Artikel Sonntag, 11.05.2008 |  Drucken

Freistil im Schwimmunterricht. Von Maryam Weiss - „Die Freiheit des Menschen liegt nicht darin, dass er tun kann, was er will, sondern darin, dass er nicht tun muss, was er nicht will.“ (Jean-Jacques Rousseau)

Einüben von Grundwerten beim Schwimmen?

Am letzten Mittwoch (7.5.08) wurde vor dem Verwaltungsgericht Düsseldorf der „Fall“ der Remscheider Realschülerin verhandelt, die sich auf ihre Religionsfreiheit laut Grundgesetz und auf unser NRW-Schulgesetz (§ 43) berief, um vom koedukativen Schwimmunterricht freigestellt zu werden. Um Missverständnissen vorzubeugen: eine Schülerin, die aus religiösen Gründen vom Schwimmunterricht befreit wird, nimmt entweder theoretisch am Schwimmunterricht in der Schwimmhalle (Protokoll führen) oder an einer parallelen Sportgruppe der Schule teil. Das sieht das NRW-Schulgesetz sogar explizit so vor.
Mit Verweis auf die sehr guten Artikel von Herrn Martin Spiewak in der ZEIT (Ins Schwimmen geraten) und Herrn Yasin Alder in der IZ (Islamische Zeitung: Hintergründe zur Frage der Befreiung muslimischer Schülerinnen vom Schwimmunterricht) möchte ich, ohne zu viele längst diskutierte Fakten ständig wiederholen zu müssen, noch einmal deutlicher auf einige Dinge hinweisen.

Schulgesetz für das Land Nordrhein-Westfalen
und Kommentar für die Schulpraxis
§ 43 Schulverhältnis
Teilnahme am Unterricht und sonstigen Schulveranstaltungen

(3) Die Schulleiterin oder der Schulleiter kann Schülerinnen und Schüler auf Antrag der Eltern aus wichtigem Grund bis zur Dauer eines Schuljahres vom Unterricht beurlauben oder von der Teilnahme an einzelnen Unterrichts- oder Schulveranstaltungen befreien. …

Erläuterungen zu Absatz (3): Beurlaubung, Befreiung
Beispielfälle:
3.7 Einzelne Unterrichtseinheiten
Die Befreiung von der Teilnahme an einzelnen Unterrichtseinheiten aus „besonderen persönlichen Gründen“ kann aus besonderen religiösen Einstellungen oder aus Erlebnissen aus dem familiären oder auch außerschulischen Bereich gerechtfertigt sein. Unzumutbar ist eine Teilnahme dann, wenn das von der Schule verfolgte Lernziel in krassem Missverhältnis zu den schützenswerten Belangen der Schülerin oder des Schülers steht; bei der Entscheidung der Schule wird dem Alter der Schülerin oder des Schülers und dem Entwicklungsstand besondere Bedeutung zukommen.
3.9 Sportunterricht

Erkennbare oder der Fachkraft bekannte physische oder psychische Besonderheiten der einzelnen Schülerin oder des einzelnen Schülers sind dabei zu berücksichtigen.

Ob eine Befreiung auch aus anderen als gesundheitlichen Gründen möglich ist, lässt sich aus den Bestimmungen nicht eindeutig entnehmen. § 43 Abs. 3 gilt jedoch auch hier und kann im Einzelfall rechtfertigen, eine Befreiung auszusprechen.
Hierbei ist von folgenden Grundsätzen auszugehen:
- Das gerade für den schulischen Bereich besonders geltende Gebot der Toleranz gebietet, die religiösen Überzeugungen, Einstellungen und Verhaltensweisen der unterschiedlichen Religionsgemeinschaften weitestgehend zu respektieren und in ihren Präsentationsformen zu dulden.
- Der allgemeine Hinweis auf die Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft reicht alleine noch nicht aus. Es ist vielmehr glaubhaft darzulegen, dass eine Teilnahme am Sportunterricht in der vorgesehenen Form nicht möglich ist. Ein eigenes Bewertungsrecht, insbesondere bei der Auslegung religiöser Texte, sollte von der Schule und der Schulaufsicht nicht in Anspruch genommen werden.
- Die Schule ist gehalten, insbesondere im Schwimmunterricht den Unterricht nach Geschlechtern getrennt durchzuführen.
- …


