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Das Bundesverfassungsgericht


„Dann gehen wir eben nach Karlsruhe!“ Dieser Satz ist im politischen Alltag in Deutschland nicht selten. Er ist juristisch gemeint und bezieht sich auf den Sitz des Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe. Dort findet sich zwar auch der Bundesgerichtshof, also das oberste Gericht in Zivilsachen und Strafsachen. "Karlsruhe" meint aber meist das Bundesverfassungsgericht als das höchste Gericht in Deutschland, als "Hüter" des Grundgesetzes, als Verfassungsorgan. Oberste Gerichte – dazu zählt auch das Bundesarbeitsgericht in Erfurt das Bundessozialgericht in Kassel oder das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig und der Bundesfinanzhof in München – sind als Fachgerichte dafür zuständig, in letzter Instanz normaler Rechtsstreitigkeiten zu entscheiden. Das Bundesverfassungsgericht ist als höchstes Gericht keine weitere solche Instanz, sondern entscheidet nur über Verfassungsrecht.

Geht es also um die Frage, ob ein Gesetz gegen ganz grundlegende Menschenrechte verstößt, dann gehört dies vor das Bundesverfassungsgericht genauso wie die Frage, ob der Bund, also der Bundestag mit der Bundesregierung, ein Gesetz verabschieden darf, oder ob diese Kompetenz einem Bundesland zusteht. Das Bundesverfassungsgericht ist insofern kein schlichtes Gericht, sondern eben ein Verfassungsorgan.

Der Weg nach Karlsruhe ist ganz genau ausgeschildert. Im Grundgesetz, der deutschen Verfassung, sind bestimmte Verfahren aufgelistet, in denen Bürgerinnen und Bürger (auch als Unternehmen, für einen Verein, oder als Einzelpersonen) oder politische Akteure (wie der Bundestag oder Abgeordnete, die Bundesregierung oder Landesregierungen und auch Kommunen) oder aber normale Gerichte das Bundesverfassungsgericht um eine Entscheidung bitten können: die Verfassungsbeschwerde, der Organstreit und die abstrakte Normenkontrolle sowie die konkrete Normenkontrolle im Vorlageverfahren. Was genau zu tun ist, um nach Karlsruhe zu kommen, regelt dann das Bundesverfassungsgerichtsgesetz (BVerfGG).

Im Bundesverfassungsgericht arbeiten zwei Senate, die für die kleineren Entscheidungen wiederum Kammern bilden. Insgesamt sind 16 gleichberechtigte Richterinnen und Richter tätig, die von Bundesrat und Bundestag auf Vorschlag der politischen Parteien für eine einmalige Amtszeit von zwölf Jahren gewählt werden. Das sorgt für eine gewisse Vielfalt der Perspektiven. Allerdings zieht das im Wesentlichen geheime Wahlverfahren auch Kritik auf sich, und die Vielfalt ist relativ: An das Bundesverfassungsgericht kommen Richter und Richterinnen der Bundesgerichte neben Professorinnen und Professoren, tätig und fachlich gibt es sehr unterschiedliche Spezialisierungen. Bislang sind aber beispielsweise Frauen am Gericht deutlich in der Minderheit, und bislang gab es niemanden mit jüdischer noch muslimischer Religionszugehörigkeit.

Der Weg nach Karlsruhe ist in Verfahrensregeln ausgeschildert- und das deutsche Bundesverfassungsgericht ist – im Unterschied zu vielen anderen Ländern – dennoch ein "Bürgergericht": Wer nach Karlsruhe geht, muss nicht anwaltlich vertreten sein – auch wenn fachkundige Unterstützung die Erfolgsaussichten eines Verfahrens sicher erhöht. Nicht zuletzt das Bundesverfassungsgericht hat immer wieder entschieden, dass in einem Staat, in dem die Verfassung den Sozialstaat als Grundprinzip nennt (Art. 20 GG), für arme Menschen sogar ein Recht auf solche Unterstützung besteht, wenn die Sache nicht völlig aussichtslos ist (Beratungs- und Prozesskostenhilfe). Die Möglichkeit, ein Gesetz, eine staatliche Maßnahme oder ein gerichtliches Urteil nochmals verfassungsrechtlich überprüfen zu lassen, nutzen heute jedes Jahr weit über 5000 Menschen; die Möglichkeit, politische Vorhaben in Gesetzesform oder auch in Form internationaler Verträge "in Karlsruhe" stoppen zu lassen, wird ebenfalls häufig genutzt. Allerdings: Nur in ganz wenigen Fällen" kippt" Karlsruhe ein Gesetz, "stoppt" Karlsruhe die Regierung oder "rügt" Karlsruhe ein Gericht. Es gehört zum politischen Jargon und zur Berichterstattung der Medien, Entscheidungen trotzdem derart zu skandalisieren. Bei näherem Hinsehen zeigt sich jedoch, dass die Bundesrepublik Deutschland im besten Sinne des Wortes in guter Verfassung ist: Alle Beteiligten haben seit 1951 (seitdem gibt es das Bundesverfassungsgericht) in oft auch harten Auseinandersetzungen gelernt, das Grundgesetz nicht nur zu achten, sondern auch tatsächlich wirksam werden zu lassen. Daher kommt das Bundesverfassungsgericht eher selten zu der Entscheidung, dass gegen die Verfassung verstoßen wurde – viel häufiger bleiben Anträge erfolglos. Das Grundgesetz ist heute also weithin tatsächlich die maßgebliche Orientierung für den Gesetzgeber und eine "Leitplanke" für lebendige Demokratie.

