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Mittwoch, 25.06.2014


Der Konflikt zwischen Sunniten und Schiiten – Nachdenken über einen innerislamischen Dialog

In wenigen Tagen beginnt der Ramadan. Und wie in den vergangenen Fastenmonaten ist es abermals ein Monat, in dem Muslime sich gegenseitig bestialisch umbringen. Gestehen wir Muslime es uns doch ein: Der Islam ist kein einigendes Band mehr für die Muslime. Genauer gesagt, der Islam in der jeweiligen Prägung von Sunniten und Schiiten ist kein einigendes Band mehr, sondern Rechtfertigung für gegenseitige Unterdrückung, Verfolgung, Folter und Tötung. Doch eine Gemeinschaft, die verfolgt, statt Toleranz zu üben, die tötet, statt Dialog zu führen, die zerstört, statt aufzubauen, ist nicht zukunftsunfähig. Eine solche Gemeinschaft ist erkrankt und es stellt sich die dringende Frage, ob sie wieder genesen kann.

Dabei ist der Konflikt zwischen Sunniten und Schiiten auf den ersten Blick verständlich, hat doch der Prophet Muhammad keine Konfession mit einer der beiden Bezeichnungen, sondern eine Religionsgemeinschaft, die umma, gegründet. Trotz aller Warnungen sich nicht zu spalten, geschah genau dies und nun beziehen sich diese beiden Konfessionen auf den einen Qur’an. Ohne philosophische Reflektion bezüglich Hermeneutik und Erkenntniskritik beansprucht jede Seite, den richtigen, nämlich einzig wahren Islam zu repräsentieren. Wahrheit ist ja nicht teilbar. Was aber, wenn wir ein anderes Bild bemühen: Ist die Wahrheit ein enger Pfad oder ein breiter Weg, den ein barmherziger Gott bereitet hat? Dies würde bedeuten, dass erkenntnistheoretisch nur ein perspektivischer Blick auf die Wahrheit möglich ist und das Ergebnis wäre, innerislamische Vielfalt, an der sich die Muslime erfreuen dürfen. Dies würde eine innerislamische Toleranz ermöglichen und eine neue Definition des Begriffes umma in der Gegenwart, nämlich Einheit in der Vielfalt.
Ganz konkret würde diese folgende konstruktivistische Denkanstrengungen, um des Friedenswillens zwischen den Muslimen, erfordern:

1) An die Sunniten gerichtet: Vergiss niemals, dass auch der Schiit ein Muslim ist!
An die Schiiten gerichtet: Vergiss niemals, dass auch der Sunnit ein Muslim ist!
Ihr beide glaubt an den einen und einzigen Gott.
Ihr beide habt im Propheten Muhammad ein Lebensmodell.
Ihr beide lest die gleiche Offenbarung: den Qur’an.
Ihr beide betet fünfmal am Tag gen Mekka.
Ihr beide fastet den Monat Ramadan über.
Ihr beide entrichtet die zaka.
Ihr beide pilgert nach Mekka.
Ihr beide habt das gleiche Glaubensbekenntnis ausgesprochen, gleichgültig, dass einige Schiiten noch ein theologisches Suffix anhängen.
Euch beiden wird die besondere Gnade Gottes zuteil, der sich als al-rahim, der Barmherzige, bezeichnet.
Sunniten und Schiiten mögen nicht den identischen Pfad bestreiten, aber einen doch sehr ähnlichen Weg, der sie beide zum gleichen Ziel führt.
Das, was Sunniten und Schiiten gemeinsam haben, ist  weit größer als das, was sie trennt.

2) An die Sunniten gerichtet: Vergiss nicht, nicht nur der Schiit hat Schuld an der Spaltung. Schuld sind auch die Sunniten.
An die Schiiten gerichtet: Vergiss nicht, nicht nur der Sunnit hat Schuld an der Spaltung. Schuld sind auch die Schiiten.
Aber wegen was hat die Spaltung stattgefunden?


