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Das Schulwesen


Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland regelt in Artikel 7 das Verhältnis zwischen Schulen, ihren Trägern und den Institutionen des Staates. Zu diesen Regelungsbereichen gehören auch die Rolle der Eltern, der Schüler, des Lehrpersonals und die Bedeutung des Schulwesens für die deutsche Gesellschaft. Der folgende Text ist nicht als Kommentar zum Grundgesetz (GG) im Sinne einer juristischen Abhandlung zu verstehen, sondern als Interpretation der Bedeutung des GG für die Diagnose gegenwärtiger gesellschaftlicher Konfliktlinien. Diese im Folgenden verhandelten Konfliktlinien beziehen sich allgemein auf die anwachsende religiöse Pluralität und insbesondere auf die Ansprüche von Muslimen in Deutschland. Konkret wird dies an der Frage der Einführung eines bekenntnisorientierten islamischen Religionsunterrichtes. Dabei geht es darum diese Ansprüche in ihrem Verhältnis zu den Erwartungen des demokratischen Rechtsstaates zu verstehen und Vorschläge eines legitimen Umgangs mit diesen Konflikten aufzuzeigen. Deshalb orientiert sich die Analyse nicht an der lexikalischen Ordnung des Artikels, sondern an einem Zugang, der (I) den historischen Ursprung verdeutlicht, (II) die Bedeutung der Religion für den weltanschaulich-religiös neutral verfassten demokratischen Rechtsstaat darlegt und (III) am Beispiel der Einführung eines bekenntnisorientierten islamischen Religionsunterrichtes die normativen Geltungsansprüche benennt.
Zunächst also der Wortlaut des siebten Artikels des Grundgesetztes:

(1) Das gesamte Schulwesen steht unter der Aufsicht des Staates.
(2) Die Erziehungsberechtigten haben das Recht, über die Teilnahme des Kindes am Religionsunterricht zu bestimmen.
(3) Der Religionsunterricht ist in den öffentlichen Schulen mit Ausnahme der bekenntnisfreien Schulen ordentliches Lehrfach. Unbeschadet des staatlichen Aufsichtsrechtes wird der Religionsunterricht in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften erteilt. Kein Lehrer darf gegen seinen Willen verpflichtet werden, Religionsunterricht zu erteilen.
(4) Das Recht zur Errichtung von privaten Schulen wird gewährleistet. Private Schulen als Ersatz für öffentliche Schulen bedürfen der Genehmigung des Staates und unterstehen den Landesgesetzen. Die Genehmigung ist zu erteilen, wenn die privaten Schulen in ihren Lehrzielen und Einrichtungen sowie in der wissenschaftlichen Ausbildung ihrer Lehrkräfte nicht hinter den öffentlichen Schulen zurückstehen und eine Sonderung der Schüler nach den Besitzverhältnissen der Eltern nicht gefördert wird. Die Genehmigung ist zu versagen, wenn die wirtschaftliche und rechtliche Stellung der Lehrkräfte nicht genügend gesichert ist.
(5) Eine private Volksschule ist nur zuzulassen, wenn die Unterrichtsverwaltung ein besonderes pädagogisches Interesse anerkennt oder, auf Antrag von Erziehungsberechtigten, wenn sie als Gemeinschaftsschule, als Bekenntnis- oder Weltanschauungsschule errichtet werden soll und eine öffentliche Volksschule dieser Art in der Gemeinde nicht besteht.
(6) Vorschulen bleiben aufgehoben.

