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Donnerstag, 04.08.2005

Mord an den eigenen Kindern Brandenburg eine Erscheinung der "abendländischen Leitkultur"? - Essay von Sulaiman Stefan Wilms

Die Festigkeit einer Gesellschaft misst sich am Grad der eigenen Selbstreflexion

(IZ) Vor Kurzem wurden die erschreckenden Nachrichten eines mehrfachen Leichenfundes in einem brandenburgischen Dorf bekannt. Demnach hat dort eine Frau neun ihrer Neugeborenen getötet und dann beerdigt. Was muss in den individuellen Mitgliedern einer Gesellschaft - jenseits ihrer unterschiedlichsten Elemente - vorgehen, die sich an den wehrlosesten Gliedern ihrerselbst, den Kindern, vergeht und sie tötet?

Sehr schnell nach der Entdeckung und Veröffentlichung des grausigen Fundes wurden Psychologen interviewt, die uns die Psychologie des Kindsmordes erklärten und als individuelle Erkrankung einer einzelnen Frau einordneten. Wie häufig bei derartigen Ereignissen bewirkt die wissenschaftliche Analyse eines solchen Vorgangs eine sofortige Abstraktion beim Betrachter und erzeugt bei uns das beruhigende Gefühl, dass diese Vorgänge zwar schrecklich seien, aber in keinem Zusammenhang mit unserem Alltag stehen.

So sieht Uwe Wetter, Vizepräsident des Berufsverbandes Deutscher Psychologen, in einem Interview mit der "Süddeutschen Zeitung" (vom 03. August) bei der Täterin eine "tief greifende Persönlichkeitsstörung" vorliegen, die zu "einer absoluten Verschiebung des Wertesystems geführt haben muss." Auf keinem Fall soll bei uns der Eindruck erweckt werden, dass wir nicht in "der besten aller möglichen Welten" leben, und dass es stattdessen unsere strukturelle Verfasstheit sein könnte, die die Ermordung und Misshandlung von Kindern verursachen könnte.

Jenseits der sich aufdrängenden Tagesaktualität und der - medial folgenden - Skandalisierung isoliert und individualisiert betrachteter Ereignisse, wird ein Charakterzug der Moderne, die sich selbst als Gipfel der menschlichen Entwicklung betrachtet, aber keine Selbstreflexion mehr kennt, offenbar: Der Missbrauch und die Tötung von Kindern ist mehr als nur ein Charakterzug individuellen Wahnsinns, sondern scheint immer häufiger ein immanentes Element unserer Zeit zu sein.

Der Mord an den eigenen Kindern ist beileibe keine neue Erscheinung in der "abendländischen Leitkultur". Bei den antiken Griechen hatte die ritualisierte Tragödie die Aufgabe, die ihnen inne wohnende Gewalttätigkeit - die Fähigkeit zum Vater-, Mutter-, Bruder-, Schwester- und Kindesmord - zu kanalisieren und in der Katharsis rituell auszuagieren. Nicht umsonst gibt es in mehr als nur einem der griechischen Mythen, die heute noch zum Bestand des europäischen Erbes zählen, den Mord an den eigenen Kindern. Kernerzählung dabei ist die Geschichte der Medea (als Tragödie von Euripides niedergeschrieben), Ehefrau von Jason, dem Anführer der Argonauten. Sie brachte ihre eigenen Kinder um, nachdem ihr Mann sich eine Jüngere zur Frau nahm und flüchtete nach der Bluttat. Seitdem gilt Medea als das Symbol für die, ihre eigenen Kinder mordende Mutter. Auch die Götter und Titanen der griechischen Mythenwelt haben gelegentlich ihre Nachkommenschaft ermordet.

In der christlichen Überlieferung des Neuen Testaments wird dem König Herodes ein Kindermord zugeschrieben, den dieser angesichts der bevorstehenden Geburt von 'Isa ibn Mariam (Jesus) angeordnet haben soll.

Auch im Qur'an wird der Mord an den eigenen Kindern erwähnt und verboten. Hierbei handelt es sich um den Aufruf an die Araber, nicht an dem Brauch aus der Dschahilija (arab. für Unwissenheit) festzuhalten und ihre weiblichen Nachkommen zu ermorden. Allah erinnert die Menschen daran, dass weibliche Nachkommen kein Nachteil sind und dass Er für jedes Neugeborene dessen Versorgung vorherbestimmt hat. Der Prophet Muhammad, möge Allah ihn segnen und ihm Frieden geben, machte bei dem zweiten Schwur von 'Aqaba den anwesenden Frauen aus Madina zur Bedingung für die Anerkennung ihres Islam, dass sie nicht ihre weiblichen Neugeborenen lebendig begraben und töten würden.

