Artikel Samstag, 21.02.2009 |  Drucken

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Hexenjagd in Rheinland-Pfalz: Vorhang auf zum neuen Kopftuch-Stück in 10 Akten

Die Beschwörungen des Innenministers, dass das Grundgesetz nicht diskutierbar und der Islam ein Teil Deutschlands sei, geht am harten Teil unserer Bevölkerung vorbei

In Rheinland-Pfalz gibt es kein Gesetz, das Lehrerinnen das Tragen eines Kopftuches im Unterricht verbietet - ein eigenmächtig ausgesprochenes Verbot eines Schulleiters, der Schülerschaft oder einzelner Parteigrößen ist also schlicht verfassungswidrig. Doch nach dem Motto: Es kann nicht sein, was (vermeintlich) nicht sein darf, sehen wir derzeit eine Hexenjagd in mehreren Folgen, bei dem die unterschiedlichsten Akteure sich gegenseitig hochschaukeln und der ach so hehre Wahlspruch von Herrn Schäuble ("Das Grundgesetz ist nicht diskutierbar") mit Füßen getreten wird…..

Was bisher geschah:

1. Akt
Eine junge Lehrerin bewirbt sich an einem Wormser Gymnasium, das unter einem eklatanten Lehrermangel leidet und ihre Qualifikation wird offensichtlich für gut befunden - sie wird eingestellt.

2. Akt
Sie erscheint zum Dienstantritt, in der naiven Vorstellung, dass sie dies auch mit Kopftuch tun darf, denn immerhin ist Rheinland-Pfalz kein rechtsfreier Raum und das Bundesverfassungsgericht (und eine höhere deutsche Instanz gibt es doch wohl nicht, oder?) hat 2003 klar und deutlich verlautbart, dass es ohne ein gesetzliches Kopftuchverbot verfassungswidrig ist, ein solches durchsetzen zu wollen.

3. Akt
Das Kollegium gibt ihr zu verstehen, dass man eigentlich eine Lehrerin ohne Kopftuch erwartet habe. Das mag natürlich sein, aber hätten sie auch einem Farbigen gesagt, sie hätten einen Weißen, zu einem Homosexuellen, sie hätten einen Heterosexuellen, zu einem CDU-Mitglied, sie hätten ein SPD-Mitglied oder zu einem Katholiken, sie hätten einen evangelischen Lehrer erwartet? Wohl kaum, denn zur Diskriminierung auf Grund der Rasse, sexuellen, politischen oder religiösen Orientierung gibt es schließlich keine gesetzliche Erlaubnis - so auch (noch) nicht zur Diskriminierung der muslimischen Lehrerinnen mit Kopftuch.

4. Akt
Die Schüler bekommen Wind von der Sache und sehen das Ganze differenzierter - und auch rechtlich klarer - als ihre Schulleitung, das nützt jedoch nichts. Die Öffentlichkeit, d.h. des Volkes Stimme, unbeleckt von Sachkenntnis, schaltet sich ein.

5. Akt
Die Politik wittert eine Chance, sich zu profilieren - allen voran die CDU, die durch ihre Pressemeldung vom 4.2.2009 eindrucksvoll belegt, dass sie in den letzten Jahren nichts dazu gelernt hat. Warum sollte sie sonst die Pressemeldung von 2006 praktisch abschreiben? Tja, wo ist nur der Lerneffekt von Integrationsgipfel, Islamgipfel und den tagtäglichen Bemühungen der großen Integrationsgöttin (wieso gibt es keine weibliche Form von Guru?) Frau Prof. Böhmer geblieben, die nicht müde wird, die interkulturellen Kompetenzen, die Mehrsprachigkeit, das Zuhause-Sein in zwei Kulturen usw. usw. der Migranten anzupreisen - freilich nur für die freie Wirtschaft. Im öffentlichen Dienst und insbesondere an Schulen mit multikultureller Schülerschaft stören solche Kompetenzen bloß – jedenfalls wenn ein Kopftuch mit im Spiel ist!
Die FDP springt auf den Zug auf und die SPD kommt ins Grübeln - vielleicht ist das ein Thema, mit dem man aus dem Tief in der Wählergunst wieder herauskommt!?

