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Mittwoch, 09.09.2020


Die Tochter des ermordeten Enver Simşek, Semiya Simşek (links), und Tochter des achten Todesopfers Mehmet Kubaşık, Gamze Kubaşıkk (rechts), tragen eine zehnte Kerze (Anzahl der Ermordeten durch den NSU) aus dem Konzerthaus Berlin hinaus

20 Jahre NSU, heute "NSU 2.0" - Enver Simşek war vor 20 Jahren das erste Opfer des NSU

Am 9. September 2000 wurde der Blumenhändler Enver Simsek von den Rechtsterroristen des sogenannten Nationalsozialistischen Untergrundes Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe erschossen.

Nürnberg Der Blumenhändler Enver Simsek ist 38 Jahre alt, als am frühen Nachmittag des 9. September 2000 an einem seiner Straßenstände in Nürnberg auf ihn geschossen wird. Zahlreiche Schüsse treffen ihn, viele davon im Gesicht. Zwei Tage nach dem Angriff stirbt Simsek in einem Krankenhaus.

Mehr als zehn Jahre nach seinem Tod erst werden die Täter gefunden: Der sogenannte Nationalsozialistische Untergrund (NSU) - eine neonazistische, terroristische Gruppe um Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe. Mit der Identifizierung der Täter wird endgültig klar: Simsek wurde getötet aus einem so schlichten wie grausamen Motiv: Ausländerhass.

Simsek gilt als erstes Opfer der Rechtsterroristen. Mindestens neun weitere Menschen tötet die Gruppe danach noch. Abdurrahim Özüdogru, Süleyman Tasköprü, Habil Kilic, Mehmet Turgut, Ismail Yasar, Theodoros Boulgarides, Mehmet Kubasik und Halit Yozgat werden aus dem gleichen niederträchtigen Motiv ermordet wie Simsek. Außerdem erschießen die Terroristen die Polizistin Michele Kiesewetter. Auch wenn abgesehen von Kiesewetter alle Opfer einen Migrationshintergrund haben, sind sie keinesfalls stereotype Statisten, wie es die im April diesen Jahres veröffentlichte schriftliche Urteilsbegründung des Münchner Oberlandesgerichts im NSU-Prozess nach Ansicht vieler Opferfamilien nahelegt. Sie mögen aus ähnlichen Gründen von den Tätern ausgewählt worden sein; aber doch steckt hinter jedem von ihnen eine eigene, individuelle Geschichte.

Die Geschichte von Enver Simsek beginnt 1961 in einer türkischen Kleinstadt in der Nähe von Antalya. Als 23-Jähriger kommt er Mitte der 1980er-Jahre als sogenannter Gastarbeiter nach Deutschland. Seine Frau lebt zu diesem Zeitpunkt bereits in der Bundesrepublik, er muss noch seinen Militärdienst in der Türkei ableisten. Simsek arbeitet zunächst in einer Fabrik; später macht sich der Familienvater mit einem eigenen Blumenhandel im hessischen Schlüchtern selbstständig. Er ist erfolgreich, erarbeitet sich Ansehen und einen guten Ruf - bis sein Leben vor genau zwanzig Jahren jäh endet.


Danach besucht Merkel eine Gedenkstätte für die Opfer des NSU, die kurz zuvor eingeweiht wurde. Zehn neu gepflanzte Bäume und eine Gedenktafel erinnern an die zehn Todesopfer.
Doppelte Leidensgeschichte: Nicht nur der Tod von Simşek selbst, jahrelang wird die Familie selbst verdächtigt

Für seine Frau, Adile, und die beiden Kinder, Semiya und Kerim, beginnt mit Simseks Tod eine lange Leidensgeschichte. Sie müssen nicht nur den Verlust des Ehemannes und Vaters verkraften, sondern werden gleichzeitig Opfer einer völlig fehlgeleiteten, von Vorurteilen gesteuerten Polizeiarbeit. Jahrelang wird die Familie selbst verdächtigt; die Polizei vermutet eine Familientragödie und ermittelt gegen Adile und deren Bruder. Sie werden abgehört, und man durchsucht sogar ihre Wohnung. Enver Simsek selbst werden dubiose Geschäfte und sogar eine Affäre angelastet. Alles zu Unrecht, wie sich später herausstellt.

Einen rechtsextremen Hintergrund der Tat erwägen die Beamten zunächst nicht. Erst elf Jahre nach dem Mord an Enver Simsek, als Fotos des schwer verletzten Simsek in dem von Beate Zschäpe veröffentlichten Bekennervideo des NSU gezeigt werden, wird sein Tod aufgeklärt. Bis dahin hatten die Beamten auch in den anderen NSU-Mordfällen einen rechtsextremen Hintergrund der Verbrechen ausgeschlossen und im Umfeld der Opfer nach den Tätern gesucht. Die Ermittler vermuteten neben familiären Streitigkeiten beispielsweise Drogenhandel, Schutzgeld-Erpressungen oder organisierte Kriminalität als Tathintergründe."

In Ruhe Abschied nehmen und trauern, das konnten wir nicht. Elf Jahre durften wir nicht einmal reinen Gewissens Opfer sein", klagt Semiya Simsek 2012 bei einer Gedenkveranstaltung der Bundesrepublik zu Ehren der NSU-Opfer in Berlin an. Sie war 14 Jahre alt, als ihr Vater ermordet wurde. Ihre Familiengeschichte schreibt sie später gemeinsam mit dem Journalisten Peter Schwarz in dem Buch "Schmerzliche Heimat. Deutschland und der Mord an meinem Vater" nieder.

Semiya und Adile haben sich mittlerweile in der Türkei niedergelassen. Semiya ist Mutter geworden und lebt mit ihrer Familie in der Nähe des Dorfes, aus dem ihr Vater stammt und wo er begraben wurde. Ihr Bruder Kerim lebt weiterhin in Deutschland.