Wie aktuell dieses Verbot ist, zeigen China und Indien, wo die inhumane Tradition der Tötung weiblicher Nachkommenschaft mit dem modernen gentechnischen Screening Ungeborener kombiniert wird. Wird bei einer Fruchtwasseruntersuchung ein weiblicher Fötus gefunden, treiben manche Frauen ihr Kind ab. Diese Praxis hat in China bereits zu einem bedrohlichen demografischen Überhang an männlichen Nachkommen geführt.

Bis zur einsetzenden Säkularisierung im 18. Jahrhundert galt auch im christlichen Europa der Kindermord als Verbrechen, welches - genauso wie der Vatermord - schwerer wog als die üblichen kriminellen Taten. Dementsprechend wurden die Täter auch wesentlich härter bestraft als die üblichen Kriminellen.

In der bürgerlichen Aufklärung gibt es mehrere Werke und Dramen, die sich mit dem Kindesmord beschäftigen. Dieser wurde zumeist in der damaligen Darstellungen junger Dienstmädchen vom Lande zugeschrieben, die in der Stadt ungewollt schwanger geworden, keine Aussicht für sich oder ihr Kind sahen. Lothar Müller schrieb dazu (ebenfalls in der "Süddeutschen Zeitung" vom 03. August) in seinem Artikel "Stolze Rächerinnen, arme Mädchen", dass in der deutschen Literatur der Aufklärung und zumal im Drama und in der Prosa des "Sturm und Drang" in den siebziger Jahren des 18. Jahrhunderts die Kindsmörderinnen zu Schlüsselfiguren der Sozialkritik wie der Diskussionen über eine Reform des Strafrechts und der bürgerlichen Familien- und Sexualreform geworden seien. In seinem "Faust" hat Johann Wolfgang von Goethe die Figur seines "Gretchens" einer zeitgenössischen Kindermörderin (der Susanna Margaretha Brandt) nachempfunden.

In der modernen Literatur haben sich unter anderem Hans Henny Jahnn, Jean Anouilh, Christa Wolf und Heiner Müller mit dem "Medea"-Material beschäftigt.

Was führt uns nun von den Dramen der Griechen und der deutschen Aufklärung zur Misshandlung von Kindern in unseren Tagen?

In unserer schulischen und - wenn vorhanden - akademischen Ausbildung wird uns seit Langem das Bild vermittelt, als sei die Entwicklung der Moderne ein Aufstieg von der Dunkelheit des Mittelalters hin in unsere Zeit. Je mehr diese Hypothese - und nichts anderes ist sie nach wissenschaftstheoretischen Gesichtspunkten - wiederholt und als gegeben erachtet wird, desto notwendiger wird ihre Hinterfragung: Kannte nicht der Manchesterkapitalismus des 19. Jahrhunderts eine geradezu atemberaubende Ausbeutung und ökonomische Vernichtung von Kindern in den Kohleminen, Stahlwerken und Textilfabriken Englands und des Kontinent? Es hatte damals Jahrzehnte gebraucht, damit Minderjährige in Europa im Alter von sechs oder acht Jahren nicht mehr so lange arbeiten mussten, bis sie zerrüttet von den kapitalistischen Lebensbedingungen an Auszehrung, Tuberkulose und anderen Krankheiten in jungen Jahren sterben mussten. Europa brauchte Jahrhunderte, um eine gesonderte Pädagogik für Kinder jenseits des Rohrstocks zu entwickeln, die in Kindern mehr sah als "kleine Erwachsene".

Und diese massenhafte Ausbeutung von Kindern hat nicht aufgehört, sie wurde nur im Zuge der weltweiten ökonomischen Expansion - die heute unter dem verkürzten Begriff der "Globalisierung" bekannt wurde - in die so genannte "Dritte Welt" ausgelagert. Während heute keine Kinder mehr in unterirdischen Kohleflözen Europas arbeiten müssen, schuften sich Minderjährige in den Textilfabriken Chinas und in den Kakaoplantagen Westafrikas zu Tode. Eine Vernutzung von Kindern, die - obwohl alltäglich - bei uns nur bei gelegentlichen "Wohltätigkeits"-Veranstaltungen an die Oberfläche kommt.