Das Bundesverfassungsgericht ist das Gericht für die letzten Fragen: Verfassungsfragen zielen auf die Grundrechte, also das, was als Menschenrecht allen ganz grundlegend zusteht oder in Einzelfällen als Deutschenrecht jedenfalls denen zusteht, die die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen oder – z. B. als Angehörige von EU Staaten – den Deutschen gleichgestellt sind; Verfassungsfragen zielen auch auf die grundlegende Organisationen des Staates und die Einbindung Deutschlands in die europäische Union und andere internationale Zusammenschlüsse von der NATO bis zu den Vereinten Nationen. In bestimmten Fällen steht Karlsruhe daher neben anderen Gerichten, insbesondere dem Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) und dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR). Der Maßstab für die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ist allein das Grundgesetz, doch bezieht es sowohl das Recht der EU als auch das Recht der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) und weiterer internationaler Verträge, die in Deutschland vom Bundestag als deutsches Recht übernommen wurden (also: ratifiziert sind), in seine Entscheidungen mit ein. Wenn ein Konflikt also heute nach Karlsruhe kommt, dann kann es durchaus sein, dass er auch Straßburg oder Luxemburg beschäftigt – wir leben heute auf gewisse Weise in einem Verfassungsgerichtsverbund, zudem dann auch die Verfassungsgerichte anderer Nationen gehören.

Letzte Fragen – das kann heute vieles betreffen. Da eine Verfassung den Grundkonsens formuliert, der in einer Gesellschaft Geltung beansprucht, lässt sich das Grundgesetz auch zu fast allen Fragen zu Rate ziehen, die eine Gesellschaft heute bewegen. Hier können nur Beispiele genannt werden.

Am Anfang des Grundgesetzes steht das Bekenntnis zur Unantastbarkeit der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG). Das war 1948 das deutliche „Nie wieder!“ – gegen Faschismus, gegen Antisemitismus, gegen Rassenideologien. Heute stellt sich die Frage nach der Menschenwürde in weiteren Zusammenhängen. Dazu gehören bioethische Kontroversen. Lässt sich beispielsweise aus dem Grundgesetz ein Verbot medizinischer Forschung ableiten, wenn dabei Embryonen oder menschliche Stammzellen benutzt werden? Die Vorstellung eines menschenwürdigen Lebens bezieht sich aber auch auf die soziale Lage. Beinhaltet das Grundgesetz also einen Auftrag an den Gesetzgeber für ein Existenzminimum zu sorgen? Das hat das Bundesverfassungsgericht sowohl im Hinblick auf die Grundsicherung wie auch im Hinblick auf Menschen entschieden, die in Deutschland Asyl suchen; Fragen der sozialen Gerechtigkeit stellen sich auch in Zukunft, häufig als Fragen der Gleichberechtigung von Frauen und Männern (Art. 3 Abs. 2 GG), als Fragen der Gleichbehandlung hinsichtlich der Herkunft, der Religion, oder auch der Behinderung (Art. 3 Abs. 3 GG), und als Fragen des Schutzes vor Diskriminierung wegen der sexuellen Identität.
Informations- und Kommunikationstechnologien sind überall präsent - und es sind zugleich Überwachungs- und Kopiertechnologien. Wie steht es da um Selbstbestimmung über die eigenen Daten und den Schutz einer Privatsphäre am eigenen PC oder auch am Arbeitsplatz, aber auch um die Transparenz und die Informationsfreiheit, wie auch um den Schutz geistigen Eigentums und die Urheberschaft von Kunst und Literatur? Verfassungsrechtlich sind dies zentral Grundrechtsfragen des Art. 1 Abs. 1 i.V.m. 2 Abs. 1 GG, und wir müssen über die Presse und Medienfreiheit, die in Art. 5 GG geschützt ist, immer wieder ebenso intensiv nachdenken wie über die Idee des Eigentums in Art. 14 GG.