Ein politischer Konflikt I

Die Wurzeln des späteren Konflikts zwischen Sunniten und Schiiten finden sich noch zu Lebzeiten des Gesandten Gottes Muhammad. Als der Prophet 630 in Mekka einzog, erteilte er jenen Menschen, die ihn zwei Jahrzehnte lang verleumdet, beschimpft, verfolgt und bekämpft hatten, Amnestie. Er entließ sie in die Freiheit. Nach dem Stammesrecht wären die Quraisch seine Sklaven gewesen. Er zwang ihnen den Islam nicht auf. Nur eines forderte der Gesandte Gottes von ihnen, einen Eid, dass sie den Islam und seine Anhänger niemals wieder bekämpfen würden. Die Quraisch traten daraufhin zum Islam über. Doch nicht alle waren von Muhammads Tat gerührt, nicht alle hatten ein Bekehrungserlebnis, sondern nicht wenige nahmen den Islam aus reinem Opportunismus an. Insbesondere für Angehörige des führenden Stammes der Umayyaden war es eine Schmach, sich dem Gesandten Gottes zu beugen, der aus dem Stamm der Haschemiten stammte. Seit jeher gab es zwischen den beiden Stämmen eine Rivalität. Manche Umayyaden machten keinen Hehl daraus, dass sie trotz der Annahme des Islam die Religion und den Propheten verachteten. So erklärt sich, dass der Stammesführer der Umayyaden und erbitterte Gegner des Propheten Abu Sufyan als einer der letzten den Schwur ablegte, den Islam nicht mehr zu bekämpfen. Viele Umayyaden mögen gedacht haben, dass der Gesandte Gottes bereits ein alter Mann ist und bald sterben würde. Nach seinem Tod würden dann wieder die alten Verhältnisse herrschen.

Als der Gesandte Gottes 632 starb, hinterließ er keine Anweisungen, wer die umma nach ihm führen sollte. Sein Tod kam nicht plötzlich, er hätte also durchaus die Gelegenheit dazu gehabt. Ein Versäumnis des Gesandten Gottes? Aber vielleicht war die umma durch das Ableben des Gesandte Gottes mündig geworden und musste nun selbstständig eigene Entscheidungen treffen.

Unter den Muslimen kursierten verschiedene Vorstellungen, wie es weitergehen sollte. Einige plädierten dafür, dass der Kalif ein Quraisch sein müsse, andere hielten dem entgegen, dass jeder Muslim Kalif werden könne, wenn er durch Wahl von der umma legitimiert wird. Andere favorisierten, dass das Kalifat in der Familie des Propheten bleiben sollte, andere votierten, dass die Medinenser, die Helfer des Propheten, mit dem Kalifat betraut werden sollten. Die Mehrheitsfraktion der Muslime setzte schließlich durch, dass der Kalif ein Quraisch sein solle, der per Wahl legitimiert wird. Nicht alle waren damit zufrieden.

Die ersten beiden Kalifen Abu Bakr (gest. 634) und Umar ibn Al-Khattab (gest. 644) gehörten zu den engsten Vertrauten des Gesandten Gottes. Beide waren sich bewusst, dass die Umayyaden erpicht waren, ihre alte Macht wiederherzustellen. Aus diesem Grund – mit einigen Ausnahmen – hielten sie die Umayyaden von politischen Posten fern. Dort, wo sie ihnen diese gewährten, nutzen die Umayyaden dies zu ihrem eigenen Vorteil. Der Umayyade Mu’awiya, Sohn des Abu Sufyan, wurde in der Regierungszeit Umar ibn Al-Khattabs 640 zum Statthalter über Syrien ernannt, wo er sich eine ihm treu ergebene Hausmacht aufbaute.

Der dritte Kalif Uthman ibn Affan (gest. 656), selber Umayyade, aber auch zugleich Muslim frühster Stunde, brach mit der Politik seiner Vorgänger und war gewillt, eine Versöhnung zwischen den Umayyaden und dem Islam herbeizuführen, indem er sie mit einflussreichen politischen Posten beschenkte. Dies jedoch diskreditierte Uthman in den Augen vieler Muslime, die darin Vetternwirtschaft und Korruption sahen. Uthmans Kalifat fiel in eine schwierige Zeit. Die Erfolgsgeschichte der islamischen Expansion hatte nämlich auch eine Kehrseite: Die Muslime waren nicht vorbereitet, ein so großes Reich von heute auf morgen zu verwalten. Lokale Statthalter, weit entfernt von Medina, missbrauchten ihr Amt. Beduinen sahen sich plötzlich in einem administrativen System gefangen und vermissten ihre alte Freiheit. Die Vermittlung der islamischen Religion verlief äußerst schleppend, da es nur fünf Exemplare des Qur‘an gab. Der Siegeszug des Islam wurde zunehmend zu einer Belastung für die umma und die Unzufriedenheit und der Zorn der Massen richtete sich gegen den Mann an ihrer Spitze: Uthman ibn Affan. Erste Unruhen brachen in Kufa und Khurasan aus. Schließlich machten Unzufriedene aus Ägypten und dem Irak sich in Richtung Medina auf, wo sich all ihr Zorn entlud und der Kalif 656 in seinem eigenen Haus ermordet wurde.