Doch auch und gerade hier hat der mittlerweile post-industrielle Kapitalismus seine Spuren hinterlassen, sie werden nur - anders als in den 60er und 70er Jahren - kaum noch in der gesellschafts-theoretischen Debatte diskutiert. In der akademischen Landschaft, die vor 1989 noch von der Frankfurter Schule, dem Ehepaar Mitscherlich und anderen geprägt worden ist, gab es mehr als nur eine Sichtweise, wonach der Kapitalismus - unabweisbar unsere heutige Lebensweise - nicht nur eine ökonomische und gesellschaftliche Formation ist, sondern auch das Individuum verändert und deformiert hat.

Im damaligen Diskurs war dabei der Begriff der "Entfremdung" von großer Bedeutung. Der Kapitalismus als Mittel zur "Entfremdung" des Menschen von seinem eigentlichen wie gesellschaftlichen Wesen bleibt auch - nach seinem scheinbaren Triumph durch den Untergang des "real existierenden Sozialismus" - weiterhin traurige Realität. Leider scheint aber das oft ausgerufene "Ende der Geschichte", also der weltweite Sieg des Kapitalismus, jeden kritischen Ton gegenüber der herrschenden Ökonomie bei öffentlichen Stimmen ausgeschaltet zu haben. Dabei schrieb schon in den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts der große Theodor Lessing eine monumentale Studie über den Massenmörder Haarmann, in der er sich nicht nur mit dem Individuum des perversen Mörders auseinandersetzte, sondern auch mit einer Zeit, die solche Gewalttäter hervor brachte. Ein Werk, welches so kritisch heute wahrscheinlich nicht mehr erscheinen würde.

Die Zahlen und die alltägliche Realität des massiven Kindesmissbrauches - empörenderweise als "Pädophilie" beschönigt - widersprechen dem frommen Wunsch, dass die Misshandlung und Tötung von Kindern das Ergebnis wahnsinniger Einzeltäter seien, die psychisch gestört sein müssten, um überhaupt so handeln zu können. Selbst wenn die betreffende Täterin wahnsinnig ist, so stellt sich die Frage, was sie zu diesem Wahnsinn getrieben haben mag. Brandenburgs Innenminister Schönbohm war schnell bei der Hand, dem Ungeist der ehemaligen DDR die Schuld dafür zu geben.

Wenn das allerdings der Fall ist, warum wurden und werden in den letzten Jahren Massenprozesse abgehalten, in denen nicht nur ein Individuum für Kindesmissbrauch angeklagt wurde, sondern ganze soziale Zusammenhänge wie zur Zeit in Belgien und in Frankreich, bei denen Dutzende von Menschen des Missbrauches ihrer und anderer Kinder angeklagt worden sind? Jüngst berichtete der SPIEGEL über die Aufdeckung eines Internet-Netzwerkes der Kinderpornografie, in das hunderte von Menschen weltweit verwickelt sind. Dabei wurden in Deutschland nicht nur Randexistenzen verhaftet, sondern auch so genannte "Stützen der Gesellschaft".

Und, nicht zu vergessen, einige der in Thailand beim Tsunami getöteten westlichen Touristen verbrachten dort keinen harmlosen Familienurlaub, sondern nutzten die dortige Prostitution von Kindern, die durch die enorme Armut entstanden ist. Ein Blick auf die Publikationen von Hilfsorganisationen für missbrauchte Kinder in dieser Region und in anderen Ländern reicht aus, ein gehöriges Maß an Wut zu erzeugen.

Es kann keine abschließende Erklärung für ein Verbrechen geben, welches die Grenzen der grundlegenden Humanität derart verletzt, allerdings gibt es Ansätze, dies zu erklären. Der französische Philosoph Michel Foucault war der Ansicht, dass der Siegeszug des Kapitalismus nur möglich war, nachdem die christliche Kontrolle über die Körper der Menschen aufgehoben wurde. Der Preis für das Zustandekommen des Kapitalismus als Seinsweise war demnach die Auflösung der dem Menschen durch das Christentum einstmals auferlegten Begrenzungen seiner eigenen Körperlichkeit. Befreit von diesen Schranken sei er bereit gewesen, den Kapitalismus anzunehmen.

Nebenbei bemerkt, im medialen Diskurs über Freiheit und Islam wird immer ganz genau dieser Punkt als Kritik am Islam formuliert. Freiheit wird nicht in ihren - viel bedeutenderen - politischen und sozio-ökonomischen Aspekten diskutiert oder gesehen, sondern bloß anhand der privaten Sexualität und des Konsums.