Bei einer Anfrage des Interkulturellen Rates in Deutschland e.V. im Jahr 2007 bezüglich der Umgangspraxis des Landes mit Muslimen im Zusammenhang mit dem Schwimm- und Sportunterricht antwortete das Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen am 7.8.2007 (auf der Homepage des Interkulturellen Rates einzusehen):

Sanktionen bei religiös begründeter Nichtteilnahme von Schülerinnen am Schwimmunterricht
...
Das Bundesverwaltungsgericht (Anmerkung: Urteil BVerwG 1993) hat festgestellt, dass das Grundrecht auf Glaubensfreiheit (Art. 4 Abs. 1 und 2 GG) und der gleichermaßen mit Verfassungsrang ausgestattete staatliche Bildungs- und Erziehungsauftrag (Art. 7 Abs. 1 GG) gleichrangige Grundrechte sind. Im Konfliktfall ist ein schonender Ausgleich zwischen den Rechtspositionen im Rahmen der „praktischen Konkordanz“ zu finden. Insofern ist die staatliche Schulverwaltung gehalten, nach zumutbaren organisatorischen Möglichkeiten zu suchen, damit für Mädchen ab dem Alter von 12 Jahren ein nach Geschlechtern getrennter Sportunterricht angeboten werden kann. Wenn die Schule dieser Verpflichtung nicht nachkommen kann, ist der Konflikt in der Weise zu lösen, dass eine Befreiung vom koedukativen Sportunterricht erteilt wird.

Voraussetzung für das geschilderte Vorgehen ist das Vorliegen eines Glaubenskonfliktes. Für diesen Glaubenskonflikt besteht eine Darlegungslast. Die Schülerin muss darlegen, dass sie durch verbindliche Ge- und Verbote ihres Glaubens gehindert ist, der gesetzlichen Pflicht zu genügen, und dass sie in einem Gewissenskonflikt wäre, wenn sie entgegen den Ge- und Verboten ihres Glaubens die gesetzliche Pflicht erfüllen müsste. Die Darlegung des Gewissenskonfliktes muss konkret, substantiiert und objektiv nachvollziehbar sein. Es reicht nicht die bloße Berufung auf behauptete Glaubensinhalte und Glaubensgebote. Das eigene Verhalten muss erkennbar den Glaubensinhalten und Glaubensgeboten entsprechen, auf die sich die Schülerin beruft. So muss sie z.B. im täglichen Leben konsequent die Bekleidungsvorschriften beachten und in der Öffentlichkeit ein Kopftuch und weite Kleider tragen.

Ist der Glaubenskonflikt in dem beschriebenen Sinne dargelegt und glaubhaft gemacht, kann die Schülerin einen Anspruch auf Befreiung vom koedukativen Sportunterricht geltend machen. Nur wenn die Schule einen nach Geschlechtern getrennten Sportunterricht nicht einrichten kann, ist eine Befreiung vom Sportunterricht vorzunehmen.

Der Anspruch auf Befreiung vom koedukativen Sportunterricht besteht auch an Privatschulen.

Die Rechtslage ist den Schulaufsichtsbehörden und Schulen in Nordrhein-Westfalen seit Jahren bekannt und wird bei Befreiungsanträgen berücksichtigt.
Darüber hinaus weise ich darauf hin, dass eine vom Schwimmunterricht befreite Schülerin auf dem Zeugnis kein „ungenügend“ erhalten darf. Bei einer vom Schwimmunterricht befreiten Schülerin ist auf dem Zeugnis im entsprechenden Notenfeld ein Strich zu machen und unter „Bemerkungen“ ist der Hinweis „Die Schülerin ist vom Schwimmunterricht befreit“ einzutragen.

Auch negative Anmerkungen zum Arbeits- und Sozialverhalten auf Grund dieser Befreiung sind nicht zulässig.
Konkrete Daten zur Befreiung der muslimischen Schülerinnen vom Sport- und Schwimmunterricht liegen uns nicht vor. Aus Rückmeldungen der Schulaufsichtsbehörden wissen wir jedoch, dass es sich hierbei um Einzelfälle handelt.