Das Reich war ohne Kalif. Eine gefährliche Situation, der schleunigst ein Ende bereitet werden musste. Je größer die Kritik an Uthman wurde, desto mehr richteten sich die Hoffnungen der Muslime auf Ali ibn Abi Talib. Er gehörte zu den ersten Muslimen, war ein enger Vertrauter des Gesandten Gottes und war verheiratet mit dessen Tochter Fatima, die sechs Monate nach ihrem Vater verstarb. Ihm eilte der Ruf voraus, ebenso weise wie tapfer zu sein. Medinenser und Aufständige traten an ihn mit der Bitte heran, die umma als Kalif anzuführen.

Eine schwierige Entscheidung. Das Kalifat abzulehnen, hätte möglicherweise ein Zusammenbruch des Reiches bedeutet. Es anzunehmen, hätte Ali von vornherein diskreditiert, da sich unter seinen Befürwortern auch die Mörder Uthmans befanden. Ali wägte ab und akzeptierte schließlich das Kalifat. Es sollte für ihn eine Bürde werden.
Ali versprach eine gerechte Sozialpolitik, die sich an jener des Gesandten Gottes orientieren würde, sowie der Vetternwirtschaft, die unter Uthman grassiert hatte, ein Ende zu bereiten. In Damaskus meldete Mu’awiya sogleich Widerstand an. Er forderte Rache für Uthman und lehnte es ab, einem Kalifen zu folgen, der sich weigere, gegen die Mörder Uthmans vorzugehen. Damit brach der erste muslimische Bürgerkrieg aus (656-661), in dem Muslime gegen Muslime kämpfe sollten. Dabei ging es nicht um religiöse Fragen, sondern um die Machtfrage im islamischen Reich. Während dieses Bürgerkrieges standen sich vier Parteien gegenüber:

- Die Anhängerschaft Mu’awiyas, die die Interessen der Umayyaden vertraten.
- Die Anhänger Alis, die Schiat Ali.
- Die Kharidschiten, eine Splittergruppe aus der Gefolgschaft Alis, die sich von ihm abwendete.
- Eine politisch diffuse Gruppe, an deren Spitze die Witwe des Gesandten Gottes, Aischa (gest. 678), und die Prophetengefährten Talha bin Ubaidallah (gest. 656) und Zubair bin Al-Awwam (gest. 656) standen. Sie forderten Rache für Uthman und kritisierten Ali, dass er nicht gegen dessen Mörder vorgehe. Zugleich scheinen sie in Opposition zu Mu’awiya gestanden zu haben.

Im Verlauf dieses Bürgerkrieges fanden drei zentrale Schlachten statt:

- Ende 656 kam es zwischen Ali und der Gruppe um Aischa, Talha bin Ubaidallah und Zubair bin Al-Awwam zur so genannten Kamelschlacht in der Nähe von Basra. Kamelschlacht deshalb, weil Aischa während der Schlacht auf einen Kamel saß und Anweisungen erteilte. Alis Truppen siegten, Talha und Zubair fielen. Aischa wurde unter Bewachung nach Medina zurückgesandt. Dies war das erste Mal, dass Muslime sich auf dem Schlachtfeld gegenüberstanden, dass erste Mal, dass Muslime einander töteten.

- Im Sommer 657 kam es zur Schlacht von Siffin. Hier stand Ali seinem Widersacher Mu’awiya ibn Abi Sufyan gegenüber. Die Schlacht zog sich wochenlang hin, ohne dass eine Partei einen nennenswerten Vorteil erringen konnte. Zu einer überraschenden Wende kam es, als Mu’awiya Blätter mit Versen aus dem Qur‘an auf den Lanzen seiner Männer anbringen ließ, um damit anzudeuten, dass die Lösung des Konflikts nicht auf dem Schlachtfeld, sondern im Buche Gottes gesucht werden sollte. Ein Schiedsgericht sollte über ihren Kalifatsanspruch entscheiden. Ali wusste, dass dies seine Position schwächen würde, doch seine kriegsmüden Männer favorisierten den Vorschlag der gegnerischen Seite und so musste Ali schließlich widerwillig nachgeben. Jedoch waren nicht alle in Alis Heer damit einverstanden. Eine Gruppe von ca. drei- bis viertausend Soldaten wandte sich daraufhin von Ali ab. Sie bildeten die Partei der Kharidschiten.