1. Historische Bezugnahme
Wie andere Teile des Grundgesetzes, so weist auch Artikel 7 einen geschichtlichen Entstehungszusammenhang auf, der zur Interpretation der darin enthaltenen Normen bedeutsam ist. Denn die Hoheit des Staates über das gesamte Schulwesen gemäß Absatz 1 folgt einer historisch gewachsenen Praxis, die auch rechtliche Vorläufer kennt. Die Idee, dass der Staat bestimmen können muss, was in den Schulen geschieht, war nicht neu, sondern hat ihren Ursprung in den Grundnormen des Bildungsverfassungsrechts. In § 1 II 12 des Allgemeinen Landrechtes der Preußischen Staaten (Preuß. ALR) heißt es: „Schulen und Universitäten sind Veranstaltungen des Staats, welche den Unterricht der Jugend in nützlichen Kenntnissen und Wissenschaften zur Absicht haben.“ Das schloss schon im alten Preußen den Betrieb privater Schulen nicht aus. (Vgl.: In § 3-6 II 12 Preuß. ALR)

1.1 Die Privatschulen
Der Absatz 4 begründet das Recht zur Gründung privater Schulen auch für die Bundesrepublik. Allerdings gilt, dass die privaten Schulen in ihren Lehrzielen und Einrichtungen sowie in der wissenschaftlichen Ausbildung ihrer Lehrkräfte nicht hinter den öffentlichen Schulen zurückstehen dürfen. Kurzum, die Gründung privater Schulen kann zwar gestattet werden, aber dies darf nicht zu einem Qualitätsverlust führen. Außerdem müssen die privaten Schulen in der Lage sein die wirtschaftliche und rechtliche Stellung der Lehrkräfte zu garantieren. Das führt dazu, dass private Schulen in Deutschland in der Regel den Ruf genießen mindestens genauso gut zu sein wie staatliche.
Allerdings richten sich Privatschulen nicht ausschließlich an Eliten. Der Elitenforscher Hartmann vertritt die Auffassung, dass sie eher Verunsicherungen der oberen Mittelklasse bedienen, die dem staatlichen Bildungsmodell zunehmend misstrauen und den Abstieg ihrer Kinder fürchten.1 Auch ist damit nicht ausgeschlossen, dass Schulen aus der Motivation der Profitmaximierung gegründet werden. Die Unterfinanzierung des staatlichen Schulwesens, fördert die Tendenz der Eltern privaten Schulen eine gute Ausbildung der eigenen Kinder eher zuzutrauen. Denn für die USA wie für Europa gilt: „Wer eine teure Privatschule besuchen kann, hat ungleich bessere Karten als ein Gleichaltriger, der auf eine öffentliche Schule in einem Innenstadtghetto gehen muss.“2 Die Schulgebühren und die Ausgabe für Schulkleidung etc., eröffnen diesen Weg meist nur Kindern von durchschnittlich finanziell besser gestellten Eltern. Das führt dazu, dass das deutsche Schulwesen längst gegen den Grundsatz verstößt eine Sonderung der Schüler nach den Besitzverhältnissen der Eltern nicht zu fördern. Der Grund, dass an dieser Entwicklung nicht gerüttelt wird liegt auf der Hand. Die wirtschaftlich besser gestellten, insbesondere die Mittelschicht und die Eliten Deutschlands profitieren von dieser Entwicklung. Ihrem eigenen Nachwuchs stehen alle Türen zu guter Bildung offen. Außerdem wird die Qualität ihrer Sprösslinge durch die Namen der Schulen und der damit verbundenen Netzwerkbildung unterstrichen. Ihre “Konkurrenz“ von staatlichen Schulen hat in diesem Wettbewerb der Köpfe kaum eine Chance auf gesellschaftliche Schlüsselpositionen.
Der Staat tritt hier als Kontrollinstanz auf. Seine zentrale Aufgabe besteht darin die Qualität, die Wirtschaftlichkeit und die Verfassungstreue des Schulwesens zu kontrollieren und dadurch zu garantieren. Das gilt auch heute noch, wenngleich die Selektivität des Schulwesens in Deutschland längst wissenschaftlich in den PISA-Studien belegt wurde. Das wirft die Frage auf, was in einem modernen Deutschland gemeint ist, wenn der Staat seine Aufsicht über eine zentrale gesellschaftliche Institution ausübt.