Auch in einem säkularen Verfassungsstaat wie der Bundesrepublik Deutschland spielen Religion und Weltanschauung eine wichtige Rolle – und das wirft so grundsätzliche Fragen auf, dass sie nicht selten nach Karlsruhe gelangen. Oft sind dies auch verfassungsrechtlich neue Fragen: als das Grundgesetz verabschiedet wurde, entschied man sich für ein im internationalen Vergleich besonderes Modell der weltanschaulichen Neutralität des Staates, der bestimmten Religionsgemeinschaften (damals standen die christlichen Kirchen im Vordergrund ) zugleich Privilegien sichert und mit ihnen kooperiert; heute gibt es in Deutschland eine viel größere Vielfalt religiöser und weltanschaulicher Gemeinschaften und eine weltweit gestiegenes Bewusstsein für den Schutz vor Diskriminierung von religiösen und auch anderen Minderheiten, weshalb das alte Modell vielfach in Frage steht. Wie steht es nämlich um das kirchliche Arbeitsrecht, wenn dies einerseits Selbstbestimmung in religiösen Angelegenheiten sichert, andererseits aber Menschen aufgrund ihres Geschlechts oder im Hinblick auf Sexualität diskriminiert? Was ergibt sich aus dem Grundgesetz im Hinblick auf religiös motivierte Kleidung im Beruf oder sogar in staatlichen Institutionen, wie z. B. Schulen oder Gerichten – wie ist also verfassungsrechtlich der Streit um das Kopftuch einer Lehrerin zu beurteilen? Setzt das Grundgesetz der religiösen Selbstbestimmung auch der Eltern Grenzen, die eine Beschneidung ihrer Söhne wollen, oder schützt es diesen Wunsch, und wie verhält es sich, wenn Eltern Kinder aus religiösen Gründen nicht in eine öffentliche Schule mit Schwimmunterricht oder auch Biologie und Sexualkunde schicken wollen?

Deutschland ist ein demokratischer Rechtsstaat (Art. 20 GG), dessen Regierung über gleiche und freie Wahlen legitimiert werden muss (Art. 38 GG). Auch diese Vorschriften wurden geschaffen, bevor die europäische Integration Gestalt annahm und die Globalisierung weltweite Verflechtung schuf. Wie steht es heute um das Verfassungsprinzip der Demokratie, wenn Regierungen weit über Staatsgrenzen hinaus – und traditionell in der Diplomatie auch ohne Beteiligung des Parlaments – nicht nur internationale Verträge schließen, sondern darüber hinaus, wie in der EU, langfristige institutionelle Verbindlichkeiten schaffen? Darüber musste das Verfassungsgericht schon häufiger urteilen (Entscheidungen zu den Verträgen von Maastricht und Lissabon und zum Stabilitätspakt ESM).

Die Frage nach der Demokratie als einer Kernaussage des Grundgesetzes stellt sich aber nicht nur angesichts von Europäisierung und Globalisierung, sondern auch im innenpolitischen Alltag. Ist es mit den Prinzipien der Allgemeinheit, Freiheit und Gleichheit der Wahl vereinbar, den Einzug kleiner Parteien in Parlamente an ein Mindestquorum (die 3- oder 5 %- Hürde) zu binden? Wie muss ein Wahlrecht überhaupt gestaltet sein um den Bürgerinnen und Bürgern jeweils den gleichen Einfluss zu sichern? Und was muss der Verfassungsstaat leisten um auch den die Wahl zu ermöglichen, die beispielsweise blind sind und deshalb einen "normalen" Wahlzettel nicht einfach ausfüllen können?

"Karlsruhe" hat also viel zu tun. Das Bundesverfassungsgericht musste sich in den Anfangsjahren gegen die Bundesregierung behaupten, die sich zunächst einmal nicht vorgestellt hatte, dass ein Gericht sich tatsächlich sehr selbstbewusst in Regierungsprojekte einmischen würde. Es hat sich dann einen weltweit hörbaren Ruf als Grundrechtsgericht erarbeitet. In der Europapolitik ist Karlsruhe ebenfalls zu einer wichtigen Stimme geworden. Als Gericht kann es allerdings nur auf diejenigen reagieren, die sich mit Fragen auf den Weg nach Karlsruhe begeben. Zudem ist ein Verfassungsgericht zwar mit politischen Fragen befasst und fällt auch Entscheidungen, die politisch wirken, handelt aber selbst nicht politisch: Es muss juristisch begründen und jedes Argument auf das Grundgesetz zurückführen. Damit fügen sich Verfassungsgerichte in die Gewaltenteilung, die als System der wechselseitigen Kontrolle und des Ausgleichs heute Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sichern.

Susanne Baer ist seit 2011 Richterin des Bundesverfassungsgerichts im Ersten Senat. Zudem ist sie Professorin für Öffentliches Recht und Geschlechterstudien an der Juristischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin, Global Law Professor an der University of Michigan Law School, USA, und Gast an der CEU Budapest. Sie arbeitet zu Grund- und Menschenrechten, vergleichendem Konstitutionalismus, Theorie, Empirie und Rechtsfragen von Diskriminierung.