- Fortan überzogen die Kharidschiten den Irak mit ihrem Terror und töteten jeden Muslim samt Familienanhang, der sich nicht zu ihnen bekannte. Somit musste Ali eine zweite Front eröffnen, die ihn davon abhielt, Mu’awiya weiter die Stirn zu bieten. 658 kam es zum Kampf zwischen Alis Truppen und Verbänden der Kharidschiten bei Nahrawan. Wobei Letztere militärisch besiegt wurden. Die Kharidschiten gingen daraufhin in den Untergrund. Einer ihrer Attentäter ermordete schließlich Ali 661 vor seiner Moschee in Kufa.

Um die Herausbildung der Schia zu verstehen, müssen wir einen Blick auf Alis Gefolgschaft werfen:

- Da waren zum einen jene, die ihn so sehr verehrten, dass sie gesagt haben sollen, dass sie Freund dessen sind, der ein Freund Alis ist und dass sie dem Feind sind, der ein Feind Alis ist. Für sie war er der unfehlbare Imam. Woher schöpften sie dieses Vertrauen und diese Zuversicht? Hierzu muss man wissen, dass diese Anhänger Alis aus Südarabien stammten, einem Gebiet, das seit jeher die Vorstellung göttlicher, halb-göttlicher oder von Gott geleiteten Königen kennt. Es ist durchaus möglich, dass diese Araber eine solche Vorstellung auf Ali projiziert haben.
 
- Die andere Gruppe bestand aus Muslimen, die glaubten, dass die Ermordung Uthmans rechtens gewesen sei, weil er Stammesangehörige bevorzugt hätte und sich somit an seinem Amt versündigt hätte. Diese Gruppe stammte größtenteils aus Nordarabien. In diesen Stämmen stand seit jeher das Gemeinwohl des Stammes an erster Stelle. Um dieses zu gewährleisten, musste der fähigste Mann, unabhängig seiner sozialen Stellung, den Stamm führen. Es kann sehr gut sein, dass diese Araber eine solche Vorstellung auf die umma übertragen haben.

Aus der ersten Gruppe entstand die Schia, aus der zweiten die Kharidschiten. Beide Gruppen müssen in ihrem historischen Kontext gesehen werden. In einer Zeit der Unsicherheit und der Krise suchten die Muslime Halt. Unter den Anhängern Alis klammerten sich die einen an die Vorstellung eines unfehlbaren Imams, die anderen an eine göttlich inspirierte Gemeinde.

Wie bereits erwähnt, forderte Mu’awiya, dass die Lösung des Konflikts im Qur‘an gesucht werden solle, statt auf dem Schlachtfeld, wo Muslime einander töten. Ein Schiedsgericht, zusammengesetzt aus den beiden Prophetengefährten Amr ibn Al-As und Musa ibn Al-Asch’ari, sollte entscheiden, wessen Kalifatsanspruch legitim sei. Der Schiedsspruch fiel, wenn er denn gefällt wurde, undeutlich aus. Beide Seiten hielten weiterhin an ihrem Anspruch fest. Mu’awiya gelang es in der Folgezeit, seinen Einfluss im islamischen Reich weiter auszubauen, so dass er sich 660 in Jerusalem zum Kalifen krönen ließ. Alis Machtbasen dagegen blieben beschränkt auf den Irak, hier insbesondere auf Bagdad, Basra und Kufa. Die Ermordung Alis durch einen kharidschitischen Attentäter beendete schließlich den ersten Bürgerkrieg im Islam.


Ein politischer Konflikt II

Die Umayyaden begannen nun mit dem Ausbau, der Sicherung und der Zementierung ihrer politischen Macht. Ihre Abneigung gegen den Gesandten Gottes gaben sie dadurch Ausdruck, dass sie sich nicht mehr als Nachfolger des Propheten, sondern als Stellvertreter Gottes bezeichneten. Die Vetternwirtschaft, die mit Uthman ibn Affan begann, wurde weiter ausgebaut. Statt islamischer Egalität wurden arabische Muslime gegenüber nichtarabischen Muslimen bevorzugt. Statt dem islamischen Recht wurde wieder auf das arabische Gewohnheitsrecht zurückgegriffen. Statt sich am Gesandten Gottes zu orientieren, nahmen sich die Umayyaden die byzantischen und sasanidischen Herrscher zum Vorbild. Fortan wurde auf Mu’awiyas Anordnung von Freitag zu Freitag Ali ibn Abi Talib von der Minbar aus verflucht.
Ali ibn Abi Talib war tot, doch die Schia bestand weiter fort. In Kufa, der Hochburg der Schiiten, hoffte man, dass Alis Sohn Hasan ibn Ali die Nachfolge seines Vaters antreten werde. Tatsächlich wurde er zum Kalifen ausgerufen, was Mu’awiya veranlasste, mit einem Heer in den Irak einzumarschieren. Es kam zu Verhandlungen, an deren Ende Hasan seinen Kalifatsanspruch niederlegte. Fortan lebte er bis zu seinem Tod in Medina, wo die Historiker keine Notiz mehr von ihm nahmen. Nicht einmal sein Todesdatum ist bekannt.