Weiterhin existiert in Nordrhein-Westfalen seit Februar 2008 die Broschüre „Herausforderungen und Chancen in Bildungseinrichtungen – Grundinformationen zum Islam und Anregungen zum Umgang mit muslimischen Kindern, Jugendlichen und ihren Eltern“, herausgegeben vom Integrationsbeauftragten (Thomas Kufen) der Landesregierung NRW. Die Broschüre ist schon vergriffen und nur noch online abzurufen.
Darin wird auf den Seiten 51 bis 56 der Sport- und Schwimmunterricht mit den dazu gehörenden theologischen Überlegungen, praktischen Umsetzungen im Elternhaus, Verhaltensweisen von Jugendlichen, Anregungen und Fragen und vor allem möglichen Lösungsvorschlägen in der Schule diskutiert. Dabei ist die Rede von einer „sensiblen Reaktion“ und eines „verständnisvollen Eingehens“ von Seiten der Schule, von einer „geschickten Organisation, den Sportunterricht zeitweise anstatt im Klassenverband in geschlechtshomogenen Übungsgruppen“ durchzuführen und von der Befreiung im Einzelfall für den Schwimmunterricht.
Alles in allem eine gelungene Broschüre mit vielen Ansätzen zu klärenden Gesprächen, die Vorurteile abbauen und eine Vertrauensbasis schaffen helfen.

Bei Kenntnisnahme all dieser Texte erstaunt das Urteil vom 7.5.08 schon. Das Mädchen hat glaubhaft dargelegt, dass es sich in einem Glaubenskonflikt befindet. Es trägt entsprechende Kleidung. Die Schule selbst ist laut Berichten im Fernsehen (WDR, Westblick) materiell, personell und strukturell nicht in der Lage, einen monoedukativen Schwimmunterricht anzubieten. Es wäre zu erwarten gewesen, dass das Gericht auf der Grundlage des oben genannten § 43 Schulgesetz und des ebenfalls oben genannten Urteils des Bundesverwaltungsgerichts von 1993 im Sinne der Religionsfreiheit entscheidet. Es ist mehr als verwunderlich, dass die Schule bzw. der zuständige Schuldezernent die gesetzlichen Grundlagen offensichtlich nicht kennen, oder handelt es sich bei dem ganzen Verfahren vielleicht um einen verkappten Machtkampf der Marke „Emanzipation durch Zwang“? Darauf lassen zumindest die Äußerungen des Schuldezernenten Dr. Christian Henkelmann schließen. Er betonte, dass es ihm bei diesem Urteil um Emanzipation, die Einübung von Grundwerten des deutschen Grundgesetzes und das deutsche Leitbild ginge (WDR, Westblick). Laut dem Remscheider Generalanzeiger vom 8.5.08 ist es für ihn unerlässlich, dass Mädchen und Jungen gemeinsam schwimmen lernen, „damit sich das Mädchen zu einem sexuell selbstbestimmten Geschöpf entwickele“. Und im WDR betonte er, dass eine Schwimmbefreiung in der Grundschule (die im Übrigen niemand fordert!) die „sexuelle Sicht von Männern auf Kinder“ darstelle und das sei für ihn „pervers“.

Man soll ja nie mit zweierlei Maß messen, da wird vermutlich sogar der zitierte Dezernent zustimmen. Legen wir dieses Maß aber einmal an alle Bildungsanstalten und anschließend an alle Bewohner dieser Republik an:

Bildungsanstalten :