6. Akt
Die Lehrerin wird versetzt, bevor sie die Gelegenheit bekommt am Eleonoren-Gymnasium ihre Kompetenzen und Verfassungstreue unter Beweis zu stellen. Die Behörde wählt - mit Bedacht - das Speyer-Kolleg aus. Das Kolleg ist eine Institution der Erwachsenenbildung, eine Beeinflussung naiver, unschuldiger Kinder ist also durch den Anblick eines Kopftuches nicht zu erwarten. Erwachsene, die bereits eine Berufsausbildung hinter sich haben, wählen dürfen, also politisch mündig sind, werden sich ja wohl auch bezüglich der Rechtslage auskennen. Und wenn nicht, dann werden sicherlich die grundlegenden Ziele und Leistungen, die das Kolleg auf seiner Webseite stolz nennt, doch sicherlich von der Schulleitung und den Schülern beherzigt. Dort heißt es: "Wir wollen unseren erwachsenen Studierenden die notwendigen Kompetenzen und Qualifikationen für Studium und weitere Berufswege vermitteln" - sich in einer multikulturellen Gesellschaft zurechtzufinden gehört doch sicherlich dazu, oder? Und weiter heißt es: "Wir unterstützen unsere Studierenden auf dem Weg, sich an gesellschaftlichen und politischen Prozessen sachkundiger und bewusster beteiligen zu können." Da scheint es tatsächlich noch Bedarf zu geben, wenn man den Zeitungsartikeln glauben darf, nach denen einzelne Schüler sich weigern, am Unterricht einer Kopftuch tragenden Frau teilzunehmen. Auch die in der Wormser Zeitung zitierte Forderung einzelner anonym gebliebener Schüler/innen "Wir fordern, dass Staat und Religion getrennt bleiben", zeigt, dass sie nicht ganz auf der Höhe der Zeit sind oder vielleicht auch an geographischer Desorientierung leiden. In Deutschland waren Staat und Religion nie so getrennt, wie es sich die Schüler vorstellen, und in Frankreich oder der Türkei befinden wir uns eben nicht.

7. Akt
Einige Schüler bleiben dem Unterricht der Lehrerin fern - sie fordern Toleranz von der Lehrerin. Diese Toleranz sieht so aus, dass die eine Seite auf ihre grundgesetzlich garantierte Glaubensfreiheit verzichtet (ist doch bloß eines von 19 Grundrechten, da soll man nicht so pingelig sein), damit der anderen Seite der Anblick eines Kopftuches erspart bleibt - gehört das Ersparen eines misslichen Anblicks jetzt etwa auch zu den Grundrechten? Da fallen einem doch etliche Anblicke ein, die man sich gern ersparen würde…

8. Akt
Die Schulverwaltung (ADD Trier) schaltet sich ein und will klären, welche Probleme die Schüler haben. Immerhin hat die Behörde wenigstens einen sachlichen Blick: "Die Pädagogin sei im Landesdienst und mache ihre Arbeit: "Es ist ja niemand geholfen, sie wieder an einen anderen Ort zu versetzen", so die ADD-Pressesprecherin. 4 Hoffentlich vergisst die Schulverwaltung nicht die Aufklärung der Schüler und Lehrer am Speyer Kolleg darüber, wer von den streitenden Parteien sich auf dem Boden des vielbemühten Grundgesetzes bewegt und wer nicht.

9. Akt
Ein kleines Häufchen derer, die den Boden der Verfassung noch nicht verlassen haben, traut sich mit milden Ermahnungen an die Öffentlichkeit - der Vorsitzende des Ausländerbeirates in Worms, Carlo Riva, setzt sich für die Glaubensfreiheit der Lehrerin ein, die Pfarrerin Dr. Erika Mohri mahnt, dass mit der rigorosen Ablehnung der Lehrerin ein falsches Signal gesetzt werde.

Was kommt als Nächstes?

10. Akt?
Mit dem Inhalt: Die Hinrichtung auf dem Scheiterhaufen der Öffentlichen Meinung? In den Bloggs und Leserbriefsparten zum Thema ist das schon längst passiert - schauen Sie mal rein, aber kriegen Sie keinen Schreck! Wir befinden uns tatsächlich im vermeintlich zivilisierten Deutschland. Die Verwendung von klischeehaften Unterstellungen und Beschimpfungen lässt darauf schließen, dass keiner der Schreiberlinge auch nur ein einziges Mal mit einer Kopftuch tragenden Frau ein Wort gewechselt hat. Es scheint, dass die Beschwörungen des Innenministers, dass das Grundgesetz nicht diskutierbar, der Islam ein Teil Deutschlands sei und alle Integrations- und Islamgipfel, ja selbst die gut funktionierenden Beziehungen der überwiegenden Mehrheit der Deutschen und Migranten spurlos an einem harten Kern der Bevölkerung vorbeigehen. Der Hass, den sie sich von der Seele schreiben, scheint doch von nur einem sehr dünnen Firnis verdeckt gewesen zu sein - vermutlich sind diese Leute in eine moderne pluralistische Gesellschaft tatsächlich nicht integrierbar. Hätten sie allerdings schon zu Schulzeiten die Bekanntschaft einer sympathischen Lehrerin mit Kopftuch gemacht - sicherlich hätten sie heute weniger Berührungsängste. Wer weiß, ob die Saat derer, die diesen Hass gesät haben, dann aufgegangen wäre …
(Quelle: Initiative für Selbstbestimmung in Glaube und Gesellschaft, siehe unterer link)



Lesen Sie dazu auch:
ISGG ist eine Interessengemeinschaft muslimischer Lehrerinnen, Referendarinnen, Lehramtstudentinnen

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