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Samstag, 26.10.2013


Staat und Gesellschaft lassen Islamverbände im Stich

Bemerkenswerte wissenschaftliche Untersuchung: Anerkennung als Religionsgemeinschaft und Körperschaft würde die Integrationsdebatte entscheidend fördern

Zwar existieren bereits seit längerer Zeit wissenschaftliche Untersuchungen zur verbandsstrukturellen Organisation der in Deutschland lebenden Muslime, bislang standen diese jedoch wie jegliche Studien zu Muslimen in Deutschland weitgehend unter dem Aspekt, in wie weit der Islam die Integration von Immigranten in die majoritär nichtmuslimische Gesellschaft behindere oder fördere.

Die Soziologin Kerstin Rosenow-Williams geht in ihrer Studie von vorn herein vom Islam als Teil und drittgrößte Religion Deutschlands aus. Sie beleuchtet darin, wie die Islamverbände als öffentliche Repräsentanten dieser Religion auf den Wandel des Gesellschaftsumfelds und der eigenen Mitgliederstruktur reagieren.

In einer der umfassendsten Untersuchungen zum islamischen Verbandswesen in Europa überhaupt benennt sie am deutschen Exempel Grundkonflikte, denen sich die Muslime und ihre Glaubensvertreter in westlichen Staaten gegenübersehen. Zugleich skizziert sie die historisch gewachsene muslimische Verbandsstruktur in Deutschland als Reaktion auf die spezifisch deutsche Immigrationsgeschichte sowie auf das spezifisch deutsche Verhältnis zur institutionalisierten Religion.

Zwar hatte sich bereits mit Beginn der Arbeitsimmigration in den 60er Jahren der islamische Kultus mit Gebetsräumen und sogenannten „Hinterhofmoscheen“ auf deutschem Boden etabliert, doch erst die politische Debatte um die Bekämpfung des „radikalen Islamismus“ im Angesicht des 11.September 2001 rückte die Präsens des Islam und die Frage nach seiner regulären Repräsentanz in Deutschland ins öffentliche Bewusstsein.

Da man Muslime in erster Linie mit Immigranten sowie mit einer Bedrohung für die nichtmuslimische Mehrheitsgesellschaft assoziierte, verlangte der öffentliche Diskurs von ihren Verbänden, sich mit sogenannten „deutschen Werten“ anzuvertrauen.

Den Verbänden wurden zwar zunehmend Gemeinschaftsaufgaben, vergleichbar den christlichen Kirchen, zugewiesen, jedoch die Kompatibilität des Islam mit der deutschen Kultur öffentlich bezweifelt und ihm die körperschaftsrechtliche Vertretung in Deutschland vorenthalten. Der organisierte Islam sieht sich seither einem andauernden Kampf für die gesellschaftliche Akzeptanz gegenüber.

Rosenow-Williams Studie stellt die deutschlandweit agierenden islamischen Dachverbände in den Mittelpunkt ihrer Betrachtung. Dabei bezieht sie sich sowohl auf Literatur über die Verbände als auch auf Stellungnahmen von und selbst durchgeführte Interviews mit führenden Verbandsfunktionären. Hieran zeichnet sie die historische Entwicklung der Verbände im Spannungsfeld zwischen eigenen Ansprüchen und Erwartungen Dritter nach.

Die Gegenüberstellung von drei historisch-ideologisch wie strukturell erheblich divergierenden muslimischen Dachverbänden, der Diyanet Işeri Türk Birliği – Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion e.V. (DITIB), der Islamischen Gemeinschaft Millî Görüş e.V. (IGMG) und des Zentralrats der Muslime in Deutschland e.V. (ZMD), lässt erkennen, dass nicht nur die allgemeinen äußeren Bedingungen, sondern auch Selbstverständnis und interne Struktur der jeweiligen Organisation das situationsbezogene Verhalten beeinflussen.

Dessen ungeachtet erkennt Rosenow-Williams Grundtendenzen in allen genannten Organisationen, die allgemeine Schlussfolgerungen zum organisierten Islam in Deutschland und zum angemessenen Gegenübertritt von Staat und Mehrheitsgesellschaft zulassen.

Indem sie sowohl die Makroperspektive mit von der Umwelt auf die organisierten Muslime einwirkenden Ereignissen und Diskursen als auch die Mikroperspektive mit Faktoren wie Größe, ethnische Zusammensetzung oder ideologische Ausrichtung des jeweiligen Dachverbandes in ihre Studie einfließen lässt, entgeht die Autorin dem Vorwurf, das Verbandsverhalten ausschließlich nach ihrem subjektiven Wertempfinden als Nichtmuslimin einzuordnen.