Für Bayern (und großeTeile Baden-Württembergs) bedeutet es dass allen Schülern und Schülerinnen des Freistaates die Möglichkeit, zu einem sexuell sebstbestimmten Wesen aufzuwachsen, verwehrt wird. Sie üben die Werte des deutschen Grundgesetzes nicht ein und der Unterricht folgt nicht dem deutschen Leitbild, denn dort wird „entsprechend den Fachlehrplänen „Sport“ der Basissportunterricht ab Jahrgangsstufe 5 der weiterführenden Schulen in nach Geschlechtern getrennten Sportklassen unterrichtet“ (Bayr. Staatsministerium für Unterricht und Kultus).
Und auch in NRW selbst werden etliche Schüler und Schülerinnen mit staatlichem und kirchlichem Einverständnis an der Entwicklung ihrer sexuellen Selbstbestimmung gehindert und die unbestreitbaren Errungenschaften des Grundgesetzes sowie die „Segnungen der deutschen Leitkultur“ werden ihnen nicht zuteil, denn: es existieren mindestens 34 monoedukative Schulen im Realschul- und Gymnasialbereich. Man muss sich vorstellen, dass es sich bei diesen Schulen nicht nur eine auf 2 Stunden pro Woche begrenzte Geschlechtertrennung handelt, nein es ist eine Trennung, die jahrelang und an Generationen von Schülern und Schülerinnen durchexerziert wird. Merkwürdig, dass das keinerlei Problem darstellt. Haben diese Jungen und Mädchen etwa keine staatliche Schützenhilfe bei ihrer Entwicklung zu emanzipierten Wesen verdient? Offensichtlich brauchen sie die nicht, denn, wo nicht aus religiösen Gründen getrennt wird, hat offensichtlich das ausschließlich pädagogische Vorteile und ist sogar innovativ: das ausgezeichnete Städtische Mädchengymnasium Essen-Borbeck, das Mitglied im Netzwerk der innovativen Schulen Deutschlands ist, gibt als Ziel seiner Schule an, selbstbewusste und leistungsbereite junge Frauen heranzubilden, die teamfähig sind und über ein breites Wissen verfügen und sozial verantwortlich ihre Zukunft in unserer Gesellschaft gestalten können. An dieser Schule unterrichten 45 Lehrerinnen 700 Schülerinnen. Wie kann dieses Ziel erreicht werden, wenn doch offensichtlich ein gemischter Unterricht beim Schwimmen unabdingbar ist, um "emanzipiert", von den "Werten des Grundgesetzes" und dem "deutschen Leitbild" durchdrungen zu werden?

Und wie sieht es nun beim "ganz normalen Bundesbürger" aus?

Die Experten der DLRG alarmieren: „Jeder 4. Deutsche kann nicht schwimmen“ und: „Jeder 3. Heranwachsende unter 18 Jahren kann nicht schwimmen, Tendenz steigend“ und: „40% der Zehnjährigen können nicht schwimmen“ und: „2003 sind 640 Deutsche ertrunken“ und: „Vor 10 Jahren konnten zwischen 95 und 100% der Deutschen schwimmen.“ (Quellen: Westfälische Rundschau, Lübecker Nachrichten, Süddeutsche)

Sind die Nichtschwimmer alle Muslime?
Waren die Ertrunkenen alle Muslime?
Ist die Vorsorge für potentiell über 600 vom Ertrinken bedrohte deutsche Bürgern pro Jahr als weniger wichtig anzusehen als das Interesse einzelner muslimischer Mädchen, die das Schwimmen lieber in einer reinen Mädchengruppe erwerben wollen als im Rahmen eines gemischten Unterrichts?

Natürlich nicht.

Was also sind die Ursachen der erschreckenden Zahlen?
Die Experten vom Bundesverband Deutscher Schwimmmeister sehen neben Bewegungsunlust auch den Trend zu immer mehr Spaßbädern, die keine Gelegenheiten mehr bieten, längere Strecken zu schwimmen. Eine weitere Ursache liege in dem anhaltenden Bädersterben, wodurch immer mehr Ausbildungsraum verloren gehe. Und ein dritter Grund liege darin, dass „viele Eltern ihre Kinder lieber vor den Fernseher oder Computer setzen würden, anstatt mit ihnen schwimmen zu üben“.

Also ein gesamtgesellschaftliches Problem?

