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Fraktion und Abgeordneter


In der konstitutionellen (also auf eine Verfassung verpflichtenden) Monarchie waren dem Volk Mitwirkungsrechte am Staatsleben zugestanden und dem einzelnen Bürger Persönlichkeitsrechte "garantiert", sowie beides in jener Verfassung ""besiegelt". Die Regierung war dem Monarchen verantwortlich und für die Mitwirkung des Volkes vertrat ein gewähltes Parlament dessen Interessen gegenüber der Regierung. Dieses war kein Staatsorgan sondern eine Einrichtung der Gesellschaft, eben "Volksvertretung". Deren Mitglieder waren zur Beratung und Beschlussfassung gewählt und ab geordnet und durch ein Mandat dazu ermächtigt. Dieses war frei in dem Sinne, dass sie auf Anträge und Weisungen nicht gebunden waren, sondern jeder eigenverantwortlich an den Zuständigkeiten des Parlaments Teil hatte.

Das änderte sich grundlegend als – in Deutschland 1918 – die Monarchie angeschafft wurde. Jetzt wurde die Regierung vom Parlament gewählt und war diesem verantwortlich. Seitdem ist das Parlament nicht mehr eine Einrichtung der Gesellschaft sondern ein Staats- bzw. Verfassungsorgan. Infolge dessen wurde der einzelne Abgeordnete Erfüllungsgehilfe dieses Organs oder wie man sagt Organwalter. Und das wiederum bedeutet, dass er außer seinem Mandat auch ein Amt hat Artikel 48 II GG: Niemand darf gehindert werden, das Amt eines Abgeordneten zu übernehmen und auszuüben.

Im sogenannten "Bonner Kommentar" des GG heißt es: „Der Wille des Parlaments ist rechtlich dem Staat und nur politisch-ideologisch dem Volk zuzurechnen, denn das Parlament ist staatsrechtlich Organ des Staates, nicht Organ der staatsbürgerlichen Gesellschaft; das Gleiche gilt für den einzelnen Abgeordneten.“ Hegel bemerkt dazu (Rechtsphilosophie § 311): „Wenn die Abgeordneten als Repräsentanten betrachtet werden, so hat dies einen organisch vernünftigen Sinn nur daran, dass sie nicht Repräsentanten von Einzelnen, von einer Menge seien, sondern Repräsentanten einer wesentlichen Sphäre der Gesellschaft, Repräsentanten ihrer großen Interessen. Das Repräsentieren hat damit auch nicht mehr die Bedeutung, dass einer an der Stelle eines anderen sei, sondern das Interesse selbst ist in seinen Repräsentanten wirklich gegenwärtig …“.

Die politischen Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit (Art. 21 I GG). Sie sind freiwillige Zusammenschlüsse von Bürgern, die sich von allen anderen Vereinigungen dadurch unterscheiden, dass sie, weil sie aus freien Wahlen hervorgehen, also nach dem Prinzip der Volkssouveränität bestimmt sind, die öffentliche politische Willensbildung nicht bloß beeinflussen, sondern mitbestimmen. So sind sie „ein verfassungsrechtlich notwendiger Bestandteil der freiheitlich demokratischen Grundordnung“ (Parteiengesetz) und haben deshalb den „Rang verfassungsrechtlich Institution“ (BvfG v. 17.08.1956).

Am Anfang der politischen Willensbildung des Volkes steht nicht ein einheitlicher Volkswille, sondern das Wollen der Vertreter einer Menge höchst unterschiedlicher Interessen und Meinungen. „Der Volkswille ist nicht eine transzendente Instanz, sondern ein Prozess konkurrierender Gruppen und Interessen um politische Durchsetzung“ (Peter Badura). So stellt sich die Aufgabe, das Problem der Vermittlung zu lösen zwischen vorhandener gesellschaftlicher Vielfalt und aufgegebener staatlicher Einheit“ (Dieter Grimm). Geht man davon aus, das es mehrere Parteien gibt mit je eigener politischer Überzeugung, so hat jede von ihnen als erstes die Aufgabe, die innerhalb ihrer Konzepte vorhandenen unterschiedlichen Vorstellungen und Interessen ihrer Mitglieder und Wähler so zu bündeln, dass sie ein für alle annehmbar oder zumindest zumutbares Programm beschließen kann.

Wenn das Parlament Staatsorgan ist, dienen in ihm die politischen Beratungen, Auseinandersetzungen und Entscheidungen der Bildung des Staatswillens. Dieser steht unter der Verantwortung, dass die Ergebnisse rechtsförmig für alle Bürger verbindlich sein können und politisch, dass die Ergebnisse rechtsförmig für alle Bürger verbindlich sein können und politisch die Interessen der Gesellschaft fördern. Das schließt nicht aus, dass die Ergebnisse von den Vorstellungen derjenigen Partei (oder Koalition) beeinflusst sind, die sich bei Wahlen durchgesetzt hat. Die Staatswillensbildung voranzutreiben und zum Ziel zu führen ist Aufgabe der Fraktionen, welche die Form sind, in der die Parteien im Parlament tätig werden.

