Newsnational Mittwoch, 10.05.2006 |  Drucken

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Alles Burka oder was? Kommentar von Maryam Brigitte Weiß

Die Vollverschleierung ist weder islamisch eine Pflicht noch gesellschaftlich geboten

Wir waren wohl alle sehr erschrocken, als wir in den Tagen nach den Osterferien von den Vorkommnissen in Bonn gelesen haben. Zwei Mädchen sollen mit einer Burka bekleidet zum Unterricht erschienen sein. Mittlerweile wissen wir alle, dass es sich nicht um die traditionelle afghanische Burka, wie es zunächst immer hieß, handelt, sondern um einen kompletten Niqab mit Gesichtsschleier. Das ist eine in der Regel schwarze Oberbekleidung, mit der vor allem Frauen in Saudi-Arabien das Haus verlassen.
Als Kopftuch tragende Hauptschullehrerin in NRW hätte ich als Rektorin einer Schule in Deutschland genauso gehandelt wie der dortige Schulleiter. Die Allgemeine Schulordnung in NRW (AschO genannt) sieht als äußerstes Mittel (vor der Androhung und dem tatsächlich endgültigen Schulverweis) den zweiwöchigen Schulausschluss vor. Der Schulleiter hat sich also rechtlich gesehen korrekt verhalten.

Was genau ist passiert und was genau hat das zu bedeuten?

Der komplette Niqab wird in einigen islamischen Ländern von den Frauen ganz üblicherweise (vielleicht sogar mehr aus traditionellen, kulturellen Gründen als aus religiöser Überzeugung) getragen. Sie gehen natürlich auch so zur Schule. Die Schulen in den Ländern, in denen Frauen in der Regel mit niqab bekleidet sind, sind monoedukativ, d.h. dort werden entweder nur Jungen oder nur Mädchen unterrichtet, zumindest gibt es keine gemischten Klassen. In diesen Klassen können diese jungen Mädchen oder Frauen ihren Niqab ablegen, weil sie unter sich sind. Die Lehrerinnen (Frauen unterrichten Frauen) sehen ihre Schülerinnen während des Unterrichts. Sport wäre im Übrigen mit Niqab auch nicht möglich.

In Deutschland herrschen in der Regel gemischte Schulen vor, d.h. Jungen und Mädchen werden von Anfang an gemeinsam unterrichtet und zwar von Lehrern und Lehrerinnen. Das hat in vielen Bereichen durchaus Vorteile. In bestimmten Fächern wäre jedoch ein monoedukativer Unterricht vorzuziehen, z.B. im Sport und in den Naturwissenschaften. Gerade für die naturwissenschaftlichen Fächer haben Lerntheoretiker herausgefunden, dass naturwissenschaftlich begabte Mädchen häufig von bollerig-polternden Jungen „unterdrückt“ werden und dass Lehrer/-innen für diese Fächer Mädchen oft weniger zutrauen als Jungen. Der Gender-Gerechtigkeit entsprechend müsste also zumindest teilweise der monoedukative Unterricht durchbrochen werden.
Mädchen und Frauen, die gewohnt sind, in der Öffentlichkeit der Straße einen kompletten Niqab zu tragen und diesen auch für den Gang in die Schule anzulegen, müssten eben diesen Niqab in einer gemischten Klasse anbehalten. Der Lehrer/die Lehrerin könnte höchstens noch durch die Stimme in etwa erkennen, um wen es sich unter dem schwarzen Tuch handelt. Bei schriftlichen Prüfungen wäre die Person unter dem Tuch gar nicht mehr zu identifizieren. Im persönlichen Gespräch entstände der Nangel an visueller Kommunikation, verursacht durch die fehlende Mimik (Interesse am Thema, Zustimmung, Ablehnung, Ungeduld, Ironie, Verstehen, Freude, …).

Wie ist das Ganze islamisch zu betrachten?

Es herrscht Konsens darüber, dass der Prophet Mohammed s.a.s. bei einer Nachfrage zu dem, was von den Frauen zu sehen sein darf, auf das Gesicht und die Hände gezeigt hat. Damit ist natürlich ihr Auftreten in der Öffentlichkeit und nicht die private Welt der Frau gemeint. Beim Gebet und bei der Hadsch dürfen die Gesichter der Frauen nicht verhüllt werden. Nur die Frauen des Propheten s.a.s. trugen eine Art Niqab in der Öffentlichkeit und waren in ihrer privaten Welt hinter einem Vorhang, wenn Männer zu Besuch da waren und Fragen auch an sie hatten. Sie hatten eine besondere Rolle, was auch dadurch bestätigt wird, dass sie als „Mütter der Gläubigen“ nach dem Tod des Propheten s.a.s. nicht mehr heiraten durften. – Vom Propheten s.a.s. ist weiterhin überliefert, dass er sich auch nach dem Wohlergehen anderer Frauen der Gemeinschaft, die ihm begegneten, erkundigte und sie fragte, ob sie krank seien, wenn sie so aussahen. Das konnte er nur gesehen haben, wenn er ihr Gesicht erkennen konnte.
Demnach würde ein korrekt gebundenes Kopftuch und ein langer Mantel den Kleidungsregeln einer islamischen Frau in der Öffentlichkeit voll genügen. Eine Vollverschleierung ist nicht nötig. Eine Vollverschleierung ist allerdings auch nicht verboten. Es liegt im freien Ermessen einer jeden Frau, ob sie sich für das Kopftuch oder für den Niqab entscheidet. „Es gibt keinen Zwang im Glauben“.