Ja, tatsächlich. Während noch vor drei Jahrzehnten die Kinder und Jugendlichen mit ihren Eltern an den Kanal (im Ruhrgebiet) oder an den Rhein gefahren sind um dort am Ufer zu liegen, mit Kartoffelsalat und Würstchen zu picknicken und nebenbei das Schwimmen unter elterlicher Aufsicht lernten und vor zwei Jahrzehnten die überall eingerichteten städtischen Freibäder und Hallenbäder je nach Jahreszeit übervölkert wurden, verließ sich - schleichend aber sicher - die Elternschaft im Zuge zunehmender Selbstverwirklichung darauf, dass ihre Sprösslinge das Schwimmen in der Schule lernten. Außerdem war es auch sehr bequem, die Kinder im Schwimmverein abzugeben; der Staat übernahm ursprünglich elterliche Aufgaben und alle waren zufrieden.
Die Defizite der öffentlichen Haushalte hat in den letzten Jahren diese Situation grundlegend geändert: Die Kommunen hatten und haben nicht mehr genügend Mittel, die Bäder zu renovieren und zu sanieren. Viele Bäder mussten geschlossen werden. Viele Schwimmvereine verloren ihre Ausbildungsorte. Und auch die Schulen hatten das Nachsehen. Dazu am 16.4.2007 in der Westfälischen Rundschau: „Das NRW-Schulministerium räumt ein, dass das knappe Bäderangebot Probleme für den Schwimmunterricht schafft: „Wenn es möglich ist, gehen wir schon in den Klassen eins und zwei in die Bäder. Nur wird es immer schwieriger.““

Fakt ist, dass nicht nur das geringe Bäderangebot den Schwimmunterricht minimiert. Alleine in NRW fehlen viel zu viele Sportlehrer mit der Befähigung für den Schwimmunterricht. Derzeit läuft eine Initiative an den Schulen, dass jede/r interessierte Lehrer/in, auch wenn er/sie keinen Sport unterrichtet, an einer kurzen Fortbildung teilnehmen kann, um danach als Schwimmaufsicht mit den Schülern zum Schwimmunterricht gehen zu können.
Die Ausgangsposition ist also denkbar schlecht: nicht genügend Bäder (schließlich will die „normale“ Öffentlichkeit auch schwimmen gehen) und zu wenig ausgebildete Lehrer/innen.
Eine nicht zu vernachlässigende Tatsache ist, dass sich immer weniger Schüler /innen für den Schulschwimmunterricht begeistern lassen. Spätestens in der Pubertät wollen viele Mädchen nicht zum Schwimmen. Meist, weil sie nicht einem bestimmten Schönheitsideal entsprechen, sich aber trotz (oder wegen?) des bis dahin erfolgten Einflusses der Schule nicht ausreichend emanzipiert haben um sich solchen Vorstellungen zu widersetzen; häufig wird dann eine Periode im 2-Wochen Abstand vorgeschützt. Eine ganze Reihe von Jungen dagegen muss vom Schwimmen ausgeschlossen werden, weil sie sich in der Schwimmhalle keineswegs rücksichtsvoll, sondern übertrieben machohaft und gewaltbetont benehmen. Unter den genannten Umständen kann die Sicherheit der anderen Schüler nicht mehr gewährleistet werden. (Beides kann im Übrigen durchaus als Ausdruck der Verunsicherung verstanden werden. Die Auslotung der eigenen Geschlechteridentität gleicht während der Pubertät zuweilen dem Gang über ein Minenfeld)

Fazit: An ein muslimisches Mädchen, das aus religiösen Gründen in einer reinen Mädchengruppen schwimmen lernen möchte, werden Anforderungen gestellt, die weder die Bundesländer noch die "normalen" Bundesbürger erfüllen müssen. Trotzdem käme niemand auf die Idee, dass die systematische Nichterfüllung der eigenen Anforderungen seitens des Staates oder der Mehrheitsgesellschaft den Untergang der Republik, der Leitkultur, des Grundgesetzes usw. bedeutet.

Muslime lieben Sport. Dafür brauchen wir uns nur auf den Fußballplätzen umzuschauen, Boxhallen aufzusuchen und Basketballspielen zuzusehen. Auch muslimische Frauen lieben Sport. Muslimische Mädchen spielen ebenfalls Fußball, muslimische Mädchen spielen Volleyball und Handball (Bsp. Wuppertal, wo eine ganze Mannschaft um ihre Kopftuch tragende Spielerin kämpfte, bis sie mit ihrer Kopfbedeckung auch in anderen Städten auf dem Spielfeld akzeptiert wurde), gehen in Frauen-Fitness-Clubs.
Dem Deutschen Sportbund fehlt immer häufiger die kämpferisch interessierte Nachwuchsjugend. Deshalb wurden Förderprogramme aufgestellt, um mehr muslimischen Jugendlichen den Zugang zu Sportvereinen zu ermöglichen. Jeder Bürgermeister weiß mittlerweile, dass muslimische Frauen gerne schwimmen, denn, wenn Öffnungszeiten nur für Frauen angeboten werden, sind die Bäder voll, weil viele muslimische Frauen die Chance nutzen, endlich schwimmen gehen zu können, ohne die religiösen Gebote außer Acht lassen zu müssen.