1.2. Bildung und Erziehung – Die Aufgabe des Staates und das Recht der Elternschaft
Auch um der Frage nach dem aktuellen Verständnisses der Hoheit des Staates über das Schulwesen nachgehen zu können, ist ein Blick in die Geschichte hilfreich. Im >>Weimarer Schulkompromiss<<, der von dem Rechtsgelehrten Carl Schmitt als „Formelkompromiß“ eines „interfraktionellen Parteiprogramm“[s] herabgewertet wurde3, wird zwischen der >>Bildung der Jugend<< und der >>Erziehung des Nachwuchses<< unterschieden. Erstere war Aufgabe des Reiches, der Länder und Gemeinden (Vgl.: Art. 143 Weimarer Reichsverfassung), letztere wurde zur Obliegenheit der Eltern erklärt (Vgl.: Art. 120 Weimarer Reichsverfassung). Damit wurde eine wichtige Entscheidung getroffen, denn die Bildung des Volkes wurde zur substanziellen Aufgabe des Staates erklärt. Diese systematische Trennung gilt im Prinzip bis heute. Die Aufsicht des Staates erschöpft sich nicht alleine im Sinne einer staatlichen Aufsicht über Selbstverwaltungskörperschaften, sondern meint ein „administratives Bestimmungsrecht“.4 Hier ist keine neutrale verwaltende Aufsicht gemeint, sondern eine inhaltliche Bestimmung der Schule in Richtung Verweltlichung.5 Im Kern ging es darum in Kooperation mit den Kirchen eine sowohl konfessionell als auch sozial nicht ausdifferenzierte Einheitsschule zu begründen.6 Allerdings wurde die konfessionelle Gliederung der Schulen auf Antrag der Eltern weiterhin zugelassen. Heute existiert diese Möglichkeit nur noch in den Landesverfassungen von Bayern, Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen. Der Regelfall ist allerdings auch dort eine in diesem Sinn konfessionell neutrale Schule. Außerdem gilt auch in den konfessionell gebundenen Schulen, dass sie gegenüber anderen tolerant sein müssen: „Die Länder müssen bei ihren Entscheidungen über den religiös-weltanschaulichen Charakter der Schule jedoch die Grundrechte der Schüler und Eltern aus Art. 4 Abs. 1 und 6 Abs. 2 GG beachten und ihnen unter Beachtung des Grundsatzes der Toleranz soweit wie möglich Raum geben. Unter dieser Voraussetzung hat die Rechtsprechung sowohl die Gemeinschaftsschule, die christliche Gemeinschaftsschule, die Bekenntnisklassen als auch das Schulgebet gebilligt (BVerfGE 41, 29; 41, 65; 41, 81; BVerfGE 52, 223; BVerwGE 44, 196; A. A. Hess. StGHE 16, 1).“7 Daher folgt auf den Anspruch des Staates gegenüber dem Schulwesen im Absatz 2 das Recht der Erziehungsberechtigten, über die Teilnahme des Kindes am Religionsunterricht zu bestimmen. Denn „in einer Gesellschaft mit unterschiedlichen Anschauungen und Interessen“ bedeutet die Staatlichkeit des Schulwesens „nicht die negatorische Neutralität der Schule im Sinne der Nichtberücksichtigung, sondern die plurale Neutralität der Schule im Sinne der vermittelnden und toleranten Verwirklichung der Grundrechte der Schüler und Eltern.“8 Die im GG objektiv begründeten Rechte von Eltern und Schülern binden damit die Aufsicht des Staates an eben diese Grundsätze. Aus dem individuellen pädagogischen Recht der Elternschaft folgt unter anderen die freie Wahl zwischen verschiedenen Schularten. Die Erziehungsaufgabe der Kinder wird damit als ein kooperatives Vorhaben zwischen Eltern und Staat bestimmt.

2. Religion ist ein Teil der Schule
Geht es in den ersten beiden Absätzen darum die Autorität des Staates in der faktischen Geltung seiner Normen und zugleich das Recht der Eltern auf Anerkennung ihrer grundgesetzlich versicherten Rechte herauszustellen, postuliert der dritte Absatz eine zentrale Bestimmung der Rolle von Religion in der Gesellschaft. Religionsunterricht ist in Deutschland ein ordentliches Lehrfach. Aber der Staat bestimmt den Inhalt nicht unabhängig von den religiösen gesellschaftlichen Akteuren, sondern in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften. Daraus resultiert die Aufgabe den Inhalt des Religionsunterrichtes in Übereinstimmung mit den Religionsgemeinschaften zu bestimmen und zugleich zu klären, was Religionsgemeinschaften im Sinne des GG sind.

