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Die Präambel des Grundgesetzes


Wer das Grundgesetz aufschlägt, der findet als erstes die Präambel vor. Sie ist die Einleitung zum Grundgesetz, in der die Vertreter des Parlamentarischen Rates auf ihre zentralen Absichten und Anliegen hingewiesen haben. In seiner ursprünglichen Fassung lautete der die Präambel folgendermaßen:

Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen, von dem Willen beseelt, seine nationale und staatliche Einheit zu wahren und als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa, dem Frieden der Welt zu dienen, hat das Deutsche Volk in den Ländern Baden, Bayern, Bremen, Hamburg, Hessen, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Schleswig-Holstein, Württemberg-Baden und Württemberg-Hohenzollern, um dem staatlichen Leben für eine Übergangszeit eine neue Ordnung zu geben, kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt dieses Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland beschlossen. Es hat auch für jene Deutschen gehandelt, denen mitzuwirken versagt war. Das gesamte Deutsche Volk bleibt aufgefordert, in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden.

Durch die Wiedervereinigung 1990 hatte sich der Aufruf der Väter und Mütter des Grundgesetzes, die Einheit und Freiheit unseres Landes zu vollenden, erfüllt. Dies machte eine Revision der Präambel notwendig, die seitdem lautet:

Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen, von dem Willen beseelt, als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen, hat sich das Deutsche Volk kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt dieses Grundgesetz gegeben. Die Deutschen in den Ländern Baden-Württemberg, Bayern, Berlin, Brandenburg, Bremen, Hamburg, Hessen, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Saarland, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Schleswig-Holstein und Thüringen haben in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands vollendet. Damit gilt dieses Grundgesetz für das gesamte Deutsche Volk.

Das Grundgesetz erklärt das Deutsche Volk zum Souverän, dass über die verfassungsgebende Gewalt verfügt. Voreilig neigt man dazu zu schlussfolgern, dass das Grundgesetz jederzeit durch eine neue Verfassung ersetzt werden könnte. Dem ist allerdings nicht so, denn jeder zukünftige Verfassungsentwurf ist gebunden an die Vorschriften hinsichtlich der Verfassungsänderung, die niedergelegt sind in Artikel 79 Absatz 3:

  1. Eine Änderung dieses Grundgesetzes, durch welche die Gliederung des Bundes in Länder, die grundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung oder die in den Artikeln 1 und 20 niedergelegten Grundsätze berührt werden, ist unzulässig.

Ebenso ist Artikel 146 zu berücksichtigen:

Dieses Grundgesetz, das nach Vollendung der Einheit und Freiheit Deutschlands für das gesamte deutsche Volk gilt, verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist.

Im Zuge der Wiedervereinigung wurde der Passus, dass das Grundgesetz nur eine Übergangsordnung sei gestrichen. Somit ist das Grundgesetz Verfassung im vollen und dauerhaften Sinne.
Der Verweis auf Gott in der Präambel bedeutet keinesfalls. dass das Grundgesetz einer christlichen Auslegungsmaxime unterliegt, sondern ist als Zurückweisung einer Verabsolutierung der Staatsgewalt zu verstehen. Die Väter und Mütter des Grundgesetzes verstanden sich nicht als Träger einer absoluten Volkssouveränität, sondern erkannten, dass der deutsche Staat ein ethisches Fundament braucht. Staaten können ihrer Bevölkerung jedoch keine Gesinnung aufdrücken. Der große jüdische Gelehrte Moses Mendelssohn (gest. 1786) hatte schon in seiner Schrift Jerusalem oder über die religiöse Macht und Judentum über die bedeutsame Rolle von Religion im säkularen Verfassungsstaat geschrieben:

„Eine Hauptbemühung des Staates muß es also sein, die Menschen durch Sitten und Gesinnung zu regieren. Nun gibt es kein Mittel, die Gesinnungen und vermittelst derselben, die Sitten der Menschen zu verbessern, als Überzeugung. Gesetze verändern keine Gesinnung, willkürliche Strafen und Belohnung erzeugen keine Grundsätze, veredeln keine Sitten. Furcht und Hoffnung sind keine Kriterien der Wahrheit. Erkenntnis, Vernunftgründe, Überzeugung, diese allein bringen Grundsätze hervor, die, durch Ansehen und Beispiel, in Sitten übergehen können. Und hier ist es, wo die Religion dem Staat zu Hülfe kommen, und die Kirche eine Stütze der bürgerlichen Glückseligkeit werden soll.“

Vertreter einer imaginären jüdisch-christlichen Leitkultur pflegen darauf hinzuweisen, dass der Gott der Präambel der Gott der Bibel sei – wobei sie gänzlich außer Acht lassen, dass sich das jüdische und christliche Gottesbild grundsätzlich unterscheiden. Die Grundgesetzkommentare betonen gerade, dass die Präambel dem Christentum keinen Vorzug einräume. Man beachte, wie zurückhaltend die Formulierung des Parlamentarischen Rates war, der von Gott sprach, sich aber jegliche theologische Festlegung entsagte. Juden, Christen und Muslime, aber auch Monotheisten, die keiner dieser Religionen angehören, können sich dank der allgemeinen Formulierung mit der Präambel identifizieren und müssen sich daher nicht ausgeschlossen fühlen.
Aber nicht nur Gott sahen sich die Väter und Mütter des Grundgesetzes verantwortlich, sondern ebenso den künftigen Generationen. Von deutschem Boden sollte niemals wieder Krieg ausgehen. Daher hegten die Vertreter des Parlamentarischen Rates die Hoffnung, dass Deutschland seinen Platz in einem vereinten Europa einnehme und sich dem Frieden in der ganzen Welt verpflichtet. Das Friedensgebot der Präambel wurde so zu einem Verfassungsgebot.


Der Islam- und Politikwissenschaftler Muhammad Sameer Murtaza wird das Projekt "Das Grundgesetz im (Migrations)-Vordergrund" mit wöchentlich erscheinenden Aufsätzen redaktionell begleiten und dazu beitragen, das im Internet eine hoffentlich rege Diskussion entsteht. Dadurch soll Muslimen, insbesondere Jugendlichen in den Moscheen, unser republikanisch-demokratisches Staatswesen näher gebracht werden.