Das moderne Individuum - natürlich gibt es viele Ausnahmen, aber hier muss verallgemeinert werden -, derart vorbereitet durch das Einreißen früherer Beschränkungen, kann nur noch aus gesellschaftlichen Konventionen heraus handeln, der es aus Notwendigkeit einer schal gewordenen Moralität folgt. Je lauter die Deklarationen und Selbstbehauptungen der eigenen humanistischen Überlegenheit gegenüber dem Anderen - heute ist dies der Islam - sind, desto offenkundiger wird ihr hohler Kern. Da der Mensch zum Maß aller Dinge geworden ist, kann er auch kein Gesetz mehr schöpfen, welches über ihn hinaus geht und ihn begrenzt.

Um es deutlich zu sagen, es geht mir hier nicht um eine polemische Dialektik des "wir" gegen das "ihr". Wir alle, die in der modernen Welt leben, sind über unsere Lebensweise mit der strukturellen Misshandlung von Kindern in aller Welt verbunden; sei es durch den Konsum von Produkten, die durch Kinderarbeit erzeugt worden sind; sei es durch die Duldung von Konflikten, bei denen die Kinder immer die ersten Opfer sind und sei es im Straßenverkehr, der eine irrational hohe Anzahl an Opfern unter den Kindern fordert.

Es muss aber - auch für uns Muslime in Europa - erlaubt sein, den Finger auf jene Verformungen zu legen, die den Missbrauch von Kindern erleichtern.

Dazu zählen nicht nur die schleichende Sexualisierung von Minderjährigen in Medien und Werbung (so schicken Modemacher mittlerweile 13- und 14-jährige Mädchen auf den Laufsteg) oder die Konfrontation von immer jünger werdenden Kindern mit einem für die Bildung des Menschen als fundamental notwendig angesehenen Sexualkundeunterrichts. Was sollte dieser denn vorbereiten als eine immer frühere eintretende Sexualität bei den Heranwachsenden?


Kinder sind, dies mag in diesem Zusammenhang irrelevant erscheinen, heute ebenso die ersten, die vom sozialen Niedergang der Familien betroffen sind. Wir haben Millionen von Kindern, die unter der Armutsgrenze leben müssen und von Transfergeldleistungen abhängig sind. Dies betrifft nicht nur ihren ökonomischen Alltag, sondern hat auch weitreichende Auswirkungen auf ihre psychische Beschaffenheit.

Dieser Themenkomplex ist nicht weit entfernt vom eigentlichen Mord an Kindern. In einer Zeit, in der der massenhafte Missbrauch an Kindern - die ihrerseits häufig zu Missbrauchenden werden - so wenig und selten debattiert und offen gelegt wird wie bei uns, verschwimmen die Grenzen immer mehr. Ich klammere dabei bewusst den Boulevard-Teil der Medien aus, der das Thema Kindesmissbrauch in einer Art ungesunder Faszination reflektiert.

So erfahren wir heute schon den regelmäßigen Beziehungsmord, bei dem die männlichen Täter nach dem Ende einer Ehe oder Partnerschaft nicht sich selber töten, sondern auch die Ehefrau oder Partnerin und die eigenen Kinder mit in den Tod reißen.

Ein Blick auf die ungefilterte Masse an Meldungen der "Deutschen Presseagentur (dpa)" über ein oder zwei Wochen führt einem so viele erschreckende Meldungen aus unseren Landen vor Augen, dass von Einzelfällen nicht mehr zu reden ist.

Es mag an dieser Stelle ein zu weit gesponnener Bogen sein, aber hier begegnet sich meiner Ansicht nach die säkulare Moderne mit der ebenso modernen muslimischen Welt. Während aus der letzteren als "Krankheit" (so der Autor Abdulwahab Medeb) die privat gewordene Gewalt des nihilistischen Terrors gekommen ist, die keinerlei Begrenzung und Rechtlichkeit mehr kennt, so hat die erstere eine ebenso privatisierte Gewalt erschaffen, die sich ebenso nicht gegen rational erkennbare Ziele richtet, sondern im Wahn gegen die schwächsten Mitglieder der Gesellschaft, die Kinder, gezielt ist.

Eine soziale Formation, der die Selbstreflexion ihrer eigenen Bedingtheit und Beschaffenheit - auch der Ursachen solcher Vorgänge - abhanden gekommen ist, steht vor einem fragwürdigen Ausgang. Die Berichterstattung über die Tötungen in Brandenburg wird sich bald legen. Aber diejenigen, seien sie Nichtmuslime oder Muslime, die sich bewusst für Kinder entschieden haben, werden sich Gedanken über ein sicheres Heranwachsen ihrer Kinder machen müssen.(Sulaiman Stefan Wilms ist Chefredakteur der Islamiscne Zeitung in Berlin)