2.1. Religion ist ordentliches Lehrfach
Mit Art. 7 Absatz 3 GG werden zwei Grundsätze formuliert, die für die Verhältnisbestimmung religiöser Bürgerinnen und Bürger zu der staatlichen Institution Schule entscheidend sind. Zunächst wird Religion im weltanschaulich neutral verfassten Staat nicht an den Rand gedrängt. Vielmehr wird ihr ein fester und gegenüber anderen Lehrfächern gleichberechtigter Platz in einer zentralen gesellschaftlichen Instanz der Vermittlung von Wissen und Normen eingeräumt. Die hohe Bedeutung der Religion für die deutsche Gesellschaft wird damit unterstrichen. Außerdem ist diese Regelung ein Ausdruck des kooperativen Selbstverständnisses staatlicher Neutralität in ihrem Verhältnis zu religiösen Gemeinschaften. Den Kirchen wurde im Schulwesen eine besondere, aber keine Sonderstellung eingeräumt. Sie wurden nicht aus den öffentlichen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens verdrängt. Stattdessen wird ihnen die Möglichkeit eingeräumt gleichberechtigt neben anderen Funktionsbereichen in den Institutionen zu wirken. Sie nehmen damit eine Verantwortung für die Gläubigen wahr und leisten so einen Beitrag zur gesellschaftlichen Stabilität. Ferner wird durch die Übereinstimmung zwischen Staat und religiösen Gemeinschaften in der Ausrichtung des Lehrfachs Religion garantiert, dass der historische Widerspruch zwischen Staat und Religion, zwischen aufgeklärter Überzeugung und religiösem Bekenntnis nicht erneut ausbricht.
Diese Festlegung auf die Rolle der Religion im Schulwesen verdeutlicht exemplarisch was in Deutschland unter Neutralität des Staates verstanden wird. Es geht dabei nicht um einen abstrakten Neutralismus, sondern um die Achtung des Menschrechts auf Religions- und Weltanschauungsfreiheit.9 Der Staat folgt dabei dem Grundsatz der Nicht-Identifizierung mit bestimmten religiös oder weltanschaulich begründeten Auffassungen, was allerdings nicht mit Beziehungslosigkeit gleichzusetzen ist. Viel mehr ist Neutralität ein normativ-kritisches Konzept. In Fragen des Schulwesens folgt daraus, dass Religionen unabhängig von ihrer Größe, Tradition oder anderen Kriterien die Möglichkeit zukommen muss, in staatlichen Schulen Religionsunterricht abzuhalten. Wer meint Religion sei im Idealfall eine Privatsache und der Staat habe keine Sorge dafür zu tragen, dass ein ordentlicher Religionsunterricht stattfindet, der zieht sich auf einen formalistisch-positivistischen Neutralitätsbegriff zurück und unterstreicht sein eigenes Integrationsdefizit.10 Denn das Schlagwort von der >>Trennung von Religion und Politik<< impliziert „entweder eine Entpolitisierung der Gesellschaft oder eine erzwungene Privatisierung der Religion (oder auch beides), in jedem Fall eine Einschränkung politisch-rechtlicher Freiheit.“11

2.2. Religionsgemeinschaften sind gefordert
In Absatz 3 wird außerdem die Form der religiösen Akteure bestimmt, die den Anspruch auf Religionsunterricht legitimiert. Es muss sich dabei um Religionsgemeinschaften handeln. Dieser zweite Grundsatz, die Forderung nach Religionsgemeinschaften ist vor allem für neue religiöse Strömungen bedeutsam. Denn bevor sie ihren Anspruch auf Religionsunterricht an staatlichen Stellen einlösen können, müssen sie zunächst von genau diesen Stellen anerkannt werden, wohin gegen zumindest die beiden großen christlichen Kirchen sowie die jüdische Glaubensgemeinschaft längst als solche anerkannt sind. Im Fall des Islams ist die gegenwärtige Lage dazu sehr unterschiedlich. Während in einigen Bundesländern wie Niedersachsen Beiräte gegründet wurden, die als quasi Religionsgemeinschaft gelten, ist die Frage der staatlichen Anerkennung religiöser Gemeinschaften als Religionsgemeinschaften anderen Orts noch eine offene Angelegenheit.12 Die Beiratslösung sieht vor, dass islamische Organisationen wie Religionsgemeinschaften behandelt werden, wenngleich sie im strengen Sinne des Rechts keine sind. Diese Regelung wurde von der Deutschen Islamkonferenz erarbeitet13 und verfolgt die pragmatische Etablierung von Strukturen, die die Voraussetzung erbringen, um als Religionsgemeinschaften im Sinne des GG Art. 7 Abs. 3 anerkannt zu werden. Doch was sind eigentlich Religionsgemeinschaften in diesem Sinn?

