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Artikel 20 und 20a – Staatsstrukturprinzipien, Widerstandsrecht und Schutz der natürlichen Grundlagen



Im Grunde verbirgt sich hinter der nüchtern formalen Überschrift von Artikel 20 etwas brisantes, nämlich – neben Artikel 1 – der Kern unseres Grundgesetzes. Also das, was als freiheitlich demokratische Grundordnung bezeichnet wird.

Die außerordentliche Bedeutung dieses Artikels wird auch daran ersichtlich, dass er durch Artikel 79 Absatz 3 (Ewigkeitsklausel) gemeinsam mit Artikel 1 als unveränderlich geschützt wird. Keine parlamentarische Mehrheit ist in der Lage, die in Artikel 1 und Artikel 20 festgelegten Verfassungsgrundsätze aufzuheben. Aber betrachten wir uns zunächst einmal den Text der "Verfassung in Kurzform":

(1) Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat. (2) Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt. (3) Die Gesetzgebung ist an die verfassungsmäßige Ordnung, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung sind an Gesetz und Recht gebunden. (4) Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.

Somit basiert das Grundgesetz der Bundesrepublik auf den Prinzipien der Demokratie, des Sozialstaates, des Rechtsstaates und des Föderalismus. Doch was bedeutet dies?

Der erste Absatz dieses Artikels kennzeichnet Deutschland als eine Republik. Das republikanische Prinzip besagt im Grunde, dass Deutschland keine Monarchie ist, sondern ein auf Zeit gewähltes Staatsoberhaupt besitzt.

Diese Republik ist ein Bundestaat, das heißt, sie besteht aus der Verbindung mehrerer Staaten, die dann selbst Staatscharakter gewinnt. Deutschland setzt sich demnach als Gesamtstaat, also dem Bund, aus Gliedstaaten, den Bundesländern, zusammen. Letztere sind zur Bundestreue verpflichtet, sie sind also angehalten zur Festigung, Stabilität und Erhaltung des Bündnisses zu wirken. Durch diese föderalistische Struktur werden die staatsrechtlichen Aufgaben und Funktionen zwischen dem Bund und den Ländern aufgeteilt, was zur Folge hat, dass jedes Bundesland eine eigene Landesverfassung besitzt. Allerdings bricht Bundesrecht das Landesrecht. Der Bund soll nur jene Aufgaben übernehmen, die die Bundesländer nicht bewältigen können. Der Staat ist somit auf Pluralität innerhalb etwas Großem und Ganzem ausgerichtet. Zugleich haben wir es hierbei mit einer vertikalen Gewaltenteilung (Gemeinden-Länder-Bund) zu tun, die neben der horizontalen Gewaltenteilung (Exekutive-Legislative-Judikative) dazu beitragen soll, den Missbrauch von Macht zu vermeiden oder zumindest weitestgehend einzuschränken.

Das Prinzip des Sozialstaates bedeutet nicht, dass die Bundesrepublik etwa ein totaler Wohlfahrtsstaat ist, jedoch ist der Staat dem Sozialen verpflichtet. Er wird in die Pflicht genommen, für einen Bürger, der unverschuldet oder verschuldet, in die Bedürftigkeit fällt, ein soziales Netz zu spannen, das ihn auffängt und ihm ein Existenzminimum sichert. Ebenso soll der Staat durch eine Sozialversicherung für die soziale Sicherheit der Bürger sorgen, wie auch den Arbeitsmarkt ordnen und die Rechte des Arbeitnehmers schützen. Es handelt sich also um einen generellen, also recht wagen, Auftrag an den Staat, der ihm einen großen Spielraum zur Ausgestaltung überlässt. Dies ist auch sinnvoll, da ansonsten in wirtschaftlich schwierigen Zeiten der Staat in die Bredouille geraten könnte, seine Zusagen nicht mehr erfüllen zu können.

Im Weiteren legt der Text unsere Demokratie als eine parlamentarische Demokratie fest. Hierbei handelt es sich um eine sogenannte mittelbare Demokratie, bei der durch periodische Wahlen die Staatsgewalt durch die vom Volk gewählten Repräsentanten auf Zeit ausgeübt wird. Allerdings verwehrt sich das Grundgesetz nicht gänzlich Elemente direkter bzw. unmittelbarer Demokratie, wenn der Begriff Abstimmungen im zweiten Absatz fällt. Doch Schwerpunkt ist und bleibt die parlamentarische Demokratie.

Der Absatz 3 erklärt das Primat des Rechts, also den Vorrang der Verfassung und der Gesetze. Die Bundesrepublik ist als Rechtsstaat konzipiert, was den Staat also an Recht und Gesetz bindet. Sehr deutlich wandte sich der Parlamentarische Rat vom Rechtspositivismus der Weimarer Republik ab, wonach alles als Recht galt, was auf verfassungs- und ordnungsgemäße Weise beschlossen worden war, unabhängig des Inhaltes. Welche Folgen eine solche Rechtsauffassung haben konnte, hatte das nationalsozialistische Deutschland gezeigt. Die Bundesrepublik ist dagegen ein materieller Rechtsstaat, dies bedeutet, dass das Recht an Werte gebunden ist, wie wir sie in den Grundrechten zu Anfang des Grundgesetzes vorfinden. Diese sind insofern geschützt, dass es eine 2/3 Mehrheit im Bundestag bedarf, um die Grundrechte zu ändern.