Zur Sicherung der umayyadischen Macht wandelte Mu’awiya das Kalifat in eine Erbmonarchie um. 680 bestimmte er seinen Sohn Yazid (gest. 683) zu seinem Nachfolger. Husain ibn Ali, der zweite Sohn Alis und Fatimas, verweigerte Yazid die Gefolgschaft. Boten aus Kufa suchten ihn auf, bedrängten ihn, an die Spitze der Partei im Irak zu treten und die Umayyaden zu stürzen. Die Gelegenheit schien günstig. Husain begab sich noch im September 680, begleitet von einer kleinen Gefolgschaft von Getreuen und seiner Familie, nicht mehr als 50 Mann, heimlich auf den Weg in den Irak. Die Umayyaden erfuhren davon und instruierten ihren Statthalter, gegen die Schia vorzugehen. Als Husain dies mitgeteilt wurde, befand er sich gerade in der Nähe des Euphrats. Was sollte er nun tun? Umkehren? Aber wohin? Nach Medina, wo ihn die Soldaten Yazids festnehmen würden? Er setzte seinen Weg fort. Es war ein Weg in den sicheren Tod. Streitkräfte der Umayyaden hinderten ihn daran, Kufa zu betreten und drängten ihn ab. Husain befand sich in Not, doch von der Schia erschien nicht ein einziger. Am 2. Muharram lagerte Husains Trupp bei Kerbala. Am nächsten Tag standen sie 4.000 umayyadischen Soldaten gegenüber. Durch die umayyadischen Truppen vom Euphrat getrennt, mussten Husain und seine Gefolgschaft in den kommenden Tagen Durst leiden. Die Verhandlungen über eine Kapitulation scheiterten. Am 9. Muharram näherten sich die Umayyaden Husains Lager. Am Folgetag begannen die ersten Kämpfe und am Nachmittag erstürmten die umayyadischen Truppen schließlich das Lager und töteten Husain und fast alle seine männlichen Begleiter. Husains Kopf wurde nach Kufa gebracht, wo der dortige Statthalter mit Hilfe seines Stockes Husains Haupt die Zähne ausschlug. Die gefangenen Frauen und der einzig überlebende Sohn Husains, Ali ibn Husain, wurden schließlich von Yazid nach Medina entlassen.


Die Schia als religiöses Phänomen

Die Ermordung des Prophetenenkels Husains und die Zurschaustellung seines abgeschlagenen Kopfes schockierte nicht nur die Schia, sondern darüber hinaus die neutral gebliebene Mehrheit der Muslime. Die Umayyaden hatten ihre Abscheu gegenüber dem Gesandten Gottes dadurch zum Ausdruck gebracht, dass sie dessen Enkel ermordet hatten. Für die Schia wurde Husains Tod zum Synonym der betrogenen Menschheitshoffnung auf eine bessere Zukunft. Noch heute geschieht es, dass wenn man Schiiten auf den Tod Husains anspricht, sie urplötzlich zu weinen beginnen. Der Tod Husains wurde zum Gründungsmythos einer neuen Schia. War zuvor der Konflikt zwischen den Umayyaden, den Schiiten, der Partei um Aischa und den Kharidschiten vor allem politischer Natur, wurde die Schia nun zu einem religiösen Phänomen. Vor Husains Tod hatte es eine schiitische Religiosität überhaupt nicht gegeben. Kerbala wurde zum Zentrum des schiitischen Verständnisses von Islam und die Vergangenheit rückblickend neu gedeutet.