2.2.1. Die Bedeutung der Konstituierung staatlich anerkannter islamischer Religionsgemeinschaften
So eindeutig das Grundgesetz in der Hervorhebung der Bedeutung der religiösen Gemeinschaften ist, so interpretationsbedürftig ist die Auslegung der Begriffsverwendungen. Was Religionsgemeinschaften im konkreten Fall sind ist nämlich keineswegs eindeutig. Die interpretatorischen Herausforderungen, die eine sich pluralisierende Gesellschaft an die Begrifflichkeiten des GG heranträgt, konnten von den Verfassern des Textes kaum vorausgesehen werden. Aber auch in den folgenden Jahrzehnten, seit dem Beginn dieser Diskussion erschien es kaum möglich zu einer abschließenden Klärung zu kommen. Der Islamwissenschaftler Kiefer formuliert das so: „Mit der Einführung eines islamkundlichen Provisoriums unter dem Dach des muttersprachlichen Unterrichts war die Einführung eines Islamischen Religionsunterrichtes vorerst gescheitert. Niemand konnte allerdings zu diesem Zeitpunkt ahnen, dass die Gründe, die zum Scheitern führten, mehr als vier Jahrzehnte Bestand haben sollten. Folgt man der Sichtweise der jeweils verantwortlichen Landesregierung lag und liegt das Hauptproblem am voraussetzungsreichen verfassungsrechtlichen Begriff der Religionsgemeinschaft, der muslimische Organisationen angeblich bislang nicht gerecht werden konnten. Was genau unter einer Religionsgemeinschaft zu verstehen ist, blieb in der zurückliegenden juristischen Debatte für eine lange Zeit unklar und konnte auch nicht im Rahmen gerichtlicher Auseinandersetzungen abschließend geklärt werden.“14
So unklar der Begriff ist, so vielfältig sind die Vorgänge, die mit ihm verbunden sind. So sind einige islamische Religionsgemeinschaften, wie die Aleviten, auch als solche anerkannt, während sich andere islamische Organisationen noch darum bemühen. Zumindest hat die Deutsche Islam Konferenz in ihren Arbeitsgruppen eindeutige Kriterien erarbeitet, um zu definieren was eine islamische Religionsgemeinschaft ist. Demnach handelt es sich um vier Merkmale. Eine Religionsgemeinschaft muss erstens aus natürlichen Personen bestehen, zweitens muss ein Minimum an organisatorischer Struktur von Personen getragen werden, die sich zusammengeschlossen haben, um sich für eine längere Zeit der Ausübung der gemeinsamen Religion zu widmen, drittens muss der Zweck der Vereinigung die Pflege des religiösen Bekenntnisses sein und viertens muss sich die Religionsgemeinschaft in einem umfassenden Sinn und nicht nur auf Teilaspekte des Bekenntnisses widmen. Damit ist ein wichtiger Schritt in Richtung der Konstituierung staatlich anerkannte islamischer Religionsgemeinschaften getan.