Durch Artikel 79 Absatz 3 stehen – wie oben erwähnt – diese Grundsätze über dem Volkswillen und somit nicht zur Disposition. Man mag dies als ein Demokratiedefizit kritisieren, allerdings hatten die Mütter und Väter des Grundgesetzes erlebt, wozu Menschen die Demokratie pervertieren können. So darf es nicht verwundern, dass eine gewisse Skepsis bezüglich der Demokratiefähigkeit der Deutschen im Grundgesetz mitschwingt und Sicherheitsvorkehrungen in die Verfassung mit aufgenommen wurden. Aus Sicht der Urheber des Grundgesetzes gibt es Staatsprinzipien, die höher gelten als der momentane Volkswille. So hoch, dass sie sogar gegen den Willen der Bevölkerung aufrechterhalten werden müssen. So unterscheidet das Grundgesetz ganz genau zwischen der Volkssouveränität und der Herrschaftsform der Demokratie. Bei Ersteren geht zwar alle staatliche Macht auf das Volk zurück, aber das Volk hat diese absolute Gewalt nicht fortwährend inne. Nur bei der Gründung und Abschaffung des Staates ist die Volkssouveränität ein aktives Element (siehe Präambel und Artikel 146). Aber innerhalb der grundgesetzlichen Ordnung ist das Volk kein Organ, kein handlungsfähiger politischer Körper und keine souveräne Gewalt. Den Müttern und Vätern des Grundgesetzes galt die Demokratie nicht als reine Herrschaft des Volkes, sondern zur Demokratie zählten sie ebenso die liberal-rechtsstaatliche und menschenrechtliche Komponente. Der Anteil des Volkes an der Staatsgewalt äußert sich in Gestalt von Wahlen und Abstimmungen. Es kann einzig und allein durch die Organe des Staates herrschen, wobei diese gegenüber dem Volk selber über ein Maß an Entscheidungsfreiheit verfügen. Die Staatsorgane repräsentieren somit die Demokratie, müssen aber selber vom Volk durch Wahlen oder Abstimmungen begründet sein. Gerade das Wahlrecht verdeutlicht den Unterschied zwischen der Volkssouveränität und der Demokratie, da bei letzteren eben nicht das ganze Volk wählt, sondern nur der wahlberechtigte Teil des Volkes, die sogenannte Aktivbürgerschaft. Demokratie im Sinne des Grundgesetzes stellt also nur eingeschränkt eine Herrschaft von Menschen über Menschen dar, da diese Herrschaft durch unumstößlichen Grundsätze, Kontrollen und Kritik eingeschränkt ist. In diesem Sinne muss auch auf den Gottesbezug in der Präambel hingewiesen werden.

Im letzten Absatz findet sich schließlich ein Widerstandsrecht formuliert, welches interessanterweise christliche Wurzeln hat. Das Christentum entwickelte ein aktives Widerstandsrecht gegen einen Herrscher, der seine Macht missbraucht. So galt es als Christenpflicht, sich gegen einen solchen Tyrannen zu erheben. Im Kontext des Grundgesetzes, darf das Widerstandsrecht aber nur als äußerstes Mittel angewendet werden, nachdem alle anderen Möglichkeiten ausgeschöpft wurden. Dann aber sind – gleichwohl umstritten – sogar extreme Maßnahmen wie Anschläge oder der Tyrannenmord legitim. Da dieser Absatz allerdings erst 1968 in das Grundgesetz aufgenommen wurde, unterliegt er nicht der Ewigkeitsklausel.

Bei Artikel 20a handelt es sich um einen ergänzenden Artikel, der 1994 in das Grundgesetz aufgenommen wurde und nunmehr den Umweltschutz zum Staatsziel erklärt:

Der Staat schützt auch in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung durch die Gesetzgebung und nach Maßgabe von Gesetz und Recht durch die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung.

Bei einem Staatsziel handelt es sich leider lediglich um eine gutgemeinte Absichtserklärung, die jedoch vom Bürger nicht einklagbar ist. Somit kann dieser Zusatz auch keine Wirkung entfalten bei den aktuellen politischen Themen wie erneuerbare Energien, Kernkraft oder der Suche nach einem Atomlager.

Der Islam- und Politikwissenschaftler Muhammad Sameer Murtaza wird das Projekt "Das Grundgesetz im (Migrations)-Vordergrund" mit wöchentlich erscheinenden Aufsätzen redaktionell begleiten und dazu beitragen, das im Internet eine hoffentlich rege Diskussion entsteht. Dadurch soll Muslimen, insbesondere Jugendlichen in den Moscheen, unser republikanisch-demokratisches Staatswesen näher gebracht werden.