Auf einmal kursierte ein mündlicher Bericht, der besagt, dass der Gesandte Gottes 632 bei der Rückkehr seiner Abschiedspilgerfahrt auf dem Weg nach Medina bei dem Teich von Khumm halt gemacht haben soll. Der Gesandte Gottes habe seine Begleiter um sich versammelt und gesagt: „Allen, denen ich gebiete, soll auch Ali gebieten!“ Für die Schiiten ist dieses Ereignis eine eindeutige Designation Alis zum Kalifen und Imam. Aufgrund dessen sind für Schiiten Abu Bakr, Umar ibn Al-Khattab und Uthman ibn Affan unrechtmäßige Kalifen gewesen, die der Anweisung des Gesandten Gottes zuwider gehandelt hätten. Für Schiiten hatte Ali 40 Jahre lang das Kalifat inne, jedoch sei er 24 Jahre und sechs Monate davon abgehalten worden. Doch wie kam es, dass urplötzlich aus zwei der engsten und rechtschaffenen Prophetengefährten – Abu Bakr und Umar ibn Al-Khattab – machthungrige Despoten geworden sein sollen? Warum protestierte Ali nicht? Warum beharrte er nicht auf seinen Kalifatsanspruch? Weshalb schien auch die Mehrheit der Muslime nichts von dieser Designation zu wissen? Schiiten sehen Alis Schweigen als Teil von Gottes Willen an, die Gläubigen von den Heuchlern unterscheidbar zu machen. Auch soll Ali geschwiegen haben, um der umma einen Machtkampf und Blutvergießen zu ersparen. Hier liegt die Wurzel der Ablehnung und des Hasses vieler Schiiten auf der Mehrheit der Prophetengefährten, da diese Ali nicht beigestanden hätten. Insbesondere der Hass auf Aischa rührt von der Kamelschlacht her, da sie es wagte, sich Ali entgegenzustellen und ihn in seiner kommenden Auseinandersetzung mit Mu’awiya geschwächt habe.

Der Tod Alis wurde nun mit Wundergeschichten ausgeschmückt. Es heißt, dass Ali von seinen Söhnen Hasan und Husain sowie Getreuen auf einer Bahre hinaus in die Wüste getragen wurde. An der Stelle, wo Ali begraben wurde, soll eine Tafel gefunden worden sein, die die Inschrift trug: „Dies hat Noah für Ali ibn Abi Talib aufbewahrt.“
Hasan wird als zweiter Imam angesehen, der nicht eines natürlichen Todes,
sondern auf Anstiften Mu’awiyas von seiner Frau vergiftet worden sein soll.
Husains Weigerung umzukehren, als er erfuhr, dass die umayyadischen Statthalter gegen die Schia vorgegangen sind, wird gedeutet als eine Vollendung des abrahamischen Opfers. Abrahams fast vollzogenes Opfer an seinem Sohn sei nicht aufgehoben, sondern nur aufgeschoben und durch Husain vollbracht worden. Daher betrachtet die Schia den Tod Husains als Abschluss der islamischen Religion. Dabei übersehen die Schiiten allerdings die religiös-geistige Zäsur, die durch die Auslösung des Sohnes Abrahams durch ein Opfertier vollzogen wurde, ja machen sie sogar rückgängig. Der eine Gott, den Abraham anbetete, verkündete der Welt durch dieses Ereignis, dass er keine Menschenopfer will, sondern dass es Sein Wille ist, dass der Mensch lebt und erkennt, dass Er ein barmherziger Gott ist. Durch die schiitische Deutung von Husains Tod wird all dies in Frage gestellt. In der schiitischen Betrachtung der islamischen Geschichte soll der dritte Imam der Schia im vollen Bewusstsein, dass er den Märtyrertod erfahren würde, in den Irak aufgebrochen sein. Als er und seine Gefährten in Kerbala schließlich von den umayyadischen Truppen umzingelt waren, soll er in einer Ansprache an seine Gefolgsleute erklärt haben, dass vor ihnen nichts als der Tod sei. Da der Feind nur seinen Tod wolle, wäre jeder freigestellt, in der Dunkelheit der Nacht zu fliehen. Schließlich wurden die Lichter ausgemacht und bei Husain verblieben nur die engsten Mitstreiter, die ihm entgegneten, dass sie den Pfad der Wahrheit nicht verlassen wollen, auf dem der Imam sie führe. Sie seien bereit, während der Verteidigung des Imams zu sterben.
Die Mehrheit der Muslime teilt diese Geschichtsdeutung nicht, was aber nicht heißt, dass die Sunniten über das Geschehen in Kerbala nicht ebenso schockiert sind. Das Verhältnis der Mehrheit der Muslime, die sich später als Sunniten bezeichnen werden, zur umayyadischen Macht war gespalten. Einerseits lehnten sie die Umayyaden ab, andererseits tolerierten sie die Herrschaft dieser arabischen Monarchie. Diese Ablehnung der Umayyaden zeigt sich anhand des Begriffs rechtgeleitete Kalifen, womit das Kalifat von Abu Bakr, Umar ibn Al-Khattab, Uthman ibn Affan und Ali ibn Abi Talib bezeichnet wird. Der Tod Alis stellt auch für die Sunniten eine Zäsur dar, denn allen nachfolgenden Kalifen verweigerten sie diese Bezeichnung. Vermehrt tauchten nun mündlich überlieferte Berichte vom Gesandten Gottes auf, in denen er die rechtgeleiteten Kalifen namentlich in exakter Reihenfolge ihrer Amtszeit lobte. Andere Berichte besagen, dass das Heil der umma im Befolgen des Qur‘an und der sunna läge. Schiiten kennen ähnliche Berichte, in denen aber neben dem Qur‘an und sunna auch noch die ahl al-bait (Die Leute des Hauses, gemeint ist der Haushalt des Propheten Muhammad) erwähnt werden.
Vier Jahre nach den Ereignissen von Kerbela versammelte sich eine kleine Gruppe von Schiiten, die sich tawwabùn (Die Büßer) nannten, am Ort des Massakers. Gemeinsam trauerten sie und bereuten ihr, Versagen Imam Husain nicht beigestanden zu haben. Hier klingt eine nachqur‘anische vererbte Schuld an, die die Schiiten erst durch Fürsprache eines Imams am Jüngsten Gericht auslösen können. Büßen, so glaubten die sie, könnten sie nur durch ihren Tod. Sie marschierten weiter Richtung Syrien in der Hoffnung, auf ihrem Weg auf umayyadische Truppen zu stoßen, die sie töten würden. Auf diese Weise wollten sie beweisen, dass wenn sie 680 in Kerbela gewesen wären, sie ihr Blut für Husain vergossen hätten. Im Januar 685 wurden sie von umayyadischen Truppen gestoppt und umgebracht. Nur wenige entkamen dem Gemetzel. Die Entkommenden beklagten, dass sie ihr Versprechen nicht eingehalten hätten.
Die Schia war mit dem Tod Husains politisch gescheitert. Die Büßer stellen die Keimzelle der religiösen Schia dar. Alle wesentlichen Elemente des schiitischen Verständnisses von Islam sind in dieser Bewegung angelegt: Verfehlung, Reue, Buße, Strafe, der Kampf gegen Unrecht und Unterdrückung sowie die Bereitschaft zum Selbstopfer. Damit begründeten die Büßer eine neue religiöse Tradition innerhalb des Islam.