Die Anführung dieses Rechtsverhältnisses im GG macht deutlich, wie relevant die Konstituierung von stattlich anerkannten Religionsgemeinschaften in Deutschland ist. Erst mit ihr ist es möglich, die garantierten Rechte religiöser Akteure auch im vollen Umfang zu nutzen. Es ist deswegen im Sinne des GG als positiv zu bewerten, dass sich sowohl staatlichen Institutionen auf Bundes- und Landesebene um diesen Prozess bemühen. Auch wenn dieser Prozess seit Jahrzehnten andauert und unter Umständen in Einzelfällen noch weitere Jahre benötigen wird, ist es wichtig, dass auch die islamischen Organisationen diese Anerkennung anstreben. Denn sie erreichen damit nicht nur das ihnen zustehende Recht, sondern gliedern sich zugleich in das kooperative Verhältnis des deutschen Staates zu den in Deutschland existierenden religiösen Gemeinschaften ein. Damit gilt dann nicht nur im kulturellen Sinn, sondern auch im rechtlichen, dass der Islam ein Teil Deutschlands ist.

3. Der Anspruch der Muslime auf Religionsunterricht: Eine Bewährungsprobe für die
Geltungskraft des Grundgesetztes
Der Anspruch der Muslime auf die Anerkennung ihrer religiösen Gemeinschaften ist nicht neu und ebenso verhält es sich mit der Forderung nach einem bekenntnisorientierten Religionsunterrichtes in staatlichen Schulen. Weil diesen Forderungen aber jahrzehntelang nicht nachgekommen wurde, hat sich daraus eine Konfliktlinie zwischen den jeweiligen Bundesländern und den Trägern islamischer Bekenntnisse bzw. ethnischer Zugehörigkeiten15 entwickelt. Der Umgang der jeweiligen Länder mit diesem konflikthaften Verhältnis zu ihren islamischen Gemeinschaften ist sehr unterschiedlich ausgeprägt. Während Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen als Vorreiter gelten können, zeigt die Hessische Landesregierung seit Jahren eine eher diffuse Haltung. In Hessen konnten zwar Aleviten ihren Anspruch durchsetzen, andere Anträge wurden jedoch abgelehnt und der Prozess einer Einigung herausgezögert.16
Wenn es um so elementare Fragen wie der nach der Stellung der Religionen in unserer Gesellschaft geht, dann dürfen politische Vorteilserwägungen auf keiner Seite der Lösung etwaiger Konflikte im Wege stehen. Denn in der Anerkennung der islamischen Organisationen als Religionsgemeinschaften geht es um nicht weniger, als um die Geltungskraft des Grundgesetztes. Wenn eine große Minderheit wie Muslime in Deutschland gegenüber ihren christlichen Nachbarn dauerhaft ungleich behandelt werden, dann destabilisiert das eine Gesellschaft. Dies gilt für jede Form sozialer und rechtlicher Benachteiligung. Aber dies gilt insbesondere für die Religion. Es war den Verfassern des GG bewusst, dass religiöse Bekenntnisse eine wichtige Stütze der Gesellschaft sind. Denn in den religiösen Bekenntnissen der Gesellschaftsmitglieder schöpfen diese ihre primäre Motivation zum sittlichen Handeln. Daraus resultiert die Bereitschaft für andere Verantwortung zu übernehmen und im Idealfall, auch für gesellschaftlichen Fortschritt Verantwortung zu tragen. Gelingt es diese Forderung nach Gleichbehandlung umzusetzen, wird erstens dem Geist des GG genüge getan und zweitens die Gesellschaft insgesamt normativ sowie real stabilisiert.

4. Die Zukunft der Religion in der Schule in einer pluralen Gesellschaft
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass das GG mit Art. 7 einen entscheidenden Beitrag zu einer befriedeten und freiheitlichen Gesellschaft leistet. Denn es bindet die Religionsgemeinschaften in das für das Selbstverständnis des deutschen Staates konstitutive Moment der Kooperation ein. Damit ist allen Bestrebungen, Deutschland in ein laizistisches Modell zu überführen, eine klare Absage erteilt. Deswegen muten Forderungen nach Gleichbehandlung der religiösen Akteure nachzukommen, indem die christlichen Kirchen in ihren Rechten beschnitten werden, all zu radikal an. Neutralität wird hier auf die Angst vor allem Religiösen reduziert. Gleichheit wird nicht hergestellt, wenn Religion aus dem Öffentlichen Raum und namentlich der Schule vertrieben wird. Es muss vielmehr um den Modus ihrer Integration in die Öffentlichkeit gehen. Dieser Leitgedanke ist das Resultat einer im GG vorgenommen Abwägung der unterschiedlichen Interessen zwischen religiösen Bekenntnissen und weltanschaulichen Überzeugungen im Kontext staatlicher Neutralität. Ein Rückfall hinter diesen normativen Standard hätte vor allem eins zur Folge: Den Rückfall in alte Konflikte zwischen Religion und Staatlichkeit, die Deutschland überwunden hat.