Sie kritisiert die vielfach vorgenommene willkürliche Einteilung in „gute versus integrationsbereite“ Muslime und „schlechte versus integrationsresistente“ Muslime. Die Kooperation der muslimischen Dachverbände mit öffentlichen Institutionen habe dies lange Zeit erschwert, Konkurrenz und gegenseitige Abgrenzung der Organisationen untereinander befördert und sei für die beklagte fehlende Einheitsrepräsentanz des Islam hierzulande mit verantwortlich.

Anhand der Anerkennung eines Reformbedarfs seitens der Verbandsfunktionäre stellt die Autorin heraus, dass der Einfluss der freiheitlichen Gesellschaft Deutschlands auf die Verbände sich durchaus fortschrittsfördernd ausgewirkt hat. Die Beteiligung vorwiegend auf Immigranten aus einem bestimmten Land ausgerichteter Verbände, im Falle von DITIB und IGMG der Türkei, an nationalen Aufgaben Deutschlands hat sogar deren Identifikation mit dem Residenzland verstärkt.

Beim ZMD mit seiner Vielzahl an zugeordneten Mitgliedsvereinen divergenter islamischer Konfessionen und ethnischer Herkünfte, teilweise sogar explizit multiethnischer Struktur, war die Ausrichtung auf öffentliche Islamvertretung in Deutschland von vorn herein handlungsleitendes Ziel, wenngleich man die Verbindung zur Ummah und somit auch zu supranationalen Islamorganisationen stets gepflegt hat.

Die ausschließenden, auf bestimmte Aspekte wie die nationale Sicherheit eingeengten öffentlichen Islamdiskurse haben die strukturelle Modernisierung der Dachverbände jedoch nicht unterstützt und teilweise ein Protestverhalten befördert, das besonders dort zu beobachten war und ist, wo, wie im Falle der IGMG, nicht nur allgemein dem Islam, sondern auch dem einzelnen Verband undemokratische Tendenzen oder Absichten unterstellt wurden.

Indem Engagement für die deutsche Gesamtgesellschaft mit der Unterordnung unter eine „christlich dominierte Leitkultur“ oder der Kreierung eines spezifisch „deutschen Islam“ gleichgesetzt werde, stelle man der Integration der Muslime künstliche Barrieren auf.

Den von den Verbandsmitgliedern hiergegen eingeforderten Protest trägt die Verbandsführung durch Symbolaktionen wie die Verweigerung der Teilnahme an der zweiten Islamkonferenz (DIK II) Rechnung. Insgesamt ist das Interesse an der Mitgestaltung des deutschen Gemeinwesens jedoch stets vorhanden. Man verlangt als gleichberechtigter Partner neben anderen, der nichtmuslimischen Mehrheitsgesellschaft entstammenden Organen wie Parteien, Kirchen oder Wohlfahrtsverbände in einflussreichen institutionellen Gremien vertreten zu sein.

Um dies zu erreichen, ist es nach Auffassung der Autorin notwendig, die in Sonntagsreden zum Ausdruck gebrachte Erkenntnis, der Islam ist Teil Deutschlands, auch durch die offizielle körperschaftsrechtliche Anerkennung der Verbände Geltung zu verschaffen. Der mediengestützte Islamdiskurs müsse sich zudem von Seitens der Muslime ausgrenzend empfundenen Debatten lösen und die Verbände dabei unterstützen, zu einer Struktur zu finden, welche die Übernahme gesamtgesellschaftlicher Verantwortung im Sinne islamischer Werte erleichtert.

Die Zusammenführung verschiedener Dachverbände unter dem übergeordneten deutschlandweiten Vertretungsorgan des Koordinierungsrates der Muslime (KRM), die gleichberechtigte Beteiligung mit staatlichen und anderen körperschaftlichen Vertretungen in öffentlichen Institutionen im Medien, Erziehungs-, Sozial- und Gesundheitssektor kennzeichnet Rosenow-Williams grundsätzlich ebenso als bedeutende Schritte wie die Deutsche Islamkonferenz (DIK), bei der die Verbände als regelmäßige Teilnehmer vertreten sind.
Wenn die Islamverbände als offizielle Vertreter der Muslime mit ihren eigenen Anliegen auf Resonanz treffen könnten, wäre die Integration des Islam in Deutschland nicht nur im Bewusstsein der Muslime, sondern auch der Nichtmuslime vollzogen.

Insgesamt bietet die Studie einen umfangreichen Überblick über die höchste Ebene des muslimischen Verbandswesens in Deutschland und lässt nachvollziehen, weshalb die muslimischen Dachverbände nicht ohne weiteres mit der evangelischen oder katholischen Kirche verglichen werden können. Zugleich deutet sie an, dass die angemessene Repräsentanz des Islam in staatlichen und gesellschaftlichen Institutionen nur in einem gesicherten Rechtsstatus gelingen kann. (MOHAMMED KHALLOUK, Rabat/Marburg)

Rosenow-Williams, Kerstin (2012): Organizing Muslims and Integrating Islam in Germany – New Developments in the 21st Century. – Brill: Leiden/Boston, 518 S.