3) Dies sollte den Sunniten deutlich machen: Vergiss nicht, die Sunniten haben etwas gut zu machen!
Dies sollte den Schiiten deutlich machen: Vergiss nicht, die Schiiten haben etwas gut zu machen!
Und dies tun wir, indem wir die jeweilig andere Konfession mit Empathie begegnen und versuchen sie zu verstehen.

4) Die Gewalt zwischen Sunniten und Schiiten ist durch nichts zu legitimieren. Es heißt in der Offenbarung:
Aus diesem Grunde haben Wir den Kindern Israels angeordnet, dass wer einen Menschen tötet, ohne dass dieser einen Mord begangen oder Unheil im Lande angerichtet hat, wie einer sein soll, der die ganze Menschheit ermordet hat. Und wer ein Leben erhält, soll sein, als hätte er die ganze Menschheit am Leben erhalten. (…) (5: 32)

Es ist pure Illusion, dass es jemals eine spaltungsfreie umma geben wird. Ebenso abstrus ist die Hoffnung seitens der Sunniten, dass die Schiiten eines Tages ihren „Fehlweg“ erkennen und allesamt in den Hafen des „wahren“ Islam, nämlich des Sunnitentums, kommen. Gleiches gilt ebenso für Schiiten unter umgekehrtem Vorzeichen. Noch fataler ist die Vorstellung der Wahhabiten, die Schiiten zu exkommunizieren und indem man sie wie Tiere jagt und tötet, das Problem der Spaltung aus der Welt zu schaffen. Hatte die Offenbarung nicht davor gewarnt?
 