Doch jenseits der Frage wie Muslime in Deutschland zu ihrem Recht kommen verweist die Auseinandersetzung um einen bekenntnisorientierten islamischen Religionsunterricht auf einen tieferliegenden Konflikt. Es ist unklar, welche Rolle Religion heute in unserer Gesellschaft überhaupt haben soll. Grund dafür ist nicht der Islam allein, sondern die zunehmende Pluralisierung der Religionen. Nicht nur der Islam ist neu in Deutschland, viele andere Religionen existieren hier friedlich nebeneinander. Gleichzeitig hat sich das Spektrum christlicher Bekenntnisse ausdifferenziert. Gegenwärtig ist die Alternative zum Religions- der Ethikunterricht. Hier kann auch der Islam eine Rolle spielen.
In Zukunft wird die Gesellschaft in Hinblick auf die individuellen und kollektiven Bekenntnisse und Weltanschauungen wesentlich vielfältiger sein. Deswegen wird es darauf ankommen den Gläubigen und den an Religion Interessierten mehr Kenntnisse über andere Religionen und ihrer Rolle in der Gesellschaft zu vermitteln. Schule fungiert dabei als ein Ort des offenen Austausches. „Die Schule muß auf Grund dieser Prinzipien [Staatlichkeit der Schulaufsicht, aber auch Pluralität, Freiheitlichkeit, Sozialität und Partizipativität] gegenüber der gesellschaftlichen Entwicklung offen gehalten werden – sei es die derzeitige Gesellschaftsordnung oder ein bestimmtes Alternativmodell.“17 Um die gesellschaftliche Verständigung zu gewährleisten, sollten viele mehr von anderen Religionen wissen, als nur ihre eigene kennen. Dem könnte man mit der Einführung eines Wahlpflichtfaches Religionskunde begegnen. Dass wäre ein gutes zusätzliches Angebot, dass nicht im Widerspruch zu den im GG verankerten Rechten liegen und den offenen Charakter der Schule fördern würde.

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(1) BR-Online vom 13.08.2008, Zwischen Elitenbildung und Bildungsanspruch: http://www.br-online.de/wissen/bildung/privatschulen-DID121750579476/elite-privatschulen-schulen-ID1217490776933.xml
(2) Hartmann, Michael; Die Auserwählten. Auswahlverfahren an amerikanischen Elite-Universitäten; in: Polar #8. Das Online-Magazin zur Zeitschrift: http://www.polar-zeitschrift.de/polar_08.php
(3)Schmitt, Carl (1928): Verfassungslehre; erschienen bei Duncker & Humblot, 1993.
(4)Landé, Walter (1929): Die Schule in der Reichsverfassung. Ein Kommentar; Berlin; S. 64.
(5)Anschütz, Gerhard (1930): Die Verfassung des Deutschen Reiches vom 11. August 1919, 14. Auflage, Berlin; S. 672.
(6)Richter, Ingo (1989): Artikel 7 (Schulwesen); in: Wassermann, Rudolf (hrgs.); Kommentar zum Grundgesetzt für die Bundesrepublik Deutschland Bd. 1; Reihe Alternativkommentare; 2. Auflage; Luchterhand; S. 677.
(7)Ebd. S. 680.
(8)Ebd.
(9)Bielefeldt, Heiner (2011): Religiös-weltanschauliche Neutralität des säkularen Rechtsstaats. Verständnisse und Missverständnisse eines Verfassungsprinzips; in: Gabriel, Sigmar et al. (hrgs.); Neue Gesellschaft – Frankfurter Hefte; 4/2011; S. 24.