Nur die Fraktion ist in der Lage, die unterschiedlichen Interessen und Meinungen ihrer Mitglieder und Wähler auf einen für alle Beteiligten zumindest zumutbaren gemeinsamen Nenner zu bringen – mit dem Ziel im Plenum mit einem einheitlichen Standpunkt aufzutreten. Deshalb gibt es Abgeordnete, die bei den Beratungen nicht bloß ihre eigenen Vorstellungen vertreten, sondern als Repräsentanten der verschiedenen Interessensgruppen sprechen:
Beamte, Angestellte, Selbstständige
Bauern, Industriearbeiter
Linke und Rechte
Niedersachsen und Bayern etc.
Nur auf diese Weise können alle Mitglieder der Fraktion die Ergebnisse der Beratungen und Abstimmungen als freiheitlich und gerecht anerkennen und mittragen. Außerdem muss die Fraktionsführung dafür sorgen, dass im Plenum dem, was die Mehrheit beschlossen hat, die unterlegende Minderheit sich anschließt. Man bezeichnet es als "Fraktionsdisziplin". Sie ist kein Zwang. Denn sie kommt zustande „durch subtile Mechanismen gegenseitiger Beeinflussung (…) weil keiner den anderen zwingen kann, muss man sich einigen“ (Michael Hereth). „Die Fraktion ist keine Gesinnungsgemeinschaft sondern eine Aktionsgemeinschaft“ (Ellwein). Über die Pflicht der Abgeordneten der Minderheit sich der Mehrheit anzuschließen, schrieb schon 1848 der Abgeordnete der damaligen Nationalversammlung Karl Theodor Welcker: „Ich wenigstens halte es für eine heilige Pflicht, in parlamentarischen Dingen, wo nicht die Ehre es verbietet, mich anzuschließen der Überzeugung der Mehrheit der Partei meiner Freunde, d. h. derjenigen, die im allgemeinen die Grundsätze teilen, die ich für die richtigen halte; den ich halte es für einen Egoismus, den schon Kant bezeichnet hat als Egoismus des Verstandes und der Theorie, und den wir im allgemeinen Leben Rechthaberei nennen, seine Ansichten durchführen zu wollen, ohne sich unterzuordnen der vernünftigen Majorität seiner Genossen.“ Der Abgeordnete wird also nicht diszipliniert, er muss sich disziplinieren.

Art. 38 GG bestimmt, dass die Abgeordneten des Deutschen Bundestages Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen sind. Das ist das sogenannte "freie Mandat" und bedeutet, dass niemand einem Abgeordneten verbindlich vorschreiben darf, eine bestimmte Meinung zu vertreten oder wie er sich bei Abstimmungen zu verhalten hat, insbesondere auch nicht seine Partei. Umgekehrt ist es dem Abgeordneten verboten, sich verbindlich zu verpflichten. Das war z. B. der Fall als die Partei der "Grünen" in ihrer Frühzeit forderte, von seinen auf vier Jahre erworbenen Mandat schon nach zwei Jahren zugunsten eines Anderen zurückzutreten. Es kann sich bei der Bestimmung des Art. 38 allerdings nur um eine rechtsförmige Verpflichtung handeln. Denn das repräsentative Verhältnis des Abgeordneten zu seinen Wählern verpflichtet ihn für Einflussnahme offen zu sein und seine Entscheidungen zu verantworten. Er darf sich auch für Einzelinteressen einsetzen, nur keinesfalls auf Koste der Erfüllung seiner eigentlichen Pflichten. Im Übrigen folgt aus der Bestimmung des Art. 378 auch, dass die Fraktion nicht an Parteitagsbeschlüsse gebunden ist.

Verbreitet ist die Meinung, dass das freie Mandat des Abgeordneten sich auch auf sein Verhältnis auf seine Fraktion beziehe und deshalb ein "Spannungsverhältnis" zur Fraktionsdisziplin bestehe. Das ist jedoch dadurch ausgeschlossen, dass der Abgeordnete auch ein Amt hat. Denn das bedeutet, dass er bestimmte Pflichten erfüllen muss, was seinem freien Wollen gewisse Grenzen setzt. Dazu gehört z. B. dass er als "Organwalter" verpflichtet ist, das Seine dazu beizutragen, dass das Parlament entscheidungsfähig bleibt, was er u. U. erschweren kann, wenn er im Plenum bei knappen Mehrheitsverhältnissen sich weigert mit seiner Fraktion zu stimmen.

Diese Begrenzung besteht auch für die Freiheit des Gewissens. Denn der Abgeordnete darf sich bei einer Gewissensentscheidung nicht auf seine Überzeugung beschränken, sondern muss die Erfüllung seiner Amtspflichten in seine Abwägung einbeziehen. Der Reichskanzler Bismarck hat dazu im Reichstag einmal gesagt: „Wir Leute der Regierung haben nicht das Recht, beliebig nach unserer Überzeugung zu verfahren, sondern wir müssen uns die Wirkungen vergegenwärtigen, die ausgesprochene Überzeugung auf die politischen Dinge hat.“

Prof. Dr. Hans Buchheim lehrt seit Herbst 1966 (ab 1990 als Emeritus) als Ordinarius für Politikwissenschaft an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Seine Forschungsschwerpunkte umfassen Verfassungsfragen, politische Ideengeschichte und die Theorie der Politik. Er veröffentlichte u. a.: Das Dritte Reich. Grundlagen und politische Entwicklung; Die nationalsozialistische Zeit im Geschichtsbewusstsein der Gegenwart; Totalitäre Herrschaft; Anatomie des SS-Staates und Theorie der Politik. Er wurde 1969 mit dem Bundesverdienstkreuz am Bande, 1986 mit dem Bundesverdienstkreuz I. Klasse und 2006 mit dem Verdienstorden des Landes Rheinland-Pfalz ausgezeichnet.