralrates der Muslime in Deutschland

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