Wendet euch Ihm zu und fürchtet Ihn und verrichtet das Gebet und seid nicht unter denen, die Ich Gefährten zur Seite setzen, unter denen, die ihre Religion aufgespalten haben und so in Sekten zerfielen, wobei sich jede Partei ihrer eigenen Doktrin erfreut. (30: 31-32)

Muslime müssen sich wieder auf das Humanum in ihrer Religion konzentrieren. Das Humanum des Islam zeigt sich anhand der allegorischen Geschichte des ersten Menschen Adam. Indem Gott einen Menschen erschafft, wird erstens die Gleichheit des Menschen postuliert und zweitens drückt sich darin aus, dass wer ein Leben rettet, dem gleicht, der die ganze Menschheit gerettet hat und der, der ein Leben auslöscht, dem gleicht, der die gesamte Menschheit ausgelöscht hat. Das Humanum des Islam zeigt sich auch in dem Gebot der Nächstenliebe:

Dies ist es, was Gott Seinen Dienern verheißt, die glauben und das Rechte tun. Sprich: „Ich verlange keinen Lohn von euch. Aber liebt dafür (euere) Nächsten.“ Wer eine gute Tat begeht, dem werden Wir gewiß noch mehr an Gutem erweisen. Gott ist fürwahr verzeihend und erkenntlich. (42: 23)

Sunniten und Schiiten können nur dann aufhören, sich als Fremde wahrzunehmen, wenn sie erfahren, was die Geschichte des anderen ist, wenn man sich in die Lage des anderen versetzt, denn dann kann man den anderen verstehen. Dann hört der Fremde auf, ein Fremder zu sein und wird mein Nächster. Für einen Dialog zwischen Sunniten und Schiiten müssen Muslime die Bereitschaft zeigen, eine Minimaldefinition vom Muslimsein zuzulassen.

Die Grundhaltung der Sunniten ist die Bewahrung der Kontinuität von Glaube und Glaubensgemeinschaft in der Zeit sowie die Universalität von Glaube und Glaubensgemeinschaft im Raum. Diese Kontinuität geschieht durch den Rückgriff auf die Quellen der Sunniten: dem Qur‘an und der sunna. Die Reform der Glaubensgemeinschaft erfolgt stets nach der Norm dieser beiden Glaubensquellen.
Die Grundhaltung der Schiiten ist Loyalität zur Familie des Gesandten Gottes. Die Gemütslage der Schiiten ist geprägt von dem Unrecht, das dem Enkel des Gesandten Gottes, Husain, in Kerbela widerfahren ist, während die restliche umma in Passivität verharrte. Sie ist geprägt vom Urversagen der Schia, dem Imam beigestanden zu haben. Sie ist erfüllt von dem Willen, Buße zu tun. Sie ist in Erwartung der Fürsprache der Imame.

Richtig verstanden schließen sich die sunnitische und die schiitische Grundhaltung nicht aus. Heute kann ein Sunnit wahrhaft schiitisch gesinnt sein – ohne das philosophisch-theologische Gerüst der Schia übernehmen zu müssen – und der Schiit wahrhaft sunnitisch gesinnt sein. Das gegenseitige Verständnis kann Grundlage für einen wahrhaft innerislamischen Dialog sein. Auf diese Weise kann ein Muslim wieder Muslim im vollen Sinn sein, der Islam wieder einigendes Band für die Muslime sein und jeglicher religiöser Chauvinismus hinter sich gelassen werden, ohne dass der Muslim seine Konfession verleugnet. Islam heute bedeutet ökumenischer Islam. Denn worum sollte es Sunniten und Schiiten eigentlich gehen? Es sollte ihnen um die Botschaft gehen, die der Gesandte Gottes verkündet hat:

Sprich: „O ihr Menschen! Seht, ich bin für alle von euch ein Gesandter Gottes, Dessen das Reich der Himmel und der Erde ist. Es gibt keinen Gott außer Ihm. Er macht lebendig und lässt sterben. Darum glaubt an Gott und Seinem Gesandten, dem Propheten, der des Lesens und Schreibens unkundig ist, und an Seine Worte und folgt ihm, damit ihr rechtgeleitet seid.“ (7: 158)

Das bisher Gesagte soll aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass es auf der theologischen Ebene zwischen Sunniten und Schiiten gravierende Unterschiede hinsichtlich des Imamats gibt. Keiner sollte sich der Illusion hingeben, dass es eines Tages wieder die eine umma wie zur Zeit des Gesandten Gottes geben wird. Dazu hat die Spaltung zwischen Sunniten und Schiiten zu lange gedauert. Einzig die ökumenische umma kann an dieses Ideal heranreichen. Aber wenn Sunniten und Schiiten Dialog führen, statt sich zu bekämpfen, wenn sie gemeinsam beten, statt sich gegenseitig zu verfluchen, haben sie dann nicht schon viel erreicht?

Muhammad Sameer Murtaza M.A. ist Islamwissenschaftler bei der Stiftung Weltethos. Dort arbeitet er zum jüdisch-muslimischen Dialog und zur islamischen Philosophie im Bezug auf Toleranz und Dialog. Kürzlich erschien sein Buch Islam. Eine philosophische Einführung und mehr.