Ich persönlich stelle es jedoch in Frage, ob eine Frau, die in der nicht-muslimischen Welt unbedingt einen Niqab tragen möchte, dafür mehr Hassanat (Belohnung)erhält als die Frau, die einfach nur ihre islamische Pflicht erfüllt und ein Kopftuch trägt.

Was bewirkt die Vollverschleierung in dieser Gesellschaft?

Das Letzte, was ich tun würde, wäre Zugeständnisse an eine Gesellschaft zu machen, wenn ich damit gegen Grundsätze meiner Religion verstoßen müsste!
Aber ich möchte ein Beispiel dafür sein, dass die islamische Lebensweise hier und jetzt mit der nichtmuslimischen Umgebung kompatibel ist. Warum soll nicht versucht werden, über den Weg der Mitte zu zeigen, dass auch wir mit unserer islamischen Kleidung in diese Gesellschaft passen und gehören – vor allem, wenn wir sowieso sogenannte Ursprungsdeutsche sind. Deshalb plädiere ich für den „Mittelweg“, den Weg, mit dem ich nicht auffalle, weil das genau das ist, wie ich ein islamisches Auftreten in der Öffentlichkeit verstehe. Ein Beispiel und Vorbild zu sein ist etwas Erstrebenswertes. Es ist gut, wenn die Menschen Vertrauen zueinander haben. Ich habe Vertrauen in viele Teile dieser Gesellschaft. Auch wenn manche Dinge nicht in Ordnung sind: ein Beispiel dafür sind die Kopftuchgesetze für den Öffentlichen Dienst in den verschiedenen Bundesländern. Hier wird nicht versucht, über den Weg der Mitte die Verständigung zu suchen. Hier wird polarisiert. Dabei ist klar, dass auch viele Menschen nicht hinter diesen Verbotsgesetzen stehen. Die uns in unserem Bedürfnis nach islamischer Kleidung sehr wohl verstehen und unterstützen.
Aber ich meine, dass das Tragen eines Niqabs in der Schule nicht zum Verständnis auf beiden Seiten beiträgt. Einerseits würde die mehrheitliche Bevölkerung damit überfordert und andererseits wäre das trotzige Durchsetzen einer solchen Kleidung ohne zwingenden religiösen Hintergrund für alle die Frauen, die sich an die religiöse Minimalempfehlung des Kopftuchs halten, eine zusätzliche Erschwernis, damit im Berufsleben bestehen zu können.

Der Zentralrat der Muslime war von Anfang an an einer vorsichtigen Entschärfung der Situation in Bonn interessiert und hat viele Gespräche zur Sache geführt. Natürlich haben sie ein Recht, in der Öffentlichkeit außerhalb der Schule den Niqab zu tragen. Aber in der Schule sollte von ihrer Seite aus Rücksicht genommen werden aus den oben genannten Gründen. Der Niqab ist kein notwendiger Bestandteil der islamischen Kleidung. Das Streben nach Wissen allerdings schon. Deshalb wäre der empfehlenswerte Weg der Mitte in diesem Fall der Besuch der Schule mit einem Kopftuch und entsprechender Kleidung.

Für die Schulleitung der Bertold-Brecht-Gesamtschule III bleibt allerdings noch die Überlegung, ob nicht der Abschnitt A. Allgemeine Verhaltensregeln in der Schulordnung ein Mitauslöser für die plötzliche Hinwendung der beiden Schülerinnen zur Vollverschleierung darstellt. Dort heißt es nämlich „In Anlehnung an den Geist unserer Schulverfassung streben wir eine kopftuchfreie Schule an.“ Es bleibt zu überlegen, wie deutlich das „Anstreben“ in Angriff genommen worden ist und wie in die Enge getrieben sich manche muslimische Schülerin mit Kopftuch und/oder aus Solidarität auch ohne Kopftuch gefühlt hat. Im Sinne des Namensgebers der Schule ist dieser Satz sicherlich nicht. Aber Fehler lassen sich ja beheben und müssen nicht aus Sturheit weiter verstärkt werden: „Wer A sagt, muss nicht B sagen. Er kann auch erkennen, dass A falsch war.“ (Berhold Brecht, Der Jasager. Der Neinsager)

(Die Lehrerin Frau Maryam Brigitte Weiß ist Frauenbeauftragte und stellvertretende Vorsitzende des Zentralrates der Muslime in Deutschland)




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