Wir brauchen keine Machtkämpfe. Wir brauchen auch keine selbsternannten Befreier von vermeintlich religiöser Gewalt durch die Anwendung struktureller Gewalt.
Was wir brauchen, ist eine Absage an eine von irrationalen Ängsten und populistischen Zielen geprägte Debatte und die Rückkehr zu dem, was die Basis der Freiheit, die hier (noch) herrscht, ausmacht: eine Orientierung am Geist des Grundgesetzes.

Das Kopftuchgesetz war ein Gesetz, das nicht aus Notwendigkeit sondern aus politischen Gründen erlassen wurde. Seit dem Radikalenerlass in den 70er Jahren hat es damit erstmals wieder ein politisches Gesetz in der Bundesrepublik gegeben.
Die Richter müssen nach diesem neuen Gesetz urteilen, bestätigen aber gleichzeitig in allen Urteilen, dass das damit von der Landesregierung verfolgte Ziel (Verbot des Kopftuchs, Erlaubnis christlich und jüdischer Bekundungen) verfassungswidrig ist
Dem Schwimm-Urteil liegt kein neues Gesetz zugrunde, das eine veränderte Rechtssprechung rechtfertigen würde. Man kann das ergangene Urteil damit mit Fug und Recht als eines der ersten politischen Urteile der letzten 30 Jahre bezeichnen.

Im Rückblick betrachtet die Politik heute sowohl den Radikalenerlass als auch die daraus resultierenden Urteile als Fehler, weil sie ausgrenzende und nicht integrierende Wirkung hatte.
Wir haben die Hoffnung, dass nicht wieder 30 Jahre vergehen, bis gleiches auch mit der aktuellen Rechtssprechung bzgl. der Muslime geschieht.

Zum Schluss die Ermahnung an uns alle:

Artikel 4 (Glaubens-, Gewissens- und Bekenntnisfreiheit)
(1) Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich.
(2) Die ungestörte Religionsausübung wird gewährleistet.
(3) …

Dazu das Bundesverfassungsgericht:
L e i t s ä t z e (Auszüge)
zum Urteil des Zweiten Senats vom 24. September 2003
- 2 BvR 1436/02 -

„Art. 4 GG garantiert in Absatz 1 die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und des
religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses, in Absatz 2 das Recht der ungestörten Religionsausübung. Beide Absätze des Art. 4 GG enthalten ein umfassend zu verstehendes einheitliches Grundrecht. Es erstreckt sich nicht nur auf die innere Freiheit, zu glauben oder nicht zu glauben, sondern auch auf die äußere Freiheit, den Glauben zu bekunden und zu verbreiten. Dazu gehört auch das Recht des Einzelnen, sein gesamtes Verhalten an den Lehren seines Glaubens auszurichten und seiner inneren Glaubensüberzeugung gemäß zu handeln. Dies betrifft nicht nur imperative Glaubenssätze, sondern auch solche religiösen Überzeugungen, die ein Verhalten als das zur Bewältigung einer Lebenslage richtige bestimmen.“

Das ist die Basis unseres Zusammenlebens - ein: Bist Du nicht willig (meine Vorstellung von Emanzipation zu teilen), dann brauch ich Gewalt, kann niemals die Basis eines gleichberechtigten Miteinanders sein.

Jeder sollte sich die Frage stellen, ob es bei dem aktuellen Urteil tatsächlich darum gegangen ist, einer Muslima das Schwimmenlernen zu ermöglichen, oder nicht doch um etwas ganz anderes….

„Die Freiheit des Menschen liegt nicht darin, dass er tun kann, was er will,
sondern darin, dass er nicht tun muss, was er nicht will.“
Jean-Jacques Rousseau


Maryam Brigitte Weiß
Mai 2008





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