(10)Vgl. hierzu die Argumentation von Abdel-Samad: Güvercin, Eren; Abdel-Samad, Hamed; Interview: Was ist ein zeitgenössischer Islam?; in: Bundeszentrale für politische Bildung (hrgs.); Islam in Deutschland; Aus Politik und Zeitgeschichte; 13-14/2011, 28 März 2011; S. 4.
(11)Bielefeldt, Heiner (2011): Religiös-weltanschauliche Neutralität des säkularen Rechtsstaats. Verständnisse und Missverständnisse eines Verfassungsprinzips; in: Gabriel, Sigmar et al. (hrgs.); Neue Gesellschaft – Frankfurter Hefte; 4/2011; S. 25.
(12)Vgl. dazu: Die Welt vom 15.02.2011; Innenminister für islamischen Religionsunterricht.
(13)„[XII. Mögliche Übergangslösungen Wegen der besonderen Bedeutung des Religionsunterrichts für die Religionsfreiheit der Schüler und Eltern sollte seine Einführung bei Bedarf nicht daran scheitern, dass die Qualifikation einer Organisation als Religionsgemeinschaft noch nicht endgültig feststeht. In solchen Fällen ist es als Übergangslösung zu einem Religionsunterricht nach Art. 7 Abs. 3 GG denkbar, mit im Land verbreiteten Organisationen zu kooperieren, die Aufgaben wahrnehmen, welche für die religiöse Identität ihrer Mitglieder wesentlich sind. Damit ist die Erwartung verbunden, dass diese Organisationen innerhalb einer absehbaren Frist alle Merkmale einer Religionsgemeinschaft unzweifelhaft erfüllen.]“ (Deutsche Islam Konferenz; Zwischen-Resümee der Arbeitsgruppe und des Gesprächskreises. Vorlage für die 3. Plenarsitzung der DIK vom 13. März 2008, S. 27)
(14)Kiefer, Micheal (2011): Drei Jahrzehnte Diskussion zum islamischen Religionsunterricht; in: Bundesministerium des Innern (hrgs.); Islamischer Religionsunterricht in Deutschland – Perspektiven und Herausforderungen; Dokumentation der Tagung der Deutschen Islam Konferenz vom 13. bis 14. Februar 2011 in Nürnberg; S. 63.
(15)Hier sind die islamischen Verbände gemeint. Diese unterscheiden sich zum Teil durch ihre Interpretationen des Islams. Allerdings stehen bei Verbänden wie der DITIB eher die nationale und ethnische Zugehörigkeit zur Türkei und weniger einer bestimmten Interpretation des sunnitischen Islam im Vordergrund, was natürlich nicht ausschließt, dass Ankara über DITIB sein Verständnis als Verbindlich erklärt.
(16)Vgl.: Nogueira, Marc Phillip (2011): Ist Islamunterricht verfassungskonform?; in: vorwärts.de: http://www.vorwaerts.de/artikel/ist-islamunterricht-verfassungskonform
(17)Richter, Ingo (1989): Artikel 7 (Schulwesen); in: Wassermann, Rudolf (hrgs.); Kommentar zum Grundgesetzt für die Bundesrepublik Deutschland Bd. 1; Reihe Alternativkommentare; 2. Auflage; Luchterhand; S. 715.

Marc Phillip Nogueira, Diplom Soziologe promoviert an der Johann Wolfgang Goethe-Universität am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften und dem Frankfurter Institut für Sozialforschung zum Verhältnis von Religiosität und dem demokratischen Rechtsstaat. Er ist Mitglied der Sektion Rechtssoziologie in der Deutschen Gesellschaft für Soziologie und seine Arbeitsschwerpunkte liegen außerdem in den Bereichen Religionssoziologie, Gerechtigkeitstheorie, soziale Ungleichheit, Integrationstheorien und Islam in Europa. Neben Autoren- und Herausgebertätigkeiten ist er seit zwei Jahrzehnten politisch aktiv und seit 2007 Mitglied in der SPD. Gegenwärtig berät er die SPD-Fraktion in der Enquetekommission Integration und Migration im